„Warum hast du Kassia weggeschickt?“, fragte der dicke Mann Lucy.
Liara blieb an den Stein gelehnt sitzen und fuhr damit fort, ihre Giftpfeile zu schnitzen. Aber sie hörte genau zu, was Lucy antwortete.
„Wir brauchen sie und Mikail nicht. Die beiden haben uns im Stich gelassen“, meinte das Mädchen mit harter, kalter Stimme. Sie klang sehr viel erwachsener, als ihr Aussehen vermuten ließ. Liara ertappte sich bei der Frage, ob Lucy vielleicht in Wahrheit erwachsen war und ihr niedlichen Aussehen nur Tarnung. Aber wie sollte ein Mensch das schaffen?
„Wir bräuchten wenigstens eine bessere Position als diese hier!“, schimpfte Henry weiter. „Wenn Drachenblut kommt, werden sie uns zerquetschen!“
„Werden sie nicht“, gab Lucy zurück. „Weil wir vorbereitet sein werden. Drachenblut verlässt sich auf seine Stärke, aber ich verlasse mich hierauf -“, Liara hob rechtzeitig den Kopf um zu sehen, wie Lucy sich gegen die Stirn tippte. „Ich habe Drachenblut schon einmal beinahe besiegt. Diesmal werde ich mich nicht auf Verräter verlassen!“
Henry schwieg und tauschte einen Blick mit Galileo, in dem die Frage stand, ob Lucy auch sie beide für Verräter halten konnte. Liara schnitzte gelassen weiter und wartete.
Es dauerte nicht lange, bis Lucy zu ihr kam.
„Nun?“, fragte Liara.
Mit einem Seufzen ließ Lucy sich neben ihr ins Gras fallen und lehnte den Rücken an die breite Schnauze von Roseanne. Liara beobachtete, wie das Kind sich an den großen Saurier schmiege und ihm die Nüstern kraulte.
„Ich hoffe, du hast einen Plan“, sagte Lucy.
„Natürlich“, meinte Liara. „Ich habe Gift.“
„Und das ist dein Plan? Wir schießen Drachenblut mit Giftpfeilen ab?“
„Wer sagt was von Giftpfeilen? Die habe ich natürlich auch, aber es gibt so viele Möglichkeiten“, grinste Liara. „Mit Gift gefüllte Dinodärme, die platzen, wenn sie ein Ziel treffen. Eimer voller Säure in den Bäumen, die man nur im richtigen Moment stürzen muss. Fallgruben mit Toxinen. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt!“
„Und das kannst du alles herstellen?“, staunte Lucy.
„Nun, uns läuft die Zeit etwas davon. Aber das Schwierigste habe ich, und zwar große Mengen Gifte. Den Rest wollte ich dir überlassen.“
Lucy stand wieder auf, rieb sich die Stirn und sah in den Himmel, der langsam eine zartrosa Farbe annahm.
„Ich denke, Drachenblut wird bald angreifen“, murmelte sie leise.
„In dem Fall solltest du dich beeilen mit deiner Taktik“, riet Liara hilfreich.
Lucy drehte sich um und grinste: „Keine Sorge. Ich habe bereits mehrere Pläne. Du machst hier weiter Gift, so viel wie möglich. Henry? Galileo?“
Lucy rief die Namen ihrer Begleiter und rannte davon.
Liara blieb kopfschüttelnd zurück.
Langsam hob sich die Sonne über dem Berg, der Schauplatz des Kampfes werden würde. Lucy, Henry und Galileo eilten mit primitiven Schaufeln bewaffnet durch die Wälder und gruben nach Lucys Anweisungen schmale Gräben. Liara sah amüsiert zu, wie die drei mehrere Flussläufe über den Hang zogen und sich dann oben an dem Geröll zu schaffen machten, das bei ihrer Ankunft herunter gekommen war und den oberen Teil des Berges abriegelte.
Sehr viel bekam sie von den Fallen jedoch nicht mit. Wann immer Lucy vorbei kam, warf sie einen Blick auf die Berge von Giftwaffen, die sich neben Liara türmten, und orderte mehr von diesem oder jenem. Bald schmerzten Liaras Finger, nicht nur von der Arbeit sondern auch von den winzigen Säurespritzern, die sie unweigerlich abbekam. Die Sonne kroch über den Himmel und färbte den Morgen blutrot. Es war stürmisch, Wolkenfetzen eilten durch die Morgenröte und der Wind beugte die Bäume dem Boden zu. Blätter und Dreck trieben im Luftzug. Liara spürte ihr Herz klopfen. Es konnte gut sein, dass sie das Abendrot schon nicht mehr sehen würde. Dies war das erste Mal (soweit sie sich erinnern konnte), dass sie in einem richtigen Krieg stehen würde. Bisher hatte sie um ihr eigenes Überleben gekämpft, aber noch nie gegen andere Menschen und noch dazu aus so unverständlichen Gründen heraus.
„Liara?“
Sie sah auf. Lucy stand direkt neben ihr. Liara hatte nicht bemerkt, wann das Mädchen gekommen war. Und Lucy wirkte ungewöhnlich still und verschlossen.
„Ja?“, antwortete Liara und sah von der Blase auf, die sie soeben versiegelte.
„Können wir … die Saurier mit Gift ausstatten?“
Liara hob beide Augenbrauen.
„Du hast gesagt, die Möglichkeiten wären unbegrenzt!“, fauchte Lucy.
„Schon gut“, Liara winkte ab. „Die wilde Dreizehn hat bereits Gift, die muss ich nicht auch noch ausstatten. Ganz im Gegenteil, von denen habe ich die Basis für meine ganzen Waffen. Roseanne und den Raptoren können wir vielleicht etwas umbinden, womit sie beim Laufen Säure verteilen. Richtige Waffen oder gar Kontaktgifte würde ich nicht verwenden, die Gefahren sind zu hoch, dass sie sich selbst verletzen und sterben. Den Parasaurus können wir vielleicht mit irgendwas tödlichem einschmieren.“
Lucy stimmte in Liaras böses Lachen ein, als sie beide zu dem kleinen Parasaurusküken Smiley sahen. Doch Lucy schüttelte den Kopf. „Das ist Galileos Saurier. Wir lassen besser die Finger von Smiley.“
„Wie du meinst“, Liara zuckte mit den Schultern.
„Die Säureidee gefällt mir allerdings. Diese eine Säure lässt doch Dampf aufsteigen, wenn sie ins Wasser gerät, nicht?“
Liara nickte und zeigte auf zwei Holzeimer voller Flüssigkeit. „Die da. Wenn man die mit Wasser mischt, entwickeln sich dichte, tödliche Dämpfe. Wieso fragst du?“
Lucy grinste breit. „Ich will Drachenblut doch gebührend empfangen, wenn sie kommen, um uns zu töten. Kannst du mehr davon machen?“
„Du bist wohl eine, die groß denkt, wie?“, meinte Liara. „Aber gut, ich mache dir mehr. Schick mal die Wilde Dreizehn vorbei.“
„Die Saurier helfen uns beim Graben!“, protestierte Lucy. „Ohne sie kommen wir nicht an die Wasserquelle heran!“
„Und mir helfen sie beim Giftmischen!“, gab Liara zurück. „Schick mir wenigstens die Hälfte her. Ich brauche sie auch nicht besonders lange.“
Lucy nickte. „Gut.“
Während das Mädchen den Berg hinauf lief, hielt Liara erstmals inne. Sie konnte ein fernes Stampfen hören, das von riesigen Saurier stammen musste. Drachenblut war auf dem Weg hierher.
Während sie jetzt den Blick über die sich kreuzenden Gräben schweifen ließ, erschuf ihre Fantasie sofort ein Bild von frischem Wasser, das durch die Gräben sprudelte. Und dann das Bild von zwölf kleinen Raubsauriern, die kamen, um das Wasser mit Hilfe ihres Gifts in eine Todesfalle zu verwandeln.
Es stimmte – Lucy dachte gerne groß. Und das Mädchen kannte keine Skrupel.
Wenn sie überhaupt ein richtiges Kind war, so war sie kein normales Kind. Lucy war ein taktisches Genie und eine reuelose Kämpferin. Liara schätzte ihre Entschlossenheit. Aber sie würde sich hüten, Lucy zu ihrer Feindin zu machen.
In Lucys Gruppe lebte man gefährlich. Liara musste entweder verschwinden, oder sicherstellen, dass Lucy sie niemals für eine Verräterin halten konnte.
Je eher sie das eine oder andere bewerkstelligte, desto besser.