Nokori schluckte unwillkürlich, als sie in den Schatten der großen Mauer eintauchten. Die Pflanzenfresser trotteten gemächlich durch ein riesiges Tor, das wie eine Schlucht zwischen Bergen wirkte. Dahinter kreisten Flugsaurier und brüllten riesige Fleischfresser. Kaum zu glauben, dass diese Wesen gezähmt sein sollten.
Ihr schweigsamer Begleiter winkte Nokori zu sich. Der kahlköpfige, kräftige Mann hatte sich als Kain vorgestellt, alle anderen Gespräche, die sie mit ihm geführt hatte, seit sie von dem alten Lager aufgebrochen waren, ließen sich an den Fingern einer Hand abzählen. Um genau zu sein, brauchte man nicht einmal eine Hand dafür. Kain hatte die große Herde durch den Wald zurück zum Drachenblut-Lager getrieben, wo sie nun endlich angekommen waren. Während die Saurier auf einen großen Platz hinter der schier unüberwindlichen Mauer getrieben wurden (Nokori konnte sich im Sonnenlicht nicht vorstellen, dass sie diese Mauer jemals überklettert haben sollte), führte Kain sie schweigend an der Wand entlang.
Sie passierten ein großes Gebäude, hinter dessen Glaswänden Pflanzen auf zwei Etagen wuchsen. Ein paar Menschen liefen durch das große Treibhaus, aber sie waren hinter den Pflanzen kaum zu sehen.
An das große Gebäude schloss sich ein kleineres Steinhaus an, das etwas schräg gebaut war. Kain und Nokori traten durch ein Tor und vorbei an einigen bewaffneten Wachen, die Kain grüßte. Auf der anderen Seite des Steinhauses ging es hinaus auf einem kleinen, dreckigen, dreieckigen Platz. Zu der einen Seite ragte der zweistöckige Wintergarten in die Höhe, auf der anderen Seite ein großes, dreistöckiges Gebäude. Auf den Dächern standen Wachen mit Schusswaffen. Nokori schluckte.
„Warte hier“, knurrte Kain, was die Anzahl seiner Kommunikationsversuche verdoppelte. Damit verließ er den Vorplatz durch eine Tür im Treibhaus. Nokori nickte und blieb unsicher unter dem unfreundlichen Blick der Wachen stehen. Aus dem hohen Haus klang das Kreischen von Sauriern und Stimmen.
Es dauerte nicht lange, bis Kain aus dem Treibhaus auftauchte. Er nickte ihr zu und sie folgte ihm eilig in den stickig-feuchten Dschungel hinter den Glasscheiben. Sie durchquerten das Treibhaus auf geraden Wegen und traten sehr bald auf einen großen, grasigen Platz hinaus, auf dem die Saurier weideten.
Mit offenem Mund sah Nokori sich um. Das Drachenblut-Lager war riesig. Sie konnte kaum das Ende der großen Mauer erkennen. Es gab einen kleinen Wald im Innenhof und einen Sandstrand, der am Meer endete. An einem großen Berg waren mehrere Menschen mit Spitzhacken zugange. Die Mauer, die an dem zweistöckigen Treibhaus nahtlos ansetzte, ging zuerst gerade zur Seite und bog dann, an einem Wachturm, gerade zum Meer ab. Es gab insgesamt vier Wachttürme, der letzte stand tief im Meer und die Wellen schlugen an sein Fundament. Die Türme waren jeweils breiter als die Mauer, doch schon diese war breit genug, um einige Wohnungen hinein zu hauen. Wie es schien, waren in der Mauer allerdings Ställe untergebracht.
Auch die Wiesen waren von Ställen, Weiden und Koppeln durchzogen, und ein paar Gehege befanden sich auch im Meer. Dort tollten Delfine herum oder drehten riesige Leviathane ihre Kreise.
Überblickt wurden die Weiden von dem dreistöckigen Gebäude, das zwei kleinere Vorbauten besaß, ein riesiges Tor und offenbar weitere Sauriergehege im obersten Stock. Zum Meer hin schloss sich an das große Gebäude ein zweistöckiges Holzhaus auf Stelzen an. Nokori wusste bereits, dass es auf der anderen Seite des Gebäudes einen zweiten Hof geben musste. Dort befand sich jedenfalls ein zweiter Teil der Mauer mit zwei Wachttürmen, außen vor der Mauer lagen große Felder.
Kain war bereits weiter gegangen und wartete nun ungeduldig. Nokori beeilte sich, ihm zu folgen und betrat so das größte Gebäude. Im Inneren gab es lange Flure mit unzähligen Türen. Viele schienen zu Wohnungen zu führen, doch dann kamen sie in einen neuen Bereich, wo sich eine Doppeltür beispielsweise zu einer großen Turnhalle öffnete, in der mehrere Menschen trainierten.
Eine breite Treppe führte schließlich nach oben, wo es einen doppelgeschossigen Raum gab, Decke und Rückwand aus Glas, mit einem kleinen Wachtturm an der einen Seite, aus dem soeben ein junger Mann kletterte.
Kain blieb stehen und Nokori prallte beinahe gegen ihn. Sie starrte den fremden Mann an, der den Kopf kahl rasiert hatte bis auf einen langen Schopf blonder Haare, die auf dem Scheitel wuchsen und von da auf die eine Kopfseite fielen. In dem freiliegenden Ohr steckten zwei Ringe aus Metall.
„Du bist unser Neuzugang, richtig?“, fragte der Mann.
Nokori nickte. „Ich … komme aus einem kleineren Lager.“
„Ich weiß, ich weiß“, der Mann winkte ungeduldig ab. „Makami hat mir bereits alles erzählt. Ich bin Anthony Jayden, mit gehört dieses Lager.“
Damit wies der Mann auf die Glaswand hinter ihm, wo tatsächlich ein zweiter Innenhof zu erkennen war, dominiert von mehreren großen Lagerfeuern, über denen Fleisch gebraten wurde. Auf dem zweiten Hof gab es keine Saurier.
Nokori verbeugte sich ungeschickt. „Ich bin Nokori.“
„Aus Thanatos' kleiner Gruppe“, fügte Jayden für sie hinzu. „Weißt du, wo sich Thanatos im Moment aufhält?“
Nokori stockte. „Nein. Vermutlich irgendwo im Wald – da waren Löcher.“
„Da sind immer Löcher und Lücken“, seufzte Jayden kryptisch. „Egal, ich freue mich, dass du dich auf die richtige Seite gestellt hat. Was kannst du gut, Nokori?“
„Was ich gut kann?“
„Du wirst uns irgendwie von Nutzen sein müssen“, Jayden legte einen Tonfall an den Tag als würde er mit einem kleinen Kind sprechen. „Kannst du Saurier zähmen, Felder abernten, kämpfen, bist du eine schnelle Läuferin oder gute Schwimmerin?“
Für einen Moment blitze ein Bild vor Nokoris innerem Auge auf, Thanatos, wie er ihr einen Speer hinhielt.
„Ich kann kämpfen. In unserer Gruppe war ich eine Kriegerin. Und ich habe ebenfalls Saurier gezähmt.“
„Sehr gut. Dann gehst du zu den Jägern“, entschied Jayden und machte eine winkende Handbewegung. „Kain wird dich zu ihnen führen.“
Nokori spürte, dass sie damit entlassen war. Schweigend folgte sie Kain wieder aus dem Gebäude heraus. Ihr Magen knurrte und sie fühlte sich plötzlich einsam. Das Drachenblut-Lager war … anders, als sie erwartet hatte. Sie fragte sich, was sie eigentlich hier wollte.
Thanatos finden, antwortete eine innere Stimme. Sie hatte bessere Chancen, den Anführer ihre alten Gruppe zu finden, wenn sie auf gezähmte Flugsaurier zurückgreifen konnte. Sie blinzelte gegen helles Sonnenlicht – sie waren wieder draußen.
„Da vorne sind die Jäger“, sagte Kain und deutete auf die von Sauriern überrannten Wiesen. „Essen gibt’s auf dem kleinen Hof, aber du wirst warten müssen, bis deine Gruppe an der Reihe ist. Falls du ein privateres Bedürfnis hast, musst du zu dem Steghaus gehen, da sind die Toiletten. Und halte dich von allem fern, was Zähne hat, solange du nicht weißt, wie du mit den Tieren umgehen musst.“
Nokori war so überrascht davon, dass Kain mehr als einen Satz hintereinander sagen konnte, dass sie ihn sprachlos anstarrte und sich nicht bedanken konnte, ehe er sich umdrehte und davon stapfte.
Dann straffte sie sich, seufzte und begann, durch das hohe Gras zu laufen, nervös die verschiedenen Saurier anstarrend.
Das war also ihre neue Heimat.