Als Nokori sich endlich den Hang herab gearbeitet hatte, durch die Schlingpflanzen hindurch, über plötzliche, steile Streckenabschnitte, war die Sonne bereits aufgegangen.
Kassia erwartete sie am Grund der Schlucht, das Gesicht bleich.
„Was hast du getan?“, fragte sie Nokori.
„Ich?“, gab Nokori zurück, aber dann sagte sie nichts mehr. Sie hatte gesehen, was da auf dem Boden vor Kassia lag, platter, als möglich sein sollte, die Glieder in einem unmöglichen Winkel verdreht, die blonden Haare rot verklebt.
Ihr wurde speiübel, aber sie konnte sich auch nicht übergeben. Mit leisen Schritten kam Ashley näher, die noch hinter Nokori gewesen war.
Ashley gab keinen Ton von sich, blinzelte nicht einmal, wandte nur den Blick ab.
„Verdammt!“, sagte Nokori nach einer Weile und kniete sich hin, um eine schlaffe, knochige Hand anzuheben. Foxy war tot und kalt, und sie wurde bereits steif.
Die Sonne kroch über den Himmel. Sammlerin, Kriegerin und Späherin standen schweigend neben Foxy und zollten ihren entsetzten Tribut an diesen Unfall.
„Bringen wir sie zum Lager“, sagte Nokori schließlich. „Sie verdient ein Grab.“
Kassia verzog leicht das Gesicht: „Wie sollen wir sie denn … nun ja, transportieren?“
Nokori zuckte mit den Achseln. Dann sah sie Ashley an.
„Lauf zu den anderen. Sag ihnen was … was passiert ist. Sie sollen Scaramouche holen, und Seile.“
Ashley blickte verschreckt auf, dann nickte sie und huschte davon, schnell und leise war sie bald im Gebüsch verschwunden.
„Ich hoffe, sie findet den Weg auch“, murmelte Nokori.
„Ashley ist nicht umsonst Späherin geworden“, sagte Kassia. Nokori war erstaunt, als sie verstand, dass Kassia sie trösten wollte. „Sie kommt schon zurecht.“
Langsam setzte sich Nokori auf einen nahen Felsen und zog die Knie vor die Brust, um dann das Gesicht in den Händen zu vergraben. Sie wollte Foxys Körper nicht länger ansehen.
„Es ist so schrecklich!“, murmelte sie in ihre Hände.
Nach einem langen Zögern kam Kassia zu ihr. „Tut mir leid, was ich gesagt habe. Dass es deine Schuld war. Es war ein Unfall.“
Nokori sah auf. „War es das? Ich habe Thanatos versprochen, auf euch aufzupassen. Und ich habe versagt. Dabei dachte ich, dass ich das Richtige tue …“
Sie sprach nicht weiter – sie konnte nicht. Alles lief aus dem Ruder. Die Welt stand Kopf.
„Wenn ich nicht mit dir gestritten hätte, wären wir niemals überrascht worden“, sagte Nokori dann leise.
„Das konntest du nicht wissen. Du hast es doch nicht mit Absicht getan, oder?“, fragte Kassia, aber in ihrer Stimme schwang ein bitterer Unterton mit, ein fragender Zweifel. Obwohl Kassia sich bemühte, das zu verbergen – Nokori wusste, dass die andere sie hasste.
Das schlimmste war, sie musste ihr Recht geben. Hätte sie sich anders entschieden, dann würde Foxy noch leben.
Sie sagte nichts mehr und auch Kassia schwieg.
Es war fast Mittag, als die anderen auftauchten. In der Zwischenzeit waren ihre Beeren fast restlos eingegangen, in der heißen Luft hielten sie sich nicht. Nokori verspürte Hunger, aber nicht den geringsten Appetit. Sie saß reglos auf dem Felsen, bis sie über sich die Stimmen hörte.
Die anderen waren auf der Klippe aufgetaucht. Sie redeten leise, Nokori konnte keine einzelnen Worte erkennen. Dann erschien Henry, winkte und rief etwas.
„Was?“, fragte Nokori laut.
Henry legte beide Hände als Trichter um dem Mund: „Wir lassen jetzt eine Trage herunter!“
Nokori hob müde eine Hand und winkte als Zeichen, dass sie verstanden hätte.
Die Trage bestand aus drei eilig zusammen gehämmerten, dicken Ästen, deren Enden mit Seilen umschlungen waren. Darüber hatte jemand zwei alte Hemden ausgebreitet, die niemand mehr trug.
Zusammen mit Kassias Hilfe konnte Nokori Foxys steifen, verdrehten Körper auf die Trage ziehen. Ein weiteres Seil, das lose auf den Ästen gelegen hatte, nutzten sie, um Foxy an die Trage zu binden.
Nokori bemerkte, dass Kassia während der Arbeit leise weinte. Aber die Sammlerin wich Nokoris Blick aus und so sprach Nokori sie auch nicht an.
Als sie fertig waren, gaben sie Henry ein Zeichen und kämpften sich dann den steilen Hang wieder hinauf, mitten durch die Brombeerhecken. Nokoris Hände waren mit altem Blut verklebt und ihr war zum Kotzen. Notdürftig reinigte sie ihre Hände an der Hose und wünschte sich ein Bad. Sie hatte das Gefühl, nie wieder sauber werden zu können.
Auf dem Weg nach oben wurden sie einmal von einem Dinosaurier angegriffen, wie auch Oskar einer war: Mit breitem Kragen und dazu fähig, ein grünes Gift zu spucken. Kassia ergriff die Flucht, aber Nokori stellte sich dem Tier mit ihrem Speer. Sie hielt sich am steilen Hang über dem Raubtier, und als sie einen günstigen Moment sah, stürzte sie auf den Angreifer nieder und durchbohrte dessen Hals mit dem Speer.
Sie ließ den Kadaver liegen, weil er sie zu sehr an die arme Foxy erinnerte. Als sie schließlich am oberen Rand der Klippe angekommen war, hatten sich alle schon zum Lager aufgemacht. Nur Ashley hatte gewartet. Bei Nokoris Erscheinen, wandte sie sich stumm ab und führte sie ohne Worte bis zu der kleinen Basis.
Foxy lag etwas außerhalb des Lagers, auf einem kleinen Stück trockener Erde, wo Lucys Plan des Trockenlegens bereits ausgeführt war.
Wie Grabbeilagen hatte man Foxy einen Speer auf die Brust gelegt, und jemand hatte ihr ein paar kleine Blumen ins Haar geflochten. Obwohl sich die anderen alle Mühe gegeben hatten, Foxy wieder wie einen Mensch aussehen zu lassen, ließen sich die furchtbaren Wunden vom Sturz nicht verheimlichen.
Nokori musste an den Anfang ihrer Gruppe denken, als sie sich alle im Wald getroffen hatten: Damals waren ihre Wunden schnell geheilt. Man hätte glauben können, dass sie unsterblich waren, aber wie sich erwies, stimmte das nicht.
Schweigend trat sie zu Foxy und legte ihr etwas auf die Brust: Einen kleinen Zweig mit roten Beeren daran, den sie auf dem Weg gepflückt hatte.
Lucy stand aufrecht am Lagerfeuer und wartete darauf, dass alle anderen sich schweigend und niedergeschlagen eingefunden hatten.
„Es ist traurig, aber das Leben geht weiter“, sagte das Mädchen und klang beinahe wie Thanatos. „Wir begraben Foxy morgen. Heute müssen wir Vorräte anschaffen. Uns fehlen Beeren, und das Fleisch von gestern ist schon fast wieder aufgebraucht. Nokori, Kassia, Ashley? Es tut mir leid, ich weiß, ihr hattet eine schwere Zeit. Aber ihr müsst Beeren finden. Henry wird mit euch gehen. Kommt Mittags wieder, dann dürft ihr euch ausruhen, vorher nicht.“
Niemand widersprach. Im Moment war Lucy die Einzige, die durch Foxys Tod nicht geschockt war. Sie schickte die Jäger und Sammler aus und blieb selbst am Lager.
Als Nokori am Mittag zurückkehrte, war sie bereits zu müde, um noch groß zu denken. Sie sah allerdings, dass Lucy an einer Grube arbeitete, an einem Grab für Foxy.
Nokori legte sich in die Hütte, genauso Ashley und Kassia. Und dann versuchte sie, die Geräusche des Grabens zu ignorieren, die von draußen herein drangen.