Sprachlos starrten sie Thanatos an, der so plötzlich erschienen war. Mikail konnte die widerstreitenden Gefühle kaum beherrschen, die in ihm aufwallten – da waren Wut und Angst, denn Thanatos hatte ihm wahrlich zugesetzt. Doch irgendwie freute Mikail sich auch über das vertraute Gesicht, über die bekannte Stimme. Thanatos, so grausam er auch sein mochte, strahlte Ruhe aus. Sicherheit.
Und überhaupt – Thanatos hatte Recht gehabt. Ohne die Waffen hätte die Dodo-Gruppe nicht so lange durchgehalten.
„Was … woher …?“, stammelte Kassia.
„Wieso lebst du noch?“, fragte Mikail, seine Stimme war rau.
Thanatos lachte freudlos. „Ich kann nicht sterben. Nicht an diesem Ort. Im Gegensatz zu euch.“
„Wovon redest du?“, Kassia schüttelte fassungslos den Kopf.
Thanatos seufzte. „Es gibt so vieles, das ihr nicht versteht. Doch dafür bleibt keine Zeit. Folgt mir.“
Damit stapfte der riesige, dunkelhäutige Anführer ihrer Gruppe in den Wald davon. Kassia, Mikail und Maurice tauschten beunruhigte Blicke, während Zayn sich nur verwirrt am Kopf kratzte.
„Los, nicht trödeln!“, rief Thanatos über die Schulter. Mit jener Stimme, die absolut keinen Widerspruch duldete.
Sie folgten ihm. Sie spürten, dass Thanatos die Antwort auf all ihre Fragen in sich vereinte.
„Wohin gehen wir?“, rief Zayn schließlich. „Das ist die falsche Richtung!“
„Ihr habt jemanden vergessen“, antwortete Thanatos. „Fällt es euch nicht ein?“
„Lucy!“, rief Kassia. „Ihre Gruppe ist noch irgendwo dort.“
„Ihr könnt sie nicht im Stich lassen“, schalt Thanatos sie.
„Aber … sind die Raptoren jetzt nicht unsere Feinde?“, fragte Mikail.
„Die Raptoren?“, wiederholte Thanatos. „Habt ihr euch jetzt ebenfalls lächerliche Namen gegeben?“
„Wir sind der Dodohügel!“, rief Kassia mit verzweifeltem Stolz.
Thanatos lachte spöttisch. „Die Namen waren Jaydens Idee. Und ihr habt sie übernommen, noch dazu falsch! Es gibt hier keine Dodos oder Raptoren, verstanden? Ihr seid Teil von ein und derselben Gruppe – den Thanaoten!“
„Thanaoten?“, wiederholte Zayn. „Kassia, Mikail, könnte mir einer erklären, was hier läuft?“
„Das ist Thanatos“, erklärte Mikail zögerlich. „Unser Anführer.“
Es war die Wahrheit. Thanatos war immer der Anführer ihrer kleinen Gruppe gewesen – der Thanaoten. Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit war über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg geblieben.
Thanatos führte sie zielstrebig den Berg hinab. Irgendwann zeigte er in den Himmel: „Seht ihr die Flugsaurier da? Sie suchen euch. Jayden weiß, dass ihr geflohen seid.“
Kassia starrte verschreckt auf die Sucher. Zayn pfiff seine beiden Flugsaurier zu ihnen herunter, damit sie ihre Gruppe nicht verrieten.
Die drei Suche drehten plötzlich ab und hielten auf etwas zu, das weiter vorne war.
„Lucy!“, flüsterte Kassia. Mikail starrte nach vorne. Ihre Freunde waren entdeckt.
Ohne sich bewusst dazu zu entscheiden, rannte er plötzlich. Er hörte Gebrüll und Knurren vor sich, offensichtlich Raubtiere, die sich zum Angriff bereit machten. Kassia, Thanatos, Maurice und Zayn folgten ihm, doch dann blieb Thanatos stehen und bedeutete ihnen mit ausgestrecktem Arm, ebenfalls anzuhalten.
Einen Steinwurf entfernt standen Lucy, Henry und Galileo Seite an Seite. Sie sahen den Angreifern entgegen, Reihen um Reihen an Raubtieren, vom Tyranno bis zum Wolf.
Doch die Angreifer brachen unvermittelt zusammen, stürzten um die drei Fliehenden herum zu Boden wie die Fliegen.
„Was … passiert hier?“, erklang Galileos Stimme.
„Das, meine Freunde, war die List der Schlange!“, triumphierte Lucy. „Liara hat uns nicht verraten! Das war alles Teil unseres Plans. In den Tüchern war kein Gegengift, sondern primitives Chloroform aus Narcobeerenkonzentrat!“
„Heilige!“, meinte Henry. „Sind die tot? Alle?!“
„Nein. Bewusstlos“, Thanatos nutzte diesen Moment, um nach vorne zu treten. Mikail folgte ihm eilig. Er spürte Kassias Finger an seinem Arm, als sie sich an ihn klammerte. Lucy, Henry und Galileo wirbelten herum, ihre Augen weiteten sich.
„Du lebst!“, entfuhr es Lucy, als sie Thanatos erblickte.
„Und du auch. Bedauerlicherweise“, knurrte der Riese zurück. Die beiden Gruppen starrten einander an, mit offenen Mündern und weit aufgerissenen Augen.
Lucys Blick blieb an Maurice kleben. „Ashley?“
„Nicht ganz“, antwortete Kassia anstelle von Maurice. „Das ist schwer zu erklären.“
„Ihr habt also überlebt, ja?“, meinte Mikail zu Lucy.
Die verzog das Gesicht. „Ja. Ganz ohne die Hilfe von Verrätern!“
Mikail zuckte zusammen. „Verräter? Wir? Wieso das denn?“
„Ihr habt uns im Stich gelassen“, meinte Galileo. Er und Henry waren blass geworden und starrten Maurice an wie einen Geist.
„Euretwegen mussten wir fliehen“, Lucys Stimme war lauter geworden. „Euretwegen ist Ashley … gestorben.“ Sie endete unsicher und sah Maurice verstört an.
Mikail atmete tief durch. Daher wehte der Wind also.
„Lucy, du hattest versucht, uns zum Kampf zu zwingen. Aber wir wollten nicht kämpfen, wie wollten fliehen. Wir hätten euch mitgenommen, doch ihr habt uns keine Wahl gelassen. Es tut mir leid, falls du das als Verrat empfunden hast.“
Damit nahm er Lucy sichtlich die Luft aus den Segeln. Das Mädchen sackte in sich zusammen und wirkte plötzlich sehr, sehr viel jünger. Alle Härte war von ihr gewichen. Mikail trat auf sie zu. „Wir haben nur versucht, das Richtige zu tun. Wir hätten euch jederzeit geholfen, wenn wir nur gewusst hätten, wo ihr steckt.“
Zu ihrer aller Überraschung überwand Lucy den Abstand zwischen ihnen und umarmte Mikails Hüften. Es war nur ein kurzer Moment, Mikail konnte sich vor Überraschung nicht rühren. Doch er fühlte einen kurzen, kräftigen Druck, bevor Lucy zurück trat. Eine Entschuldigung.
„Es tut mir auch leid“, sagte er leise, sodass nur Lucy es hörte. Sie sah auf und lächelte schwach.
Dann wandten sie sich Thanatos zu, der die ganze Zeit über ihr Anführer gewesen war. Mikail empfand neuen Respekt für diesen Mann. Jetzt verstand er, was Thanatos' Leistung gewesen war: Er hatte sie alle vereint und ihre Kräfte gezielt eingesetzt, damit ihre Gruppe überlebte. Die Zeit ohne Thanatos hatte ihnen gezeigt, wie sehr sie ihn brauchten. Auch jetzt wandten sich alle dem bedrohlichen Riesen zu, um seine nächsten Befehle zu hören.
„Was tun wir nun?“, fragte Lucy schließlich.
„Wir warten.“
„Und worauf?“, fragte Lucy nach.
„Auf Anthony Jayden.“
Die Gruppe tauschte irritierte Blicke. „Was?!“
Thanatos seufzte. „Ich bin nicht zurückgekehrt, um zu kämpfen. Wir werden uns ergeben. Das ist unsere einzige Chance.“
„Das kann nicht dein Ernst sein!“, rief Henry aus. „Nach allem, was wir heute getan haben?“
Thanatos hob den Blick in den Himmel. Als die anderen seinem Blick folgten, bemerkten sie nicht nur, dass der Regen aufgehört hatte.
Unzählige Flugsaurier und Riesenadler kreisten im Himmel über ihnen. Mitten unter ihnen schwebte, wie ein frisch gewachsener Berg, der Kopf des gigantischen Langhalses, umkreist von weiteren Fliegern. Sie waren umzingelt.
Ein einziger Flugsaurier löst sich aus der Menge und glitt auf sie zu. Noch bevor sie den Beweis dafür sahen, dass es Jaydens Saurier war (als ob sie noch einen Beweis brauchten), knackte es hinter ihnen im Gebüsch und ein Raptor trat auf sie zu.
Auf seinem Rücken sah die schwarzhaarige Frau aus Lucys Gruppe. Die andere Reiterin, eine kräftige Frau mit dicken, schwarzen Haaren, hielt Liara einen Dolch an die Kehle und zeigte ein bitteres Lächeln.