Inzwischen musste es Mittag sein und sie schossen immer noch. Kassias Hände schmerzten von dem Rückstoß der Waffe, von diversen Quetschungen, die sie sich beim Laden zugezogen hatte und von unzähligen Verbrennungen am heißen Lauf des Gewehrs. Ihre Arme waren schwer davon, die Waffe zu heben und die Rückstöße abzufedern. Ihr Rücken stach und pochte.
Als sie neben sich griff und keine Metallkugel unter ihren Fingern spürte, kehrte sie erstmals wieder zurück aus einer Trance, in die sie während des Angriffs verfallen war. Sie tastete den kalten Matsch ab und nahm ihre Umgebung endlich wieder war. Ihre Ohren klingelten von den Schüssen. Der Regen hatte nachgelassen, doch sie war vollkommen durchnässt und jeder Muskel schrie nach Erlösung.
Sie fand immer noch keine Kugel und drehte den Kopf, nur um zu sehen, dass die Munitionskiste leer war.
„Ich gehe und hol neue Muni!“, rief sie und stand mühsam auf. Ihre Beine waren steif vom langen Sitzen. In ihrem Kopf drehte sich alles.
„Nicht nötig“, sagte Mikail und hob den Blick von der Waffe, mit der er bis eben gezielt hatte.
Kassia starrte ihn an: „Die Kugeln sind leer!“
„Ich weiß“, sagte Mikail. „Das waren alle, die ich hatte. Wir sind … out of Ammo.“
Kassia stand schweigend neben dem knienden Mikail, der zielte und ihre letzte Kugel in die anrückenden Massen von Drachenblut feuerte. Sie befanden sich beide hinter einer Mauer aus aufeinander geschichtetem Schutt, der sie vor den Waffen von Drachenblut schützte. Als Kassia durch eine der Schießscharten sah, konnte sie die Skorpione erkennen. Drachenbluts Bodentruppen hatten sie fast erreicht.
„Komm“, Mikail war aufgestanden. „Gehen wir zu Zayn und Maurice.“
Er reichte ihr die Hand und Kassia ergriff sie. Nun hatte sie Angst. Wenn ihre Munition aufgebraucht war, wie sollten sie Drachenblut weiter aufhalten?
Maurice und Zayn hockten nicht weit entfernt, doch zwischen ihren Positionen erhob sich ein Trümmerhaufen, den sie erst umrunden mussten. Die Kiste zwischen den beiden enthielt noch fünf Kugeln. Maurice hatte das Feuer schon eingestellt und zu dritt warteten sie schweigend, bis Zayn seine Waffe fünfmal abgefeuert hatte.
Verwundert sah der dunkelhaarige Junge auf und bemerkte, dass alle auf ihn warteten.
„Was … ist los?“
„Wir haben keine Munition mehr“, eröffnete Mikail.
„Wie, keine Munition?“, Zayn sah in die Kiste, dann sah er zwischen ihnen hin und her. „Und was tun wir jetzt?“
„Wir gehen“, sagte Mikail, der Kassias Hand immer noch fest hielt und beruhigend drückte. Maurice saß mit ausdruckslosem Gesicht neben Zayn, so niedergeschlagen wie am Morgen, als Kassia mit ihm gesprochen hatte.
„Wir hätten sowieso nicht mehr lange durchgehalten“, meinte Mikail. „Die Skorpione sind fast hier, sie werden die Mauer überrennen. Es war nur eine Frage der Zeit.“
„Aber … wohin gehen wir?“, fragte Kassia.
Mikail antwortete nicht, sondern sah Zayn an, bis dieser und Maurice aufstanden und ihnen folgten.
„Schnell jetzt“, drängte Mikail. Drachenblut musste gemerkt haben, dass das Feuer von oben eingestellt war. Kassia war sich sicher, dass die Skorpionreiter ihre Anstrengungen nun verdoppeln würden.
Sie liefen durch den dichten Wald, in dem es vor Dodos wimmelte. Die plumpen Vögel wirkten durch den Krieg, der herrschte, nicht im mindesten verunsichert. Stattdessen gingen sie ihrem üblichen Geschäft nach, versuchten, ungenießbare Dinge zu essen, schliefen, zankten, erleichterten sich auf jeden freien Fleck.
„Hier“, sagte Mikail. Sie hatten die Stelle erreicht, von der Kassia am Vorabend herabgelassen worden war. Die Schaukel war fort, für ihr Katapult zweckentfremdet, doch an ihrer Stelle gab es ein langes Seil mit Knoten in regelmäßigen Abständen.
„Wartet“, sagte Zayn, drehte sich um und pfiff, worauf bald ledriges Flügelschlagen zu hören war. Der große Flugsaurier, mit dem die Jungen zwei Tage zuvor angekommen waren, landete neben ihnen. Kassia entdeckte auch den kleineren Flugsaurier, der sich jedoch im Hintergrund hielt.
„Gut. Sehr gut“, meinte Mikail. „Ihr beide fliegt nach unten, aber fliegt niedrig. Am besten, ihr nehmt den Norden zum Absteigen, dort sieht Drachenblut euch nicht. Wir kommen euch zu Fuß entgegen.“
Zayn nickte und schwang sich auf den Rücken des Flugsauriers. „Komm, Mori!“
Maurice sah zweifelnd aus. Nach einem letzten, scheuen Blick zu Kassia kletterte er hinter Zayn auf den Rücken des Flugsauriers.
„Viel Glück“, wünschte Mikail.
„Viel Glück“, antwortete Zayn.
Die beiden hoben ab. Nun trat Mikail auf das Seil zu und hielt es fest. Kassia nahm sich einen Herzschlag, um durchzuatmen. Auf einer Schaukel in die Tiefe zu fliegen, war eine Sache. Doch nun, im Tageslicht und aus eigener Kraft zu klettern, war etwas anderes. Ihre Höhenangst meldete sich, als sie an den Rand der Klippe trat.
„Du schaffst das“, sagte Mikail, der wohl einfach ihre Gedanken lesen konnte.
Kassia nickte und griff nach dem Seil. Sie musste.
Der Abstieg dauerte länger als zuvor. Ihre ohnehin schmerzenden Arme und Beine protestierten. Kassia hielt den Blick fest auf das Seil gerichtet. Sie spürte die Bewegungen, als Mikail ihr folgte. Das verschaffte ihr genügend Druck, dass sie mechanisch eine Hand unter die andere setzte. Als sie endlich Boden unter den Füßen spürte, war sie vor Anspannung den Tränen nah. Doch sie war auch stolz auf sich, dass sie es bis hierhin geschafft hatte.
Mikail kam nur wenig später neben ihr auf und griff wieder ihre Hand: „Los!“
Er sprang voran und Kassia konnte nicht anders, als sich mitziehen lassen. Sie liefen durch den Wald, in dem Wissen, dass Drachenblut wohl schon auf der Bergkuppe angelangt war und alles nach ihnen durchsuchte.
Ein kleiner Flugsaurier, vielleicht so groß wie eine Möwe, erschien in den Baumwipfeln über ihnen.
„Da!“, meinte Kassia aufgeregt, „das ist Zayns Tier!“
„Deynara“, meinte eine Stimme. Kassia und Mikail fuhren herum. Siehe da, Zayn und Maurice befanden sich im Geäst eines großen Baumes, neben dem pechschwarzen Flugsaurier, auf dem sie geritten waren. Zayn grinste frech, Maurice lächelte schüchtern.
„Zum Glück geht es euch gut“, meinte Mikail.
„Und euch auch“, Zayn sprang vom Baum und der kleinere Saurier, Deynara, landete auf seiner Schulter.
„Allerdings nicht mehr lange.“
Das war eine neue Stimme, dich sich einmischte. Kassia spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Diese neue Stimme war rau, dunkel und bedrohlich.
Sie drehte sich um, langsam, zögerlich.
Er stand im Schatten eines Baumes, die Haut so dunkel, das man ihn auf den ersten Blick nicht sah. Haare und Bart waren immer noch ein einziges, schwarzes, wildes Durcheinander, nur das Weiße der Augen blitze in seinem Gesicht auf.
Der Riese machte drei Schritte nach vorne ins Licht. Er sah aus wie früher: Muskulös, düster, furchteinflößend.
„Dachtet ihr wirklich, dieser billige Trick könnte euch vor Drachenblut retten? Dachtet ihr, Anthony Jayden rechnet nicht damit, dass ihr fliehen wollt?“
Thanatos musterte die vier, die vor lauter Schreck keine Worte fanden.
„Habt ihr euch eigentlich nicht gefragt, wie ihr diesen Krieg bisher unverletzt überstehen konntet?“