Galileo kroch durch das Unterholz und schürfte sich die Ellbogen und Knie auf. Irgendwo links von sich hörte er Henry, der vor lauter Nervösität leise vor sich hin brabbelte.
Galileo versuchte zwar, ruhig zu wirken, aber auch in ihm wuchs der Drang, an seinen Fingernägeln zu kauen.
Zum Glück dauerte es nicht lange, bis er ein fernes Trampeln hörte, das rasch lauter wurde.
„Sie kommt!“, quiekte Henry und klang, als würde er die Nerven verlieren und die Flucht ergreifen. Galileo packte den Beutel mit Narcobeeren fester und Henry, statt zu fliehen, sprang auf und spannte die kleine Schleuder.
Galileo erhob sich ebenfalls und starrte wie gebannt auf das tonnenschwere Tier, das auf ihn zu kam.
„Scheiße!“, rief er, denn Lucy hatte versprochen, für den Anfang ein kleines Tier zu fangen. Das hier war ein Dreihorn.
Henry ließ die Schleuder los, vielleicht hatten seine Finger vor Angst die Kraft verloren. Das Steinchen flog durch die Luft und prallte lautlos gegen den Schädel des gepanzerten Monsters. Die Erde bebte. Das Dreihorn hielt direkt auf Galileo und Henry zu.
Dann stolperte das Tier, röhrte und brach zusammen.
Galileo stieß die Luft aus, von der er nicht gemerkt hatte, dass er sie angehalten hatte.
„Jetzt, zugriff!“, brüllte Lucy, die in vollem Galopp auf einem Raptor vorbeigerauscht kam und in ihrem Element war.
Galileo sprang vor und zückte einige normale Beeren, die er dem Monster in das schnabelförmige Maul schob.
Henry stellte sich hinter ihn und sah sich wachsam um. Lucy würde wiederkommen.
Die nächste gefühlte halbe Stunde verbrachte Galileo über dem bewusstlosen Dreihorn und fütterte es mit Beeren. Wann immer das Tier aufzuwachen drohte, schob er die schwarzen Narcobeeren nach. Henry sah ihm nervös über die Schulter, bis das Tier schließlich aufwachte, den mächtigen Kopf in Galileos Schoß.
Das Dreihorn blinzelte ihn aus einem kleinen Auge an, doch es machte keine Anstalten, anzugreifen. Galileo streichelte den Zuwachs lächelnd.
„Hallo und guten Morgen, Fandango!“
„Fandango?“, erklang eine spitze Stimme hinter ihm. Galileo stöhnte. Er hatte nicht gehört, dass Lucy zurückgekehrt war.
Er wandte sich um. „Ich dachte, das passt gut zu Scaramouche.“
„Du solltest ihnen keine Namen geben“, gab Lucy zurück, dann zuckte sie mit den Schultern. „Whatever, wenn's dir Spaß macht. Kommt jetzt, ihr beiden. Ich habe unten im Tal einiges gefunden, aber die Saurier müssen zuerst etwas aufräumen. Zu viele Fleischfresser.“
„Uh-oh“, kommentierte Henry leise, aber sie folgten Lucy gemeinsam mit Scaramouche und Fandango.
Ihre kleine Gruppe hatte schnell verstanden, dass sie nur zu dritt keine rechte Feuerkraft hatten. Als Henry während ihrer reise beinahe von einem Dilophosaurus gefressen worden wären, hatte Lucy beschlossen, dass sie während ihrer Wanderung alles an Sauriern zähmen würden, was sie fanden. Da sie ohnehin vom Beerenpflücken lebten, war es nicht schwierig, die Narcobeeren zur Seite zu legen. Nach einigen anfänglichen Fehlversuchen an Dodos hatten sie auch herausgefunden, dass man die Saurier am besten bewusstlos schlug und hielt, während man sie gleichzeitig fütterte, um sie zu zähmen. (Von den gezähmten Dodos hatte übrigens keiner Henrys und Galileos Heißhunger überlebt.)
Fandango war ihr erster Erfolg und wie es schien, funktionierte ihr Plan. Galileo und Henry folgten Lucy zu einer tiefgelegenen Lichtung im Wald, eine große, abfallende Wiese. Darauf tummelten sich allerhand seltsame Wesen, mal geschuppt, mal auch mit Fell. Galileo fühlte sich durch den Anblick von Säugetieren eigenartig getröstet, obwohl die Tiere mit ihren Rüsseln und lang vorstehenden Zähnen nicht unbedingt schön zu nennen waren.
„Ich will eines von denen“, Lucy deutete auf ein solches Säugetier. „Die Beeren könnt ihr euch sparen, wir schlachten es. Mit dem Fleisch versuchen wir, die Dilos zu fangen.“
Auf der Lichtung wimmelte es von den Giftspuckern, wie auch Oskar einer gewesen war. Galileo schauderte bei dem Gedanken, einem solchen Tier die Hand ins Maul zu stecken. Doch er nickte.
„Gut, dann zeigt mal, was eure Tiere drauf haben!“
Sie hetzten Fandango und Scaramouche auf das Säugetier, mit dem sehr kurzer Prozess gemacht wurde. Ein paar Dilos versuchten, Scaramouche zu töten, doch Galileo stürmte mit seinem Speer nach vorne und erledigte drei, bevor der Rest die Flucht antrat. Damit hatten sie mehr Fleisch als zunächst gehofft und Henry begann, ein kleines Feuer zu machen, während Lucy und Galileo mit Stöcken einen kleinen Zaun bildeten, in dem sie die Raubtiere in die Enge treiben wollten – denn die Jagd auf das Säugetier hätte sich leicht zu einer echten Jagd entwickeln können, wären Scaramouche und Fandango nicht von zwei Seiten gekommen. Die Beute war schnell.
Sie nahmen ein kurzes Mittagessen zu sich, dann lockten die erschöpften Dreihörner die Raubsaurier in das provisorische Gehege, wo Henry die Dilos mit der Schleuder ins Reich der Träume schickte. Es klappte zu gut, um wahr zu sein.
„Verdammt!“, rief Galileo aus.
„Was?“, fragte Lucy.
„Ich habe keine Beeren mehr“, Galileo hob die leeren Hände.
Ein paar der bewusstlosen Dilos regten sich bereits unruhig.
„Scheiße!“, sagte auch Lucy. „Henry, los, sammeln!“
Beide verschwanden im Wald und ließen Galileo alleine in einem Gehege mit dreizehn Dilos zurück. Selbst Lucys Raptoren, die am Rand warteten, beobachteten ihn hungrig. Galileo versuchte, alle bewusstlosen Tiere im Auge zu behalten. Sämtliche seiner Alarmglocken schrillten. Sie hatten sich übernommen und zu viele Tiere zähmen wollen. Gleich würden sie aufwachen und ihn angreifen, ihn zerfleischen … er stopfte ein Stück Fleisch in einen Rachen: Vielleicht konnte er dafür sorgen, dass sie nicht allzu hungrig waren.
„Hier“, Lucy kam keuchend vorbei gerannt und drückte ihm einige matschige Beeren in die Hand, bevor sie wieder zurück rannte. Galileo stürzte zu dem Tier, das sich am meisten regte und gab ihm die Beeren. Er merkte, dass er schwitzte.
Wenig später brachte Lucy die nächste Handvoll. Dann wieder. Es war eine schmale Gratwanderung, doch schließlich waren alle Dilos gezähmt. Nun, fast alle. Einen hatte Galileo erstochen, als das Tier aufwachte, denn es war nicht gezähmt gewesen. Er stand neben dem Körper und dachte darüber nach, ob er anders hätte handeln können. Irgendwie hatte er ein schlechtes Gewissen, das noch benommene Tier einfach getötet zu haben.
„Komm hier rüber und lass die Wilde Dreizehn fressen“, rief Lucy ihm zu. Galileo runzelte die Stirn und kam zu ihr herüber. Sie saß neben Henry am Rand des kleinen Geheges und knabberte einige Beeren.
„Wilde Dreizehn? Ich dachte, Namen wären verboten? Außerdem sind es nur noch zwölf.“
„Eben darum sind sie die wilde Dreizehn“, meinte Lucy. Aus dem Gehege erklang Schmatzen und Reißen – von dem toten Dilo würde wohl nicht viel übrig bleiben.
Galileo setzte sich und wischte sich Schweiß von der Stirn. „Damit machen wir ab jetzt weiter?“
„Genau“, sagte Lucy.
„Aber … wie ernähren wir die Tiere?“
Lucy zuckte wenig beunruhigt mit den Schultern. „Wir lassen sie jagen. Notfalls schlachten wir ein paar.“
„Das sind … unsere Saurier!“, ächzte Galileo.
„Keine Panik. Ich werde schon nicht deinen geliebten Tango töten“, spottete Lucy.
„Fandango“, Galileo knirschte mit den Zähnen und sah in das funkensprühende Lagerfeuer. Sie würden eine Armee haben! Eine Armee aus Sauriern – der Gedanke war ebenso beruhigend, wie er furchteinflößend war. Diese Armee konnte sie vor Drachenblut schützen. Aber war würde Lucy tun, wenn sie solche Macht kontrollierte?