Iderra, das Segment Ulaaruk, der fünfte Tag nach Relaneet
Es dauerte noch eine Woche, bis die Glocken Iderras am Abend den Tod Arrajs bekanntgeben durften. Lautstark schrien sie den Schmerz des iderrischen Volkes über den Verlust ihres Thronfolgers heraus und des Nachts stiegen die Flammen der Trauerfeuer auf den öffentlichen Plätzen hoch hinauf. Doch keine Gesänge ertönten, stattdessen spielten die Instrumente der mit Fackeln bekrönten Trauerzüge, die durch die Stadt zogen, schrille und grausige Töne.
Und am nächsten Morgen versammelte sich die Elite des Stadtstaates vor ihrer Königin, um Antworten über jenes grausame Verbrechen zu erhalten, das ihnen den König und seine beiden ältesten Söhne entrissen hatte. Die Adeligen und reichen Bürger drängten sich zwischen den Säulen der gewaltigen Halle eng aneinander und wurden allein von der Palastwache zurückgehalten, die einen Gang zwischen dem Haupteingang und den erhöhten Thronen freihielt.
Durch eben jenen Gang trat Pujabaat selbstbewusst in den Thronsaal Iderras, begleitet von vier Männern seiner Leibwache. Ob er die Blicke spürte, mit dem ihm die Menschen links und rechts der schmalen Gasse durchbohrten, hörte er die leisen Flüche oder sah er die Schutzzeichen, die Menschen gegen das Böse formten? Einzig Tsagi saß still und mit regungslosem Gesicht auf ihrem Thron. Und falls sie irgendetwas gegenüber dem Botschafter Kerajaans empfand, so zeigte sie es nicht, sondern beobachtete seine Schritte mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Dabei schien die Leere des zweiten Thrones neben ihr fast erdrückend zu sein.
Etwas zurückgestellt zu den beiden Thronen hatte man Ehrenplätze für die Menschen eingerichtet, die sich zurzeit der besonderen Gunst der Königin erfreuten. Dazu gehörten Schedela, ihre Ratgeber Zejk Iru und Zannikas, Nasiyse und ihr Bruder. Der Platz neben Schedela war noch unbesetzt und auf eben jenen steuerte Pujabaat zu.
Starr stand Cherew neben Jalldred hinter Schedela und musterte seinen einstigen Herrn nur aus den Augenwinkeln. Auch dieser schenkte ihm, als er sich setzte, keinen Blick, doch Liraan, der sich hinter ihm aufbaute, starrte ihn wütend an.
Schedela hatte ihn gewarnt und ihm vorgeschlagen zu seiner Sicherheit eine Hinrichtung zu fingieren, doch er hatte abgelehnt. Er war dieser Intrigen so müde, die ihn davon abhielten, seinen Platz an ihrer Seite einzunehmen – dort, wo er hingehörte. Und so ertrug er Liraans Blicke, auch wenn seine Hand sich um das Heft seines Schwertes verkrampfte.
Acht Männer und vier Frauen standen auf den Stufen vor dem Thron, auf der Kleidung die Wappen ihrer Familien. Sie schmückten sich mit Löwen, Adlern und Pferden – den königlichen Tieren, wenn sie auch nicht im jetzigen iderranischem Staatswappen vorkamen, und trugen stolz die verliehenen Ehren in Form von Orden und Medaillen auf der Brust.
Die Königin erhob sich in ihrem purpurroten Kleid, dessen Farbwahl allein ein Affront war: Es war eine Farbe, die Kaisern und Königen vorbehalten war, nicht etwa deren Frauen.
„Wir sind heute hier versammelt, um die zwei Hände der Gerechtigkeit zu ehren“, verkündigte Tsagi mit lauter Stimme, „und daher ist es mir eine Ehre zunächst jene Personen zu belobigen, denen die Dankbarkeit des Thrones gebührt.“
Der neben ihr stehende Zeremonienmeister entrollte ein Pergament, räusperte sich und verlas dann: „Der allerhöchste Dank der Krone gebührt Schedela Nawellon Miselisach Tikwalas, der rechtmäßigen Königin von Callinger, die ihre Treue zu Iderra vielfach unter Beweis stellte, in dem sie sowohl die ehrwürdige Prinzessin Nasiyse wie auch den Prinzen Ishkan rettete.“ Cherew bemerkte, dass Ishkans Beiname, der seine Position am Hof anzeigte, fehlte – ebenso wie der junge Prinz selbst.
„Zudem gebührt der Dank Cherew von Callinger, welcher das Leben des Prinzen tapfer an ihrer Seite bewahrte.“
Gemeinsam mit Schedela trat Cherew vor den Thron, wo er sich steif verbeugte. Von Tsagis eigener Hand empfingen sie den höchsten Orden, welchen das Königshaus verleihen konnte. Er sah so seltsam auf Cherews schlichter Uniform aus. Vielleicht weil es der erste Orden war, dem man ihm verliehen hatte. Orden. Es gab kein Wort dafür in pohiret oder iderranisch. In Cherews Volk nannte man es Selbstverständlichkeit, in Schedelas Ehre.
Welche Ehre hast du dem Stamm hinzugetan?, würde man sie fragen, wenn sie tatsächlich in ihre Heimat zurückkehren würde. Doch Schedela hatte keinen Götternamen. Es gab keine Ehre, die sie ihrem Stamm hinzufügen könnte, weil sie kein Teil ihres Stammes mehr war.
Und du willst ihr wirklich bei ihrem Krieg helfen? Könige behängen ihre Günstlinge gerne mit Orden, bevor sie diese zum Schafott führen, wisperte die Stimme in ihm, wird auch sie dir also einen Orden geben, wenn sie deine Treue wieder und wieder fordern wird?
Der Blick, mit dem sie ihm gemustert hatte, als sie ihn selbstverständlich ins Gefängnis hatte führen lassen, verfolgte ihn noch immer.
Wie weit würde sie gehen, um ihre Ziele zu erreichen, ihren Thron zu gewinnen?
Er hatte sie beschützt. Sollte er sich nun also der Nichte zuwenden?
Nachdenklich folgte er Schedela, als sie zu ihrem Platz zurückkehrte, und stellte sich an seinen Platz, bei dem er sich immer mehr fragte, ob es wirklich der seine war.
Es folgten weitere Belobigungen von Personen, die sich bei dem grausigen Anschlag hervorgetan hatten. Nicht alle erhielten Orden, von vielen weiteren wurden die Namen nur verlesen. Die Listen würden später öffentlich ausgehängt und auch in der Stadt verlesen werden, damit allen bekannt war, wem die Dankbarkeit der Königin gebührte.
Schließlich rief der Zeremonienmeister den Namen Gareks aus. Cherew bemerkte, wie sich Schedela vor ihm anspannte und sich nach vorne beugte, als sie ihren einstigen Mentor aus der Akademie den Gang entlanglaufen und sich vor der Königin verneigen sah.
„Garek von Iderra.“ Die Königin sprach den Namen fast zärtlich aus. „Wir möchten Euch danken für all die treuen Dienste, die Ihr uns geleistet habt, und den Ruhm, den ihr für unsere altehrwürdigen Akademien erworben habt.“
Selbst von seiner Position sah Cherew das geschmeichelte Lächeln des Wissenschaftlers. Oh, er mochte sein Land bereitwillig für eine bessere Reputation und das Versprechen auf eine einflussreiche Stellung verraten haben, doch die Anerkennung für seine Leistungen sammelte er gerne auf jeder Seite.
Mit einem Lächeln auf den Lippen winkte Tsagi Pujabaat zu sich heran, sodass er einen Ehrenplatz direkt neben ihr einnahm.
Sie bemühte sich nicht, die Stimme zu senken, war ihre Botschaft doch an alle bestimmt, als sie fragte: „Sagt mir, edler Pujabaat, was gebührt in Eurem Land jenen, die ihr Land verraten?“
„Der Tod“, antwortete Pujabaat ohne zu zögern.
„Hm“, meinte Tsagi und blickte aus ihren dunklen, kalten Augen auf den knienden Garek hinab. „Mir scheint, diese Strafe ist in allen Gesellschaften gleich. Wir Herrscher sind eifersüchtig, was unsere Treue anbelangt.“ Im Saal war es fast vollkommen still, sodass ein Husten lautstark durch die Luft hallte.
„Garek von Iderra. Wie mir berichtet wurde, habt Ihr Euer Land und Euren König bereitwillig an Kerajaan verraten. Und somit spreche ich, Tsagi, Königin von Iderra, folgendes Urteil am fünften Tag nach Relaneet dieses Jahres: Garek von Iderra Euch gebührt den Tod vor den Gesetzen der Götter und Menschen.“
Die Stille dauerte nicht länger fort. Menschen schrien, brüllten ihre Empörung heraus – ob aus Ablehnung oder Unterstützung des Urteils vermochte Cherew nicht zu sagen. Garek dagegen war erblasst. Doch er schwieg.
Cherew stand dennoch nah genug an der Königin und Pujabaat, dass er deren Worte verstehen konnte.
„Ihr wisst doch hoffentlich, verehrte Tsagi Anat, dass Euch das Recht verbietet, Todesurteile zu verhängen“, fragte Pujabaat leise.
„Tut es das“, erwiderte sie mit unbewegter Miene.
„In der Tat“, fuhr der Botschafter fort, „herrscht Ihr doch allein aus dem Recht Eures tragischerweise verstorbenen Mannes, nicht aus eigenem.“
„Und was ist dagegen zu machen?“
„Nun“, meinte Pujabaat etwas verwirrt über die vermeintliche Begriffsstutzigkeit der Königin. „Es braucht einen neuen König, der von den zwölf Familien inthronisiert werden muss. Gerne helfe ich Euch im Namen des Kaisers dies vorzubereiten.“
Sie schenkte ihm ein Lächeln. Kalt. Sah Pujabaat den Hass in ihren Augen, den sie trotz allem nicht verbergen konnte? „Ich danke Euch vielmals für Eure Hilfe, doch wird sie nicht von Nöten sein.“
Und damit trat sie vor, nickte dem Zeremonienmeister zu, der mit seinem schweren Stab auf den Boden klopfte, bis im Saal Ruhe einkehrte.
„Macht Platz für Ishkan Arra, den König Iderras!“, rief er mit lauter Stimme.
Und einem uralten Rhythmus folgend erhoben die Vertreter der zwölf Familien ihre Stimmen und sangen den Lobgesang auf den König. Ishkan war bereits am vergangenen Abend von den zwölf Hohen Familien zum König Iderras gekrönt worden, doch erst jetzt wurde er auch offiziell dazu ausgerufen.
Sechs Jungen in roter Kleidung liefen vor ihm und streuten rote Blumen, sechs Mädchen in weißen Kleidern folgten und ein Regen weißer Blüten bedeckten die roten. Sechs Männer und Frauen links und rechts des Ganges bliesen die Hörner, deren Schall laut und weit durch den Thronsaal getragen wurde.
Doch all das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie jung der neue König Iderras war. Gekleidet in Purpur schritt Ishkan mit kleinen Schritten bis zu seiner Mutter, die ihn erwartete und ihn zu seinem Thron führte. Man hatte ihn mit Kissen gepolstert und einen Hocker bereitgestellt, dennoch versank der junge König fast darin.
Und trotzdem, trotz allem jubelten die Menschen. Sahen sie es denn nicht? Diesen schmalen Grat, auf dem sich Tsagi mit ihrem Sohn bewegte? Er wollte ihnen zurufen, dass die Königin sie alle in den Abgrund reißen konnte – aber er tat es nicht. Die Iderraner waren schon lange nicht mehr sein Volk, sie waren es nie gewesen.
Tsagi beugte sich zu ihrem Sohn und wisperte ihm etwas zu, während Pujabaat unbeachtet neben ihrem Thron stehen geblieben war. Es überraschte Cherew, dass er von der Krönung tatsächlich nicht das Geringste mitbekommen zu haben schien. Er hatte angenommen, dass – so klein die Zeremonie gestern auch gewesen war – mindestens ein kerajaanischer Spion darunter gewesen war.
„Hiermit bestätigen wir jenes Urteil, das die Königinmutter bereits verkündigte“, erklärte der Junge mit erstaunlich lauter Stimme.
Dennoch wirkte er etwas verunsichert, als zwei Soldaten zu dem noch immer knienden Garek traten und ihn hochzerrten.
Auf ein Zeichen von Tsagi trat Daysan vor, zog seinen Krummsäbel und mit Schwung traf die Klinge durch Sehnen und Fleisch. Der Körper fiel nach vorne, nur der Kopf rollte noch ein paar Schritte, bis er vor der untersten Stufe des Throns zu liegen kam.
„Ein Geschenk, Hoheit“, meinte Nasiyses Bruder und neigte den Kopf, „mögen noch viele weitere folgen, auf dass Verrat nicht länger einen Platz in Iderras Hallen finden.“
„So sei es“, antwortete Ishkan und seine Hände umklammerten die Lehnen des Thrones.
Cherew beobachtete wieder Pujabaat. Was würde er nun tun, wo sie ihn so eindeutig ausgespielt hatte? Er wusste, dass Armbrustschützen zwischen der Menge und auf den Balustraden verborgen waren, bereit, um einzugreifen. Die Königin würde sich nie wieder in eine solche verletzliche Situation wie beim Bankett begeben.
„Wollen wir uns nun also einem weitaus größerem Verrat zuwenden.“ Scheinbar gelassen hatte Tsagi sich in ihrem Thron zurückgelehnt. „Wo Ihr Euch doch als ein so guter Ratgeber erwiesen habt, Pujabaat von Kerajaan, helft mir doch auch nun weiter. Welche Strafe erwartet einen Mann, der als Botschafter in ein Land kommt, um den dortigen König mit seiner Familie zu ermorden? Oh, ich weiß schon, was Ihr sagen werdet. Und es stimmt, gewiss unterliegt Ihr der Immunität alter Verträge, die wir einst schlossen. Doch ich bin mir auch gewiss, dass in Zukunft nicht Verträge das Verhältnis unserer beiden Völker prägen werden.“
Cherew konnte nicht anders als Pujabaats stoische Mine zu bewundern, als er mit diesen Vorwürfen konfrontiert wurde. Er rührte sich nicht, starrte sie für einen Moment nur an, bevor er sagte: „Sicherlich werdet Ihr diese Vorwürfe auch in einem Gerichtsprozess benennen, den ich wegen Verleumdung anstrengen werde?“ Wie konnte seine Stimme nur so sanft klingen? Als spräche ein Vater mit seinem Kind, das auf den falschen Weg geraten war. Nur dass dieser Vater hinter dem Rücken ein Messer verbarg.
Doch in Tsagi hatte er ein widerspenstiges Kind gefunden, das sich der Rolle, die er ihr zugedacht hatte, nicht ergab, sondern ihren Vater gewissenlos fortstieß – in der Hoffnung, das er in eine Schlangengrube fiel. „Gewiss“, erwiderte sie ruhig, „denn das Blut meines Mannes und die Schreie meiner getöteten Söhne sind meine Zeugen. Doch bis dahin seid Ihr und Eure Begleiter in unserem Reich unwillkommen, so spreche ich Tsagi Ellay, und rufe laut: Hinfort, hinfort, Verräter an Volk, Land und Blut.“
„Verräter an Volk, Land und Blut“, echote die Menge.
„Königinregentin, so so“, meinte Pujabaat leise, der den neuen Titel, den Tsagi trug, natürlich bemerkt hatte. Ishkan mochte König sein, doch es würde Tsagi Ellay sein, die in Zukunft die Macht in Iderra in den Händen halten würde.
Und nun hatte Tsagi Ellay sich entschieden, den Mörder ihres Mannes und ihrer Söhne gehen zu lassen. Auch sie schien trotz allem keinen sofortigen Krieg mit Kerajaan riskieren wollen, indem sie deren Botschafter hinrichtete.
Noch auf den Stufen zwischen den Zwölf Hohen Familien blieb er stehen und drehte sich zu der Königin um.
„Behängt Ihr neuerdings in Iderra auch Diebe mit Orden?“, fragte er spöttisch, als ob all das nur ein Spiel über ein paar Puppen und nicht über Tausende von Menschen wäre, „oder hat die ehrwürdige Schedela von Callinger mit ihren vielen Titeln nicht erwähnt, dass der Mann, der hinter ihr steht, mein Sklave ist, den ich nun für mich verlange?“
Plötzlich begann Cherews Herz wieder wild zu pochen und er starrte auf Schedelas Hinterkopf, in deren kunstvoller Frisur sich Bernsteine wie Blutstropfen verfingen. Er war sich sicher, dass sie ihn aufgeben würde, wie sie ihn auch bereitwillig ins Gefängnis geschickt hatte. Nie schien er sich einer Sache sicherer gewesen zu sein.
Doch es war Tsagi, die an ihrer statt antwortete: „In Iderra gibt es keine Sklaven. Ein freier Mann kann selbst entscheiden, wem er dient.“
Lächelnd verneigte Pujabaat sich. Wie vermochte er es nur, dass selbst in diesen Bewegungen so viel Spott und Abneigung lagen?
Doch Tsagi beachtete ihn kaum, stattdessen stand sie auf, breitete die Arme aus und rief. „Und auch Iderra wird nicht länger eine Sklavin Kerajaans sein.“
„Wie Ihr wünscht“, erwiderte Pujabaat lächelnd und Cherew erstaunte selbst über den heftigen Hass, den er empfand.
Dann wandte er sich um und schritt unbehelligt den Gang hinab durch die Menge, die ihn mit Flüchen, Schimpfwörtern und Wurfgeschossen bedachte. Doch Tsagis Soldaten schützten ihn vor dem Zorn der Menge.
Heftig atmend stand sie noch immer auf den Stufen, die Hand in ihr Kleid verkrampft. Denn die Wahrheit war, dass sie eine Sklavin blieb. Sklavin der politischen Bedürfnisse und Interessen ihres Landes, die ihr eine sofortige Rache am Mörder ihres Mannes und ihrer Söhne verbaten.
„Und so proklamiere ich die iderranische Unabhängigkeit“, rief sie ihm nach, als ob die Worte eine Waffe wären, die sie der kerajaanischen Macht, welche sich in Pujabaat vereinte, hinterherschleuderte.
Die Menge jubilierte.
Doch fanatischer Jubel würde kaum genügen, um die iderranische Unabhängigkeit gegenüber Kerajaan zu verteidigen.
Niemals.
Stunden später lehnte Cherew lächelnd im Türrahmen und beobachtete, wie Lean leise summend ihre Sachen packte. Zwar bemerkte die junge Dienerin ihn nicht, dafür aber die Hündin, die sich zuvor noch auf dem Boden zusammengerollt hatte. Schwanzwedelnd lief sie ihm entgegen und sprang seine Beine hoch. Cherew erbarmte sich ihrer und begann, ihr den Rücken zu kraulen. Glücklich leckte das Tier ihm die Finger ab.
Mittlerweile hatte auch Lean sich umdreht. „Cherew lächelt, oh, welch ein Wunder“, grinste sie, bevor sie auf ihn zusprang und ihm überschwänglich um den Hals fiel.
„Die Königin hat mich in ihren persönlichen Dienst genommen“, brach es aus ihr hervor, nachdem sie sich von ihm gelöst hatte. „Ich darf ihr selbst aufwarten, ist das nicht zu glauben.“
Juchzend drehte sie sich im Kreis, sodass ihr Rock um ihre Beine flog.
„Das freut mich sehr für dich“, antwortete Cherew ehrlich, der die Unterstützung, welche Lean ihm so selbstverständlich gewährt hatte, der Königin gegenüber natürlich erwähnt hatte. Er hatte die junge Iderranerin mit ihrer Lebensfreude in sein Herz geschlossen. Und manchmal hatte er gar das Gefühl, dass ihre Unbekümmertheit die Schatten auf seiner Seele zumindest für den Moment fortwischte.
„Jetzt bin ich näher an der Königin als Niskon!“, berichtete sie aufgeregt, „oh, seine Mutter wird sich ärgern, dass sie ihm eine Bürgerstochter angedreht hat.“
Besorgt griff Cherew nach ihrem Arm, selbst erstaunt darüber, dass er sich um sie und ihre Zukunft sorgte. „Hör zu, Lean“, meinte er, „du brauchst ihn nicht. Geh deinen eigenen Weg und lass dich ja nicht von ihm schwängern.“
Sanft strich sie über seine Hand. „Keine Sorge, ich pass auf mich auf und Niskon soll seine hässliche Bürgertochter heiraten.“ Sie ging zurück zu ihrer Tasche, die noch auf dem Boden stand. Es war nicht viel, was dort hineinpasste. „Und du tust dasselbe.“ Langsam wandte sie sich zu ihm um, die Augenbrauen fragend erhoben. „Denn du bist doch gekommen, dich zu verabschieden?“
„In ein paar Tagen werden wir aufbrechen“, stimmte er zu.
„Dann wirst du mir und Lisayh also noch eine Geschichte erzählen?“
„Lisayh?“, fragte er verblüfft.
Sie verdrehte die Augen. „Da du sie nicht benannt hast, musste ich das wohl tun. Außerdem musste ich doch verhindern, dass sie einen so merkwürdigen Namen bekommt.“
Lisayh. Cherews Zunge ertastete den Namen, sprach ihn vorsichtig aus und empfand ihn als gut.
„Und was bedeutet er?“
„Es ist eine Kakteen-Art.“
„Du hast den Hund nach einem Kaktus benannt?“ Ungläubig starrte er sie an. Und sie machte sich über die merkwürdigen Namensbenennungen in Callinger lustig? Gut, da gab es auch keine Kakteen, aber dennoch ...
„In Erinnerung an seinen Beschützer“, antwortete sie lächelnd, „der sehr stachelig ist, wenn man ihm zu nah kommen will, scheinbar überall überlebt und doch viele Schätze in seinem Inneren verbirgt.“
Sie vermochte es doch immer wieder, ihn zu erstaunen. „Wie lange hast du gebraucht, um diese Namensgebung so philosophisch klingen zu lassen?“
„Kürzer als du brauchst, um mit einer Geschichte zu beginnen“, grummelte sie und setzte sich auf die dünne Matte, die ihr als Bettstatt diente.
Cherew ergab sich seinem Schicksal, setzte sich ihr gegenüber und hob Lisayh auf seinen Schoß.
Dann begann er, zu erzählen. Von den schillernden Libellen, welche über den Wassern seiner Heimat schwebten, dem Geruch der Torffeuer bei Nacht, Seerosen und Wasserlinsen, uralten Erlen, die in seiner Kindheit bis zum Himmel zu reichen schienen, dem Zirpen der Vögel und einem kleinen Jungen, für den all das einst ein Wunder gewesen war.