Als Henry schwer atmend und verschwitzt bei dem Lager ihrer Giftvorräte ankam, bot sich ihm der ungewöhnliche Anblick, dass Liara nicht länger über die Vorräte wachte. Sie war fort. Giftbomben, Giftpfeile und alles andere lagen sauber aufgereiht da, doch Liara war verschwunden.
Henry dachte sich nichts dabei. Er las Munition auf und kehrte zu Fandango zurück. Das Dreihorn wartete etwas tiefer am Hang auf ihn und trug ihn zurück zu seiner Position am Berg, hinter einer Hecke und über einem besonders steilen Teil des Hangs, wo er Drachenblut gut unter Beschuss nehmen konnte.
Möglicherweise schon seit Stunden spielten sie dieses zermürbende Spiel. Drachenblut versuchte, den Hang zu erstürmen. Henry, Lucy und Galileo positionierten sich über den Angreifern, mal hier, mal dort, und hüllten sie in einen Hagel diverser Gifte, die Liara weiter oben beständig neu herstellte. Scaramouche, Fandango und Roseanne waren ständig in Bewegung und trugen die drei Kämpfer durch den Wald, während die Wilde Dreizehn Liara als Giftlieferanten diente und Smiley bei Liara in Sicherheit blieb.
Es war ein zermürbender Kampf. Da sie sich versteckt hielten, gerieten die Verteidiger auch selten in Lebensgefahr. Das Gift entfaltete seine Wirkung weiter unten, Schwaden und Dämpfe verschiedenster Farben zogen durch den Wald.
Für Drachenblut war es ein Kampf gegen Säure und Illusionen, gegen Geister und Phantome. Für die Raptoren, wie Lucy ihre Gruppe beharrlich nannte, obwohl die namensgebenden Saurier längst wieder auf Feindes Seite waren, gestaltete sich der Kampf als endlose Aneinanderreihung von Fußmärschen, kalten Gruben und eisigem Regen, Langeweile, Schlamm und fernen Schreien.
Henry tat jeder Muskel weh, denn so viel Bewegung wie an diesem Tag war er nicht gewohnt. Dann hockte er wieder für eine halbe Ewigkeit in einem Versteck, seine Beine schliefen ein, sein Magen knurrte, ehe er unter sich Geräusche hörte, alles abfeuerte, was er besaß und floh, um sich schnell neues Gift zu holen.
Eine zermürbende Angelegenheit, in der Tat. Zum Glück konnte er wenigstens Fandango reiten, mit dem Dreihorn ging es immerhin etwas schneller hinauf und hinunter.
Henry wehrte einen weiteren Angriff ab. Ein paar Pfeile flogen in seine ungefähre Richtung, doch keines der Geschosse kam ihm auch nur nah. Dann schwang er sich auf Fandangos Rücken und ritt wieder hinauf.
Liara war immer noch verschwunden und die Giftvorräte schrumpften rapide. Henry überlegte, dass die Frau vielleicht Hilfe brauchen könnte (und möglicherweise etwas zu Essen hätte) und lief den Hang weiter hinauf zu der Stelle, wo die Wilde Dreizehn herumlungerte. Die Dilos balgten sich spielerisch, einige schliefen. Von Liara war nichts zu sehen.
„Liara?“, rief Henry laut. Keine Antwort. Er drehte sich suchend im Kreis, da bemerkte er Fußspuren, vom Regen schon halb verwischt.
Liara war fort gegangen. Die Spur führte in den Wald hinein.
Keuchend, aber nun höchst alarmiert, folgte Henry den Spuren. Er hielt sich den Bauch, der von schmerzhaften Seitenstichen durchstoßen wurde, und eilte den Berg wieder herunter.
Liaras Spur führte in einem weiten Bogen um das Kampfgebiet herum. Henrys Beine waren bis zu den Hüften mit Schlamm und Matsch beschmiert, einmal war er ausgerutscht und ein ganzes Stück auf dem Hosenboden nach unten geglitten. Der Weg war kaum als solcher zu erkennen und der Regen machte die Spuren immer unkenntlicher. Henry fürchtete, dass er Liara bald finden musste, oder er würde sich hoffnungslos verirrt haben.
Als er vor sich Stimmen hörte, hielt er inne und presste sich schnaufend gegen einen Baumstamm. Hoffentlich hörten die Personen, die da sprachen, nicht seinen lauten Atem!
„Ja, gut, das hast du bereits gesagt“, erklang eine harte Frauenstimme. „Aber wir brauchen genaue Zeiten. Wann geht ihnen die Munition aus? Und wo sind sie? Ich habe genug Männer und Frauen verloren, ich habe keine Lust auf Halbantworten!“
Henry erkannte die Stimme. Das war die Jägerin von Drachenblut, die sie so lange verfolgt hatte. Vorsichtig schielte er um den Baum herum – und erstarrte. Die Jägerin stand nur einen Steinwurf entfernt. Ihr gegenüber – ohne Fesseln, nicht bewacht – stand Liara.
Er hatte geglaubt, dass Liara vielleicht entführt worden wäre, doch nichts deutete darauf hin. Die beiden Frauen standen sich gegenüber, beide waren bewaffnet, andere Krieger waren nicht zu sehen. Niemand hatte hier die Oberhand, es sah mehr aus wie ein Treffen unter Bekannten.
Eine eiskalte Hand schloss sich um Henry Herz. Verrat! Liara hatte sie verraten.
„Wie gesagt, ihre Vorräte schrumpfen“, sagte Liara gerade. „Ich kann nicht sagen, wo sie sich verstecken. Lucy hat das alles vor mir geheim gehalten. Sie sollen ihre Positionen häufig wechseln und sich ansonsten versteckt halten.“
Henry hielt den Atem an. Genau das waren Lucys Anweisungen gewesen. Aber warum sagte Liara das dieser fremden Kriegerin? Er war entsetzt und wütend. Für mehrere Tage hatten sie gemeinsam am Feuer gesessen, gemeinsam gejagt und überlebt, nun stellte sich heraus, dass er Liara eigentlich kaum kannte. War sie die ganze Zeit über ein Spion von Drachenblut gewesen und hatte sie erst angesichts dieser Übermacht beschlossen, die Seiten zu wechseln?
„Ich kann euch keine Zahlen anbieten“, sagte Liara. „Aber dafür etwas anderes. Ich kann ein Gegengift mischen, immerhin weiß ich, was sie gegen euch einsetzen. Hier, ich habe es schon bei mir. Wenn ihr Tücher mit der Lösung tränkt und sie vor eure Gesichter bindet, müsste das die meisten Säuren neutralisieren.“
Die Kriegerin begutachtete einen gefüllten Lederbeutel, den Liara ihr reichte.
„Rüstet eure Kämpfer damit aus. Sie werden die drei überrollen“, versprach Liara. Henry schüttelte fassungslos den Kopf. Die Frau verkaufte gerade ihre einzigen Chancen an Drachenblut!
„Gut“, meinte die Kriegerin und nahm die Beutel. „Ich werde einen Stoßtrupp vorbereiten. Und du kommst mit, als meine Versicherung.“
„Natürlich“, sagte Liara und folgte der Fremden in den Wald hinein.
Henry wollte sich vom Baum abstoßen und ihnen folgen, da griff eine Hand nach seinem Arm. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Jetzt hatte man ihn entdeckt und würde ihn ebenfalls gefangen nehmen! Er würde Lucy nicht warnen können, sie und Galileo würden unvorbereitet überrollt werden.
Doch als er sich umdrehte, stand nur Lucy neben ihm.
„Nicht“, sagte sie und zog an seinem Arm. „Lass uns wieder hoch gehen.“
Sie hatte natürlich recht, trotzdem war Henry wütend. „Liara hat uns verraten! Ich gehe und zahl es ihr heim!“
„Nein, tust du nicht. Wir brauchen dich oben. Du hast doch keine Chance im Kampf gegen zwei Gegner. Und außerdem sind wir zu nah an Drachenblut.“
Lucys Stimme duldete keinen Widerstand. In der Hinsicht war sie genau wie Thanatos geworden: Hart und unnachgiebig.
„Sie hat uns verraten“, wiederholte Henry mit schwacher Stimme, während er Lucy zurück nach oben folgte.
Doch das Mädchen sah ihn ungerührt an: „Ich weiß.“