Kemuliaan, 3. Denia des Segments Keempat, der 6. Tag nach Loteped
Kemuliaan war eine lärmende, volle und stinkende Stadt. Sie war ein Ort der Ultimative. Nicht ohne Grund wurde sie als die mächtigste und größte Königin des Westens bezeichnet. Zugleich war sie auch eine Stadt, die wie keine andere, das Blutvergießen um des Spaßes willen feierte. Der gewaltigen Arenen wegen, in der aufgeheizte Massen lautstark die Großartigkeit des Tötens und Sterbens beurteilten, war der Fette gekommen. Wessen Sklaven in den Arenen als Kämpfer akzeptiert wurden, der galt im ganzen Reich als Putikard anerkannt. Dass er dennoch bereit gewesen war, ihn zu verkaufen, bewies in Cherews Augen, wie mächtig sein neuer Herr war. Mit ihm verlor der Fette eine gute Einnahmequelle. Umso mehr fragte Cherew sich, was sein neuer Herr mit ihm vorhatte.
Leider gab Pelayan keinerlei Informationen. Ohne seine Umwelt oder Cherew weiter zu beachten, schritt er durch das Gedrängel, das sich nun vom Sklaven- auf den Tiermarkt ergoss. Ochsen brüllten lautstark, gackernde Hühner flogen fluchenden Händlern davon und Kinder stibitzten rohe Fleischstücke von den Auslagen der Schlachter, während die Hunde gierig das Blut von der Straße leckten.
»Du befürchtest keine Flucht«, ergriff Cherew ungefragt das Wort.
Pelayan wich einer schimpfenden Frau aus, die etwas von Betrug schrie und ging weiter. Vor einem Kreuz, das genau am Rande des Sklavenmarkts errichtet war, blieb er stehen. Cherew sah hinauf. Dort hing ein junger Mann, seine Arme waren gespreizt. An dem Punkt, wo die Nägel den Leichnam hielten, zierte verkrustetes Blut die ungewöhnlich helle Haut. Ein Puidan? Für einen Moment war Cherew von Sehnsucht ergriffen. Vergiss die Vergangenheit. Du kannst niemals zurück, flüsterte die Stimme in seinem Inneren. Nein, der Junge war kein Puidan, erkannte er schließlich. Dafür war er zu groß, sein Haar zu dunkel und die Gesichtszüge zu geschwungen. Woher er kam, konnte Cherew nicht sagen. Letztendlich blieb er ein Sklave, wie ihm die Male im Gesicht verrieten. Es war noch ein Kind. Ein Junge nur, der schon gemeint hatte, den Helden spielen zu müssen. Cherew konnte die Schrift nicht lesen, in der blutige Worte in den Oberkörper des Jungen geritzt worden waren, aber ihre Bedeutung verstand er auch ohne: Flüchtiger.
Pelayan deutete zu dem Toten.
»Du bist zu alt dafür.« Und das muss ein kaum 20-Jähriger sagen, dachte Cherew belustigt.
Sein Blick löste sich von den blutigen Buchstaben. Er sah zu seinem Begleiter.
»Oh, du hast die körperlichen Voraussetzungen. Aber nur Junge und Narren versuchen zu fliehen. Hättest du zu fliehen versucht, wärst du nie so alt geworden«, fuhr der Junge in seinen Ausführungen fort.
»Vielleicht bin ich erst seit Kurzem ein Sklave«, gab Cherew zu bedenken, der diesen ungewöhnlichen Dialog zunehmend genoss. Es erinnerte ihn an eine Zeit in seinem Leben, als noch nicht Verbitterung seine alltäglichen Entscheidungen geprägt hatte.
Ich hole es mir zurück, dachte er, wenn ich erst in Iderra bin.
»Nein«, entgegnete der saubere Sklave, »Das bist du nicht.«
»Gewiss kürzer als du.« Mittlerweile war er sich sicher, dass Pelayan als Sklave geboren war. Er verhielt sich wie ein Vogel, der sein schillerndes Gefieder zeigte, um die Schönheit der Gefangenschaft zu preisen. Zugleich hob er sein eigenes Wissen und seine eigene Position hinauf, als wolle er den Schmerz verbergen, der dahinter stand. Cherew kannte Menschen wie ihn. Pelayan hätte nie einen Fluchtversuch gewagt. Dazu war er viel zu feige, seine jetzige sichere Position zu verlieren. Irgendwann würde er dastehen und feststellen, dass er den einen Moment, der alles verändern konnte, verpasst hatte. Vor ihm würde sich nur der Abgrund befinden.
Der Junge beugte sich zu ihm. Es störte Cherew, dass er größer war.
»Sei vorsichtig«, warnte er, »Dies ist keine vergessene Provinzstadt, sondern das Zentrum der Macht. Und Kemuliaan hat ein sehr gutes Gedächtnis. Hier wirst du dir deine Position nicht mit der Waffe erkämpfen können.«
»Sondern?« Junge, Junge. In dieser Stadt magst du dich auskennen, aber da draußen wärst du aufgeschmissen. Da rettet dich die Waffe allein.
»Du brauchst Menschen, die dich mögen und sich für dich einsetzen. Beziehungen.« Mach mich nicht zu deinem Feind, sagten seine Augen. Aber er antwortete Cherew. Das war ein guter Anfang.
Sie schwiegen wieder. Von einem Moment auf den anderen gab es nicht mehr zu sagen. Pelayan musste wissen, dass Cherew ihm folgen würde. Er hatte keine andere Wahl – noch nicht. Der Zeitpunkt würde kommen, an dem er seinem Sklavendasein den Rücken zuwenden würde, doch wollte dies sorgfältig geplant werden. Er musste sein Sklavenmal loswerden, das ihn nicht für immer kennzeichnen durfte. Niemand, der etwas auf das Gesetz gab, würde einem fremden Sklaven außerhalb der Stadt ein Heim bieten. Cherew hatte von Siedlungen weit im Osten gehört, die von entlaufenden Sklaven gegründet worden waren. Doch es blieben leere Träume. Und es gab nur eine Stadt, zu der er ihn zog: Iderra. Jene Stadt, welche die Dichter als die Perle der Wüste bezeichneten.
Aber jetzt war er hier. Kemuliaan. Da konnte Iderra, das an der östlichen Grenze Kerajaans lag, von der Hauptstadt doch nicht allzu weit entfernt sein, oder? War er Iderra in seinem Leben schon einmal näher gewesen? Er konnte sich nicht erinnern.
Während Cherew Pelayan folgte, sah er sich aufmerksam um. Die Fahrt zum Sklavenmarkt hatte er in einem geschlossenen Wagen verbracht, weshalb er erst jetzt die Zeit fand, seine Umgebung genauer zu beachten. Schon bald fielen ihm die Unterschiede auf – winzige Gassen existierten neben prachtvollen Alleen, in denen sich die hohen Herren an den Statuen ihrer Vorfahren vorbeitragen ließen. Soldatentrupps patrouillierten über den Markt und durch die Straßen, was die eifrigen Taschendiebe nicht daran hinderte, ihre Langfinger auszustrecken. Menschen verschiedenster Ethnien und Länder drängten sich durch die Gassen, schrien einander an und bestahlen sich. Diese Stadt war ein eigenes Königreich mit Regeln, die Cherew nicht durchschaute. Mit der Zeit würde er sie lernen.
Der Lärm wurde leiser, sowie sie den Fluss erreichten, der die Stadt in zwei Hälften teilte. Mehrere Brücken führten auf die andere Seite. Allerdings war das Wasser nicht sehr schnell, sodass es ihm möglich wäre, den Fluss schwimmend zu durchqueren. Er konnte diese Fähigkeit auch nach acht Segmentjahren nicht verlernt haben, oder? Aber was kam danach? Wie sollte er die Stadtmauern überwinden? Wie die Reise durch die Wüste überleben?
Vereinzelte Barken trieben durch das Wasser, doch schien der Fluss ansonsten nicht befahren zu werden. Bei dem Schmutz, den er mit sich trug, konnte Cherew dies sogar verstehen.
Pelayan steuerte auf eine prächtige steinerne Brücke zu, die mithilfe von drei Bögen das Wasser überspannte. Jeweils acht Soldaten bewachten die Enden der Brücke. Nicht jeden ließen sie passieren. Für Pelayan und Cherew genügte es dagegen, eine bronzene Marke hochzuhalten und den Namen ›Pujabaat‹ zu sprechen. Gewichtig nickten die Soldaten und neigten die Köpfe, als ob man diesen Namen gehört haben musste, weil er zu einer sehr bedeutsamen Person gehörte. Auch schienen sie Pelayan zu kennen. Vielleicht wurden sie auch deshalb ohne Schwierigkeiten durchgelassen. Selbiges geschah auf der anderen Seite.
»Du kannst nur mit den Marken den Fluss überqueren«, erklärte Pelayan leise, »Sie gelten nur innerhalb der Stadt, und nicht auch dort längst nicht überall. Es gibt nur wenige Sklaven, die eine besitzen.« Erkennbar war er stolz auf diese Auszeichnung, eine dieser Ausnahmen zu sein. Sollte er doch! Cherew strebte es nicht danach, innerhalb der Sklavenhierarchie aufzusteigen. Er wollte nur nach Iderra.
Dennoch fokussierte er sich wieder auf die Stadt, die sich vor ihm weiter ausbreitete. Das Bild, das sich Cherew nun bot, unterschied sich deutlich von dem der anderen Flussseite.
Prächtige Villen mit großzügig gestalteten Gärten breiteten sich an den Ufern des Flusses aus. Dahinter stieg das Gelände an und über Dächern thronte auf einem Hügel ein Gebäude, das Cherew für einen Palast hielt.
»Merk dir den Weg«, befahl Cherews Führer. Junge, Junge. Jeder Sklave merkt sich den Weg seiner potenziellen Freiheit. Zu seinem Missfallen gab es hier keine Bettler oder Straßenjungen, die als Informanten oder Helfer dienen konnten. Alles war ordentlich und sauber.
Er nickte.
Die Villa, zu der Pelayan ihn führte, lag am Flussufer. Rote Schieferplatten bedeckten das Dach, die Gebäude waren weiß getüncht. Wächter standen im Torhaus, die Pelayan beim Namen nannten und sie durchließen. Keine Sklaven, bemerkte Cherew. In den Provinzen waren Sklavenwächter weit verbreitet, aber hier schien das nicht der Fall zu sein.
An das Torhaus schloss sich ein Innenhof an, in dessen Mitte ein prächtiger Springbrunnen plätscherte. Säulenreihen stützten die Dächer der den Gebäuden vorgelagerten Kolonnadengängen. Von dort führten verschiedenste Türen ins Innere des quadratisch wirkenden Baus. Viel Zeit sich umzusehen, blieb Cherew indes nicht.
»Was soll das?« Eine Frau, die er zuvor nicht bemerkt hatte, erhob sich aus einem Korbsessel, der etwas versetzt hinter dem Springbrunnen stand. Aus einem weiteren Korbsessel beugte eine zweite Frau sich nach vorne. Neugierig musterte sie die Ankömmlinge. Die Sprecherin schien dagegen weniger neugierig, sondern vielmehr erbost zu sein. Anmutig schritt sie auf Pelayan und Cherew zu. Ihre edle Kleidung ließ ihn vermuten, dass es sich bei der kaum 20 Segmentjahren alten Frau um die Herrin des Hauses handelte.
Pelayan sank in eine Verbeugung, was Cherew ihm nachtat.
Vor ihnen blieb die Frau stehen, sodass er ihr süßliches Parfüm riechen konnte.
»Sprich, Sklave.«
Zunächst dachte Cherew, dass er selbst gemeint war, aber es war Pelayan, der die Antwort gab.
»Dies ist der Sklave, den der Herr mir zu kaufen befahl.«
»Und wie kommt ein Sklave auf die Idee, solch ein dreckiges Wesen könne meinem Gemahl gefallen?« Sie schnaubte. Mit einem übertrieben wirkenden Gähnen wandte sie sich an die zweite Frau. »Sagte ich dir nicht, wie furchtbar ermüdend dieser Haushalt ist? Wahre Größe und Eleganz kann man diesen ungehobelten Bauern wirklich nicht beibringen. Alles muss man selbst tun.«
»Das ist wirklich grauenvoll«, stimmte ihre Freundin zu.
»Ausziehen!«, erklang die scharfe Stimme der mutmaßlichen Hausherrin.
Cherew sah auf. Ungeduldig blickte die Kerajaanerin ihn an. Ihr schmales Gesicht war von Zorn verzogen.
»Nicht nur hässlich, auch noch taub«, schimpfte sie, »Wie soll ich mich denn mit solch einem Sklaven in der Stadt zeigen?«
»Wie gut, dass dein Mann dir gestattet, deine Sklavinnen selbst auszuwählen«, kommentierte die zweite Frau, »Dann geschieht kein solches Desaster.«
Dass ausgerechnet die schönsten Frauen immer die Bestien sein müssen.
Ohne etwas von seiner Verachtung zu zeigen, begann Cherew, sich seiner Kleidung zu entledigen. Die Tatsache, dass er bei der letzten Schicht zögerte, brachte ihm einen Schlag mit dem Rohrstock ein. Warum muss es solch ein Kindsweib sein?, schoss es Cherew durch den Kopf, als er sich auch der letzten Schicht entledigte. Bist du immer noch so undankbar, wenn meine Waffe dir dein armseliges Leben rettet? Am liebsten würde er ihr den Rohrstock entreißen, um ihr zu zeigen, wie man damit umging. Immerhin. Es hätte schlimmer kommen können.
Nackt stand er vor ihr, während sie ihn musterte und sein Aussehen kommentierte. Es war demütigend. Mit dem Rohrstock in der Hand schritt die Kindsfrau um ihn herum.
»Mit dieser Narbe passt er in keine Uniform hinein«, jammerte sie, sowie sie diese an seinem Arm entdeckte. »Alle würden meinen Ehemann belächeln.«
Sie legte den Stock unter sein Kinn und zwang ihn so, es anzuheben. Ihrem Blick wich er nicht aus. Es war schade, dass sie eine solche Schönheit war. Ihre vollen dunklen Locken waren zu einem Turm aufgewunden, in dem Edelsteine funkelten, deren Bezeichnung er nicht kannte. Die Hautfarbe war heller als die seine, aber immer noch dunkler als die der Puidan, an deren Seite er aufgewachsen war. Soweit er es beurteilen konnte, entsprach sie dem Schönheitsideal der Kerajaaner.
»Ich sagte doch, dass ich nur große Soldaten will«, fuhr sie mit ihren Beschwerden fort, »Wie lächerlich wird er denn neben der Kaiserwache aussehen?« Sie nahm den Rohrstock wieder fort und schüttelte den Kopf.
»Warum hast du ihn gekauft, Sklave?«
Pelayan schien die Schimpftiraden bereits gewohnt zu sein. Ohne seine Gefühle zu offenbaren, ertrug er die Kritik.
»Der edle Herr Pujabaat wünschte einen Iderraner, Herrin. So lautete seine Anweisung.«
»Die Iderraner sind Barbaren«, mischte sich die zweite Frau ein, »Das weiß man.«
»So ist es.« Die Hausherrin nickte eifrig. »Dieser Sklave kann unmöglich ein Soldat sein. Dafür ist er viel zu ungepflegt.« Sie ruckte mit dem Kopf. »Ich verlange, dass du ihn zurückbringst.«
Pelayan rührte sich nicht. »Bei allem Respekt, Herrin«, widersprach er, »aber ich kann den Worten meines Herren, Eures edlen Gemahls, nicht zuwiderhandeln.«
»Du bist ein ebenso schlimmer Barbar wie diese Iderraner.« Aufschnaubend trat die Kindsfrau zurück und setzte sich mit vollendeter Perfektion, die kein bisschen Knöchel unter ihrem langen Kleid sehen ließ, in den Korbsessel.
»Wie Ihr meint, Herrin«, antwortete Pelayan gelassen, »Ich werde dennoch auf neue Befehle des Herrn warten.«
Junge, Junge, wie war das mit der Ansage, sich Freunde zu machen? Du hast dir hierbei sicherlich keine gemacht. Allerdings hatte auch Cherew keine große Hoffnung mehr, die Meinung der Frau zu verändern. Er bedauerte es nicht wirklich. Die Anerkennung einer Kindsfrau, die noch nie auf einem Schlachtfeld gestanden hatte, benötigte er nicht. Cherew war noch nie gut darin gewesen, sich Freunde zu machen. Warum sollte er also jetzt damit anfangen?
»Wie du willst, Sklave. Du wirst sehen, dass mein Mann mich unterstützen wird.«
Respektvoll neigte Cherews Nebenmann den Kopf. »Ich bin mir gewiss, dass der Herr Pujabaat die richtige Entscheidung treffen wird.«
Unwillig wedelte die Kindsfrau mit der Hand. »Schaff diese Person weg und lass ihm von Neraat Arbeit geben. Mein Gemahl kann keine faulen Sklaven gebrauchen.«
Und so schien die vorläufige Entscheidung über Cherews Schicksal getroffen zu sein.
Stumm folgte er Pelayan, seine Kleidung über dem Arm.