Iderra, das Segment Ulaaruk, der zehnte Tag vor Relaneet
Schedela war verletzt. Cherew sah es an der Art, wie sie sich bewegte, als sie sich wieder erhob, das Gesicht bei einer ruckartigen Bewegung verzog und die Zähne zusammenbiss. Dennoch sprach er sie nicht darauf an. Sie hätte es nicht gewollt. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht vor der iderranischen Königin, vor der sie eben noch gekniet hatte.
Noch immer verstand er nicht, weshalb er so gehandelt hatte. Alles war so plötzlich geschehen. Er hatte Schedela beobachtet, wie sie sich erhob und die Ehefrau des Zweitgeborenen zu Boden warf. Armbrustbolzen waren durch die Luft geschossen und kurze Zeit später lag der König tot auf seinem Platz. Der Botschafter war geflüchtet, umgeben von seiner Leibwache. Nur Cherew war von den anderen getrennt worden. Oder hatte er sich durch die beständigen Versuche, Schedela zu entdecken, von den anderen trennen lassen?
Jetzt stand er hinter ihr und Jalldred, wieder der stumme Schatten, der er schon damals gewesen war, als hätte er diesen Platz nie verlassen. Und es fühlte sich richtig an. Selbst die Stimme schwieg.
Er stand hinter ihr und beobachtete, wie sie dem Kronprinzen hinterher sah, als er auf einer Liege und von Ärzten umgeben davongetragen wurde. Die königliche Leibwache durchkämmte den Raum, schaute hinter Vorhänge, sammelte Beweise und trieb Verdächtige zusammen. Leichen wurden weggebracht, zuerst die toten Attentäter und zuletzt ihre Opfer: Dienerinnen und Gäste, die inmitten der Kämpfe zu Tode gekommen waren, und zuletzt unter andächtigem Schweigen der König und sein Sohn.
Die Königin stand inmitten von all dem, eine scheinbar unerschütterliche Größe, der man nicht zugestand, um ihren Mann und den einen Sohn zu trauern und um den anderen zu bangen. Stattdessen hielt sie ihren jüngsten Sohn eng bei sich, erteilte Anweisungen und nahm Berichte entgegen. Die Anwesenden, denen sie nicht gestattete zu gehen, bevor alle befragt worden waren, schauten zu ihr auf. Gehorsam stimmten sie in Gesänge ein, sobald sie bekannt gab, dass ihre Schwiegertochter Nasiyse in den Wehen lag, als ob ihnen das angesichts dieser Tragödie Halt gab.
Während all dem stand Schedela in ihrer unmittelbaren Nähe. Dass sie das Leben von Ishkan gerettet hatte, schien sich schon innerhalb weniger Minuten herumgesprochen, und ihr einen Ehrenplatz im Umfeld der Königin verschafft zu haben.
Zwei Soldaten traten zur Königin, flüsterten ihr etwas zu und plötzlich blickte sie Cherew direkt an. Sie nickte.
Die beiden Soldaten traten auf ihn zu und einer von ihnen sagte nur: „Ihr seid festgenommen.“
Siehst du, wisperte die Stimme in ihm, du wirst wieder und wieder verkauft. Hättest du doch geschwiegen.
Die beiden Soldaten entwaffneten ihn, packten ihn und er sah zu Schedela, die still dastand und ihn einfach nur ansah, die Augenbrauen fragend hochgehoben.
„Pujabaat“, wisperte er ihr nur zu, als er an ihr vorbeigeführt wurde in der Hoffnung, dass sie verstand. Trotz dessen, dass sie nicht für ihn aufstand oder nur einen Finger rührte, um Tsagi Anat zu fragen, weshalb er abgeführt wurde.
Cherew spürte, wie der alte Zorn sich in ihm regte. Er wollte schreien, dass er ihren Prinzen ebenso gerettet hatte wie Schedela, sie überhaupt erst gewarnt hatte. Aber er schwieg.
Vergiss nicht, dass auch dein Mädchen jetzt eine Herrscherin ist. Es ist nicht klug, sich gegen sie zu stellen.
Mittlerweile war er einfach zu sehr daran gewöhnt, verraten zu werden.
Cherew wurde in das städtische Gefängnis gebracht – wie all die anderen, denen man eine Verwicklung in das Attentat vorwarf. Das hatte er sich mittlerweile zusammengereimt. Scheinbar hatten Zellen recht plötzlich geleert werden und Gefangene zusammengelegt werden müssen, darüber beschwerten sich die Wärter vor seiner Zelle lautstark. Was bedeutete, dass sie noch nichts über das Attentat wissen konnten.
Ernüchtert ließ Cherew sich in das schmutzige Stroh der Zelle sinken, das nicht schlechter oder besser war als das von anderen Gefängnissen. Seit seiner Zeit in der Grube seines Volkes empfand er die sowieso als Luxus. Hier gab es nur Ratten und Ungeziefer, keine Hunde. Hoffte er zumindest.
Andere fügten sich ihrem Schicksal weniger ergeben. Eine Frau schrie immer wieder laut den Namen ihres Vaters, der wohl eine hochrangige Position in der Verwaltung einnahm, zwei Männer beschwerten sich über diese Unverschämtheit.
Die Wachen, die in regelmäßigen Abständen zwischen den Zellen umherliefen und die dunkle Stille mit dem verheißungsvollem Klirren ihrer Schlüsselbünde füllten, ignorierten das oder verwiesen lapidar auf ihre Befehle.
Cherew versuchte zunächst zu schlafen, doch die Gedanken und die ungewohnten Geräusche hielten ihn wach und so beschäftigte er sich damit, zu fragen, wie er in diese Situation gekommen war.
Vielleicht hatte er sich in seiner Deutung von Pujabaats Worten auch geirrt. Die Armbrustbolzen hatten Nasiyse zum Ziel gehabt, nicht Schedela. Vielleicht war sie als Tochter eines Emirs von Erin die genannte Prinzessin gewesen. Die Verursachung eines Krieges mit Erin, das im Süden unmittelbar an Iderra grenzte, wäre politisch auch sehr viel naheliegender.
Was auch immer es war, er würde die Antwort sicherlich nicht hier im Gefängnis erfahren.
Allerdings konnte er wahrlich nicht viel mehr tun als zu warten und zu hoffen, dass Schedela ihn bald hier rausholte.
Wenn da nur die Zweifel nicht wären, welche die Stimme ihm beständig einflüsterte.
Tatsächlich erhielt er früher Besuch, als er gedacht hatte. Er hatte gerade die Schale mit dem dünnen Haferbrei zurückgereicht, als er die Schritte hörte. Es war nicht Schedela, sondern Pujabaat, der sich vor seiner Zelle aufbaute. Selbst inmitten dieser dreckigen Umgebung erhielt er noch Gehorsam: Bis auf einen Verrückten, der weiter schrie, schwiegen die Gefangenen.
Instinktiv stand Cherew still.
„Herr“, meinte er nur und senkte den Blick nicht.
„Du hast mich enttäuscht, Cherew“, begann Pujabaat ohne Umschweife. „Eine Beteiligung an einer Verschwörung, den König zu töten, war kein Teil deines Auftrages.“
„Gewiss nicht, Herr.“ Es hatte keinen Sinn, eine Debatte über die Wahrhaftigkeit dieser Aussage anzufangen. Cherew verstand ohnehin, dass man ihm zum Bauernopfer machen wollte.
„Zweifelsohne wird man dich hinrichten“, fuhr der Botschafter fort, ohne Bedauern darüber zu zeigen. Warum auch? Ihm dürfte das sehr gelegen sein. Zwar konnte er nicht wissen, dass Cherew ihn als Urheber dieser Verschwörung identifiziert hatte, dennoch wusste er zu viel. Wissen, das nicht an die Öffentlichkeit gelangen konnte.
„Es wird einen Prozess geben und ich werde natürlich eine schriftliche Aussage darüber machen, wie du in meinen Dienst gekommen bist. Sicherlich wird man dein Mädchen befragen, so es sie denn überhaupt gegeben hat.“
Cherew wagte es nicht, nach Lean zu fragen. Hoffentlich war ihr nichts geschehen.
Er spürte Pujabaats kalten Blick, auch ohne ihn im Halbdunkel der Zelle zu sehen.
„Ich wollte nicht noch einmal ein Kind sterben sehen“, versuchte er sich an einer Erklärung, sollte sein Herr sie verstehen, wie er wollte. Er dachte an ein Mädchen in den Straßen Kemuliaans, an Schedela, die er fast aufgegeben hätte und an Joresch. Vor allen an ihn.
„Was dich dazu getrieben hat, ist gleichgültig. Du wirst sterben, so oder so.“
Plötzlich wurde Cherew bewusst, dass Pujabaat niemals die Gefahr eines Geständnisses im Rahmen eines Prozesses eingehen konnte. Er würde ihn also vorher töten lassen.
Und nach all den Jahren wirst du ausgerechnet in einer iderranischen Gefängniszelle draufgehen.
Wenn er sich nicht eingemischt hätte, wäre er jetzt schon auf dem Weg nach Jurhagist und bald an Bord der Callingers Fluch. Wäre er nur gegangen …
Die Nichte solltest du schützen, nicht die Tante.
Leise fluchend blickte er Pujabaat hinterher, der sich ohne ein weiteres Wort abwandte, der Wache, die abseits gewartet hatte, die Fackel in die Hand drückte und die Treppe ins Freie hinaufstieg.
Wie würde es geschehen? Durch Gift? Misshandlung? Folter?
In seiner Zelle hatte er kaum die Möglichkeit, sich dessen zu erwehren. Aber immerhin des Essens würde er sich verweigern.
Was Cherew am meisten an Zellen störte, war die viele unnütze Zeit, die nirgends langsamer verstrich. Hier warteten keine Pflichten, nur Sorgen und zu viele Gedanken. Er versuchte, Sport zu treiben, so ihm das in den wenigen Metern möglich war, um die Belastbarkeit seines Beins zu stärken. Doch nach nur wenigen Minuten beschwerte sich sein Zellennachtbar über den Lärm und Cherew versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Jedoch weigerte sich der Adelige, mit einem einfachen Soldaten zu sprechen.
„Eine Schande ist das“, meinte er nur immer wieder, wobei unklar blieb, ob er seinen eigenen Gefängnisaufenthalt, das Attentat oder seinen Zellennachbarn meinte.
Ernüchtert ließ sich Cherew wieder in das Stroh sinken, versuchte zu dösen und schlief nach unzähligen Gedankenspielen schließlich doch ein. Er träumte von der kleinen Schedela, die inmitten eines goldenen Blätterregens auf dem Boden kniete, das Messer noch in der Hand. Nur war es dieses Mal kein Hirsch, sondern ein Junge, der regungslos zu ihren Füßen lag.
„Du hast ihn getötet“, meinte sie ruhig und starrte ihn an. „Es ist deine Schuld.“
Das Kind verwandelte sich in die Frau, die über ihm stand, weil nun er in Fesseln vor ihr kniete.
„Du hast ihn getötet“, wiederholte sie, „es ist deine Schuld und dafür musst du sterben.“
Plötzlich waren Hundeleinen in ihren Händen, die sie mit einem Lächeln löste. Die Hunde, gewaltige, schwarze Bestien sprangen auf ihn zu.
Keuchend fuhr Cherew hoch. Ihm schauderte. Warum nur gestatteten ihm seine Träume nie eine Waffe?
Bereits in den ersten Stunden hatte er seine Zelle durchsucht, doch bis auf einen rostigen Nagel hatte er nichts gefunden. Cherew wusste von Arenakämpfern, deren einzige Waffen zwei Nägel waren. Seiner Ansicht nach war es dennoch eine lausige Waffe.
Die Stimmen der Wachen ertönten und die älteren Gefangenen traten an die Zellengitter.
Jeder erhielt eine Schale mit wässriger Suppe, welche die Wachen aus einem schweren Topf schöpften, und ein trockenes Stück Brot, das sie aus einem Beutel nahmen. Cherew beobachtete sie aufmerksam, konnte jedoch nicht erkennen, ob sie sein Brot von wo anders genommen hatten. Sein Magen knurrte laut vernehmlich. Hungrig starrte er auf Suppe und Brot in seinen Händen herab. Zumindest bei der Suppe sollte er sich doch sicher sein können, oder? Immerhin würden sie kaum alle Gefangenen vergiften, oder?
Und was ist, wenn Pujabaat noch weitere Zeugen aus dem Weg räumen will?
Er zögerte kurz, dann schüttete er die Suppe in eine Ecke des Strohs aus. Das Brot warf er einer dürren Ratte mit vernarbtem Kopf zu, deren Augen im Halbdunkel glänzten.
Nur wenige Stunden später fand er sie tot in seiner Zelle liegen.
Neun Mahlzeiten in viereinhalb Tagen ließ Cherew so an sich vorbeigehen. Das Schlimme war nicht der Hunger, der schon am zweiten Tag einem dumpfen Gefühl gewichen war, sondern der Durst. Bohrende Kopfschmerzen begleiteten jede seiner Bewegungen und zudem hatte sich seine schon gut verheilte Beinwunde erneut infiziert. Immerhin machte die Heilung seiner Nase keinerlei Probleme.
In den Nächten und den Tagen – unterscheiden konnte er sie nur noch durch die Mahlzeiten – träumte er wieder von der Ausbildungszeit seiner Jugend. Bewusste Fastenzeiten mit ergänzenden körperlichen Übungen waren ein bedeutender Teil dessen gewesen. Damals schien er Hunger und Durst noch leichter ertragen zu können. Er begann, jene Übungen wieder aufzunehmen und ergänzte sie durch weitere, die er in seiner Zeit am Hof und seinen vielen Leben als Sklave gelernt hatte. Nur die Gebete sprach er nicht, die sein Onkel in seinen Gedanken noch immer neben ihm aufsagte mit seiner markanten, befehlsgewohnten Stimme.
Wir beten für Freiheit, für Land und Rache. Freiheit, Land, Rache. Immer wieder.
In den Träumen wurden sie zu einem Mantra, das jeden seiner Schritte begleitete.
Sie kamen am Abend des vierten Tages. Es waren zwei Wachen mehr, die mit denen kamen, die das Essen brachten. In der vergangenen Zeit waren immer wieder Gefangene zu Befragungen abgeholt worden. Manche waren wiedergekommen, andere nicht. Dieses Mal bauten sie sich vor seiner Zelle auf. Wortlos schlossen sie die Tür auf, nahmen ihn in ihre Mitte und führten ihn durch den Gang bis zu der Treppe, durch die er vor vier Tagen hinabgekommen war. Seine Beine zitterten beim Aufstieg so stark, dass er sich an der Wand abstützen musste. Ungeduldig schupste die eine Wache ihn vorwärts. Cherew verlor das Gleichgewicht, richtete sich mit blutigen Knien wieder auf und taumelte weiter.
Es ging ein Stockwerk hinauf, einen Gang entlang und in einen Raum, dessen schwere Holztür krachend hinter ihnen ins Schloss fiel. In der Mitte stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, ansonsten war er leer. Aus den Augenwinkeln bemerkte er einen dunklen Fleck, der den Dielenboden verfärbt hatte. Blut? Oder doch nur Wein aus einem zerbrochenen Krug, von dem noch einige Scherben verstreut umherlagen?
„Dein Name ist Cherew?“, fragte die eine Wache, ein älterer Mann.
Cherew antwortete nicht.
„Ich habe dich etwas gefragt“, knurrte die Wache und schlug ihm ohne Vorwarnung mit der Faust ins Gesicht. Augenblicklich fing seine Nase wieder an zu bluten.
Keuchend wandte Cherew sich ab. „Ich spreche nur der Königin gegenüber“, entgegnete er und spuckte Blut auf die Schuhe des Mannes.
„Gar nichts sprechen wirst du“, kicherte der Jüngere, der noch in seinem Rücken stand, „und wir werden reich.“ Cherew hörte, wie Stahl aus der Scheide glitt und warf sich zu Boden, wie er den Luftzug spürte. Seine Hand schloss sich um eine der Scherben, die scharf in seine Handfläche schnitt.
Er rollte sich zur Seite, spürte, wie sich weitere Scherben in seinen Rücken bohrten, doch das Schwert traf nur die Dielen, wo es zitternd stecken blieb. Fluchend riss die Wache daran, aber die wenigen Augenblicke, die er abgelenkt war, nutzte Cherew, um ihm die Scherbe ins Bein zu rammen. Er brüllte auf.
Eine Hand packte Cherew und zog ihn hoch. Cherew versuchte, sich aus dem Griff zu winden, doch der Mann hielt ihn eisern fest.
„Du Narr“, knurrte der ältere Soldat, „jetzt werden wir dich langsam töten.“ In seiner freien Hand hielt er plötzlich ein Messer, mit dem er vor Cherews Gesicht umherfuchtelte.
„Erst beginnen wir mit ...“ Ehe er zu Ende sprechen konnte, trat Cherew nach seinem Schienbein, befreite sich aus dem Griff und zog dem Mann die Scherbe einmal durch das Gesicht. Blut spritzte auf, Cherew wich zurück – und stand vor der anderen Wache, die ihn zornig ansah, die Waffe in der Hand.
„Und du wirst doch sterben.“ Cherew sprang vor seinem Oberhau zurück, verlor dadurch jedoch den Halt und prallte schmerzhaft auf sein verletztes Bein. Er stöhnte auf und sah wie mit einem Schleier vor den Augen, dass die Wache auf ihn zukam, ein grausiges Lächeln auf den Lippen.
Hinter ihm knarrte die Tür. Er achtete nicht darauf, beobachtete die Klinge, um den rechten Moment zum Ausweichen zu erwischen.
Aber er war zu spät, seine Bewegung zu langsam, dass merkte er schon in dem Moment, als er zur Seite rollte und das Zischen des Schwertes über sich hörte.
Und dann – ein Körper, der neben ihm zu Boden sackte. Verblüfft starrte Cherew auf den regungslosen Mann und sah zu einem dritten Mann hoch.
„Ich dachte, wir machen es uns nicht zur Gewohnheit, dass ich dir das Leben rette?“, fragte Jalldred grinsend.
„Lieber nicht“, murmelte Cherew überwältigt und nahm Jalldreds Hand, die er ihm reichte, dankbar an.
„Ich hatte nicht erwartet, das zu überleben.“ Kopfschüttelnd ließ er sich auf einen der beiden Stuhl sinken. Seine Hände zitterten und die Scherbe, die er noch immer hielt, fiel zu Boden. Er starrte auf seine zerschnittenen Handflächen.
„Es ...“ Er wollte noch mehr sagen, den Gefühlen, die sich in ihm anstauten, Ausdruck verleihen, doch er hielt sich zurück.
Jetzt tue nicht so, als wärst du dem Tod das erste Mal von der Schippe gesprungen.
Und dennoch, und dennoch …
In diesem letzten Moment, kurz bevor Jalldred erschienen war, hatte er nicht nur Verzweiflung angesichts des nahenden Todes verspürt, sondern auch Resignation.
Und das war etwas, was er nie hatte zulassen wollen.
„Komm.“ Jalldred reichte ihm wiederum die Hand. „Lass uns dich zu Schedela bringen und einen Arzt für dich suchen – und diese armen Gestalten hier.“
Er deutete auf den Mann mit dem zerschnittenem Gesicht, der sich stöhnend auf dem Boden wand. „Was hast du mit dem angestellt?“
„Er war ein schlechter Verlierer im Tonscherbentod“, antwortete Cherew regungslos und humpelte an den Männern vorbei zurück in den Flur.
Jalldred lachte auf. „Im Gefängnis werden die wichtigsten Traditionen wahrlich vernachlässigt.“
Doch als Cherew sich auf ihn aufstützte, wie sie die Treppe hinaufstiegen, sagte er nichts.
Cherew war dankbar dafür.
Schedela saß, als er hereinkam, an einem Schreibtisch, der mit Papieren, Karten und Akten bedeckt war. Sie wirkte müde und erschöpft, wie sie sich mit der Hand über die Stirn rieb, das Haar ihr zerzaust über den Rücken fiel und ihr Kleid zerknittert war. Außerdem trug sie einen Verband. Zwei Schlingen um ihre Schultern, die zum Rücken führten und sich dort überkreuzen würden. Eine ähnliche Konstruktion hatte er schon einmal gesehen.
„Cherew“, begrüßte sie ihn und schenkte ihm sogar ein schwaches Lächeln. „Ich bin froh, dass es dir gut geht.“
„Wirklich?“, fragte er, etwas, was er sich nicht verkneifen konnte.
Sie runzelte die Stirn über seinen Unmut. „Gewiss waren die Tage unangenehm, doch du kannst dich damit trösten, dass du uns einen großen Dienst erwiesen hast.“
„Einen Dienst“, antwortete Cherew mit tonloser Stimme.
Sie erhob sich und ging um den Tisch herum, bis sie vor ihm stand. So nah, dass er die feine Narbe auf ihrer Stirn erkennen konnte, die sie sich als Kind bei einem Sturz zugezogen hatte.
„Cherew“, meinte sie und dann, ohne dass er es hatte kommen sehen, schloss sie ihn in die Arme. Ihr mangelte es an der stürmischen Freude, mit der sie sich als Kind auf ihn geworfen und sich an ihn geklammert hatte. Das Selbstverständnis, mit dem sie seine Zuneigung für sich einforderte, war indes geblieben. Ein Teil von ihm verstand sogar, wie sie ihn manipulierte und seinen Zorn schmelzen ließ. Widerstehen konnte er ihr dennoch nicht, vielleicht, weil sie ihm inmitten von all dem vermittelte, dass sie ihn brauchte.
Sie löste sich von ihm, lächelte und ging zu einem kleinen Tisch, wo Getränke und eine Schale mit Obst standen.
„Wasser“, bat er, als sie schon zu dem Krug mit Met griff.
Sie bedeutete ihm, sich in einen der beiden Sessel zu setzen und reichte ihm einen Becher mit Wasser und die Obstschale.
„Ich nehme nicht an, dass du die letzten Tage viel gegessen hast.“
Cherew schüttelte den Kopf und nahm sich eine Aprikose. „Es war vergiftet.“
„Wie ich es vermutet habe.“ Sie seufzte. „Ich bin dennoch dankbar, dass er die beiden Wachen bestochen hat. Das lässt sich viel einfacher beweisen.“
Elegant setzte sie sich in den anderen Sessel, überschlug die Beine und nippte an ihrem Wein.
„Er?“
„Wer auch immer dich zum Schweigen bringen wollte. Ich vermute, es ist Pujabaat, doch sind die beiden noch nicht befragt worden.“
„Es ist Pujabaat“, bestätigte Cherew, der keine andere Möglichkeit sah, „aber wie …?“
Du Narr. Sie ist kein Kind mehr, dem du die Welt erklären muss.
„Nun du trugst seine Uniform, als du Jalldred deine Warnung überbracht hast, außerdem hat er dich im Gefängnis besucht. Ich vermutete, dass du deine Informationen von ihm erhalten hast, jedoch schwiegst, um dich und ihn zu schützen. Außerdem war mir bewusst, dass du keine eindeutigen Beweise haben könntest und dass die Königin kaum ohne jede Handhabe den Botschafter beschuldigen würde. Ein Zeuge, den er aus dem Weg zu räumen versucht, verleiht meiner Vermutung durchaus etwas Gewicht.“
Wieder nippte sie an ihrem Wein, sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Handlungen.
Cherew konnte nicht anders, als sie bewundernd anzustarren, während er sich fragte, wer hier eigentlich mit wem gespielt hatte. Und ob nicht vielmehr Schedela Pujabaat als ihre Figur hin und her geschoben hatte. Dass sie ihn dabei als Lockvogel benutzt hatte, schmeckte ihm dennoch nicht.
„Erzähle mir also, was du weißt“, meinte sie in einem Ton, der Bitte und Befehl zugleich war.
Cherew gehorchte. Er begann damit, wie er in Pujabaats Haushalt gekommen war, von Kemuliaan, der Zeit in Iderra, seinen Aufträgen, wie er Jalldred begegnet war, und dem nächtlichem Gespräch im Garten. Als er Garek erwähnte, blickte sie zunächst überrascht herein und schnaubte dann auf.
Sie stellte ihm weitere Fragen zu seiner Zeit bei Pujabaat, auch wenn er wenige zu ihrer Zufriedenheit beantworten konnte. Was sie nicht fragte, war alles, was darüber hinausging. Neun vergangene Jahre seit ihrer letzten Begegnung und die achtundzwanzig gemeinsamen davor blieben ungesagt und unerwähnt.
„Es tut mir leid“, meinte er schließlich nach einem Moment des Schweigens, „ich hatte Pujabaats Worte falsch gedeutet. Nicht Ihr ward das vorrangige Anschlagsziel, sondern die Prinzessin Nasiyse.“
„Und der König und die Prinzen.“ Sie seufzte. „Doch Ishkan lebt, die Königin lebt und Nasiyse hat Tsnem eine Tochter geschenkt.“
Sie beugte sich vor und legte ihm die Hand auf den Arm. „Und das alles weil du mir eine Warnung überbracht hast.“
Es war nicht genug, schrie es in ihm und er hatte die Leichen vor Augen, und es wird nie genug sein.
Ihr gegenüber senkte er nur den Blick.
Sie ließ ihn los. „Gut, du wirst Königin Tsagi Anat genau dasselbe berichten, was du mir erzählt hast.“
„Und dann?“, fragte er noch, während sie aufstand.
Sie lächelte und hielt ihm die Hand hin, um ihm zu helfen, was Cherew sich unendlich alt fühlen ließ. Er stellte die nun leere Obstschale zur Seite.
„Werden wir gegen Pujabaat vorgehen und ihn des Landes verweisen.“ Sie seufzte. „Und dann werden wir nach Hause zurückkehren.“
Nach Hause. Cherew, der sich in den letzten Jahren auf einer Vision von Iderra gestützt hatte, sah keinen Widerspruch darin. Diese Heimat, der Traum seiner Mutter, hatte sich als eine Illusion erwiesen, die keine Bestand hatte. Zumindest nicht für ihn, den Verräter seines Volkes. Niemals würde er hier eine dauerhafte Heimat bauen können.
Sie öffnete eine Tür, die weiter in ihre Gemächer führte.
„Ich habe dir eine Kammer herrichten und Sachen bereit legen lassen. Zu Pujabaat wirst du kaum zurückkehren können.“
Sie deutete in die schmale Kammer hinein. Ein Bett, eine Truhe und ein Stuhl. Es war mehr, als ihm in den Diensten des Botschafters zur Verfügung gestanden hatte.
„Brauchst du noch etwas?“, fragte Schedela.
„Ja“, antwortete er nach kurzem Zögern, „es gibt da jemanden, den ich besuchen muss.“
Merkwürdigerweise verspürte er in all dem Chaos die Sehnsucht danach, ein kleines Wesen in seinem Schoß liegen zu haben, das keinerlei Intrigen gegen ihn spann, sondern nicht mehr als seine Zuneigung verlangte und die ihre zugleich bereitwillig gab.