Mit einem hörbaren Aufprall landete der Fleischbrocken mitten auf dem freien Platz vor der Hütte. Obwohl ihm der Rücken schmerzte, sonnte sich Henry in den erstaunten Blicken der anderen. Er überspielte seine Freude, indem er Oskar den Kopf tätschelte, aber ihm schwoll die Brust vor Stolz, während die anderen einen Kreis um ihn bildeten.
„Was ist das denn?“, fragte Lucy.
Henry grinste breit. „Unser Abendessen!“
Es handelte sich um ein plumpes Tier, das ein beträchtliches Gewicht auf die Waage brachte. Nur mit der Hilfe des starken Dreihorns Scaramouche hatte Henry die Beute überhaupt hierher schleppen können.
Nokori kniete sich neben den Leichnam und untersuchte ihn. „Scheint eine Art Säugetier zu sein, ein Pflanzenfresser. Ich habe soetwas noch nie gesehen!“
„Das ist allerdings schon nichts Neues mehr“, warf Henry ein. „Hab das Vieh zusammen mit Oskar hier erlegt. War verdammt schnell.“
Nokori zupfte den Rüssel des Tieres zurecht, unter dem zwei dünne Stoßzähne zum Vorschein kamen. Henry hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihn das Tier an ein anderer Wesen erinnerte, an das er sich aus seinem früheren Leben erinnerte – nur war es deutlich kleiner und irgendwie länglicher.
„Das ist ein Phiomia, glaube ich“, sagte Galileo, der irgendwie aus dem Sumpf aufgetaucht war. „Sollte für ein paar Tage reichen!“
„Nicht wahr?“, fragte Henry überglücklich. Er hatte mit den Jägern jagen dürfen, und er war erfolgreich gewesen!
Nokori zückte ein Messer und beugte sich über die Beute. Die Gruppe verstreute sich bereits wieder: Die Sammler füllten ihre geernteten Beeren in eine Kiste und warfen die verdorbenen Früchte fort.
„Es ist gut, dass wir jetzt Fleisch haben“, hörte Henry Kassia murmeln. „Die Beeren werden immer weniger.“
Er warf sich nochmals in die Brust. Ja, er war ein Held! Wenn Thanatos zurück käme, musste der doch anerkennen, dass Henry bei den Jägern besser aufgehoben war als unter den Bauern. Niemand dankte einem dafür, wenn man Steine schleppte, aber mit einem Phi --- Pha --- Philadelphia sah das schon anders aus!
Die Sonne sank hinter die Baumwipfel und Nokori ließ ein großes Lagerfeuer auf dem Platz vor der Hütte entzünden. Lucy ordnete an, dass man Henrys Beute zerschneiden und alles braten sollte. Die Fleischstücke wären, so Lucy, in gebratenem Zustand etwas haltbarer.
Henry half überglücklich mit, das Tier zu zerschneiden, obwohl sich das zu einer ekeligen und blutigen Angelegenheit entwickelte. Lucy ließ auch Fleisch zu ihren Sauriern bringen. Insbesondere Oskar, der seinen Beitrag zur Jagd geleistet hatte, hatte sich das Fressen durchaus verdient.
Die Atmosphäre war deutlich gelockerter als an den letzten Tagen, trotzdem spürte Henry etwas von einem unsichtbaren Tauziehen, das zwischen Nokori und Lucy abzulaufen schien. Beide kämpften darum, den Rest der Gruppe herumzukommandieren. Müßig überlegte Henry, wem er lieber folgen wollte: Lucy oder Nokori. Aber ihm war klar, dass es niemals dazu kommen würde. Thanatos wäre bald zurück, und dann würde das Leben so weiter gehen wie vorher – nun, vielleicht mit einem Jäger mehr.
„Ich hasse es, dass die einzige Abwechslung hier aus dem Verhältnis von Fleisch und Beeren besteht“, grummelte Galileo. Im Feuerschein war das Fett zu erkennen, das Galileo vom Kinn tropfte. Er zerrte bereits an seiner zweiten Portion und sein Esstempo war nicht einmal langsamer geworden.
Henry, noch ganz im Siegestaumel, meinte: „Vielleicht kriegen wir es ja hin, Fisch zu fangen! Ich habe gestern in der Ferne einen See gesehen – oder einen Fluss oder was auch immer. Wir könnten da hin gehen. Wir werden nur die Mittagspause verpassen.“
„Das wäre eine Idee!“, sprang Galileo begeistert auf den Vorschlag an. „Vielleicht entdecken wir auch neue Beeren oder sowas.“
„Wie weit wollt ihr denn vom Lager weg?“, mischte sich Nokori ein. „Was, wenn ihr auch noch verschwindet?“
„Wir nehmen unsere Saurier mit!“, meinte Galileo zuversichtlich und kraulte den kleinen Smiley, der ihm überhaupt nicht mehr von der Seite zu weichen schien. Sogar auf die Jagd wollte das kleine Wesen mitwatscheln. Heute morgen hatte es herzzerreißend trompetet, als sie es zurückgelassen hatten.
„Aber wir machen doch gerade deshalb eine Mittagspause, um zu sehen, ob noch alle leben!“, meinte Nokori.
Henry hob eine Augenbraue: So hatte er das bisher noch nicht gesehen.
„Ich finde die Idee gut“, sagte Lucy und stocherte so im Feuer, dass ein paar Funken in den Himmel stiegen. „Wir können nicht weiter ziehen, solange Leute von uns verschwunden sind, also müssen wir unser Jagdgebiet ausdehnen.“
Henry nickte bestätigend. „Und denk mal an die Möglichkeiten, Nokori!“
„Ja, ja!“, die Kriegerin machte eine wegwerfende Handbewegung. „Schon klar. Ihr habt euch entschieden.“
Sie resignierte offensichtlich. Henry grinste. Ein Abenteuer! Und er war an vorderster Front!
„Kassia?“, fing Lucy die Aufmerksamkeit der rothaarigen Sammlerin ein: „Wir haben jetzt erst einmal Nahrung für die nächsten Tage. Morgen werdet ihr Holz und Steine sammeln. Wir haben zu wenig Feuerholz -“, hier warf Lucy einen missmutigen Blick zu Nokori, die das große Lagerfeuer in Auftrag gegeben hatte „- und wir werden bei Gelegenheit auch die Hütte ausbessern müssen. Ich hab das Gefühl, das Dach hält nicht mehr besonders lange.“
Der Blick von Lucys dunklen Augen legte sich auf Henry. Der schluckte. Er wollte nicht an einem Dach bauen, das war anstrengend und langweilig!
„Ich werde mich übermorgen darum kümmern“, sagte er und zu seiner Erleichterung willigte Lucy mit einem Nicken ein.
„Warum nicht morgen?“, fragte jetzt Nokori, die es sich offenbar in den Kopf gesetzt hatte, allen den Abend zu vermiesen. „Wenn das Dach morgen einstürzt, will ich nicht im Freien schlafen!“
„Das Dach hält noch eine Weile“, sagte Lucy scharf. „Wir sind weniger geworden, also müssen alle mehrere Rollen erfüllen. Henry arbeitet für zwei Personen.“
Nokori schmollte daraufhin. Henry konnte sie verstehen, denn sie war nun teilweise eine Sammlerin – bestimmt kein schöner Job.
„Henry IST zwei Personen“, murmelte Nokori noch leise.
Er nahm sich noch ein Stück Fleisch und dabei fiel sein Blick auf seinen weichen, weißen Bauch, der aus irgendeinem Grund ständig in seinem Blickfeld war.
Seine Freude war verflogen. Unauffällig piekte er in eine Speckrolle und seufzte. In der letzten Zeit hatte er bestimmt ein wenig abgenommen, aber immer noch nicht besonders viel. Und da sie kaum richtige Kleidung hatten, sah man ihm sein Übergewicht leider auch an.
Wenig später war ihm der Appetit vergangen, und er rettete sich in die Hütte, genau wie alle anderen. Schnell war er eingeschlafen, erschöpft von der Jagd und dem ausgiebigen Abendessen.