Kemuliaan, 3. Denia des Segments Keempat, der 11. Tag nach Loteped
»Hast du keinen Hunger?« Cherews Sitznachbar stieß ihm seinen Ellenbogen in die Seite.
Cherew, dessen Fokus auf der großen Flügeltür am anderen Ende des Innenhofes gelegen hatte, zuckte zusammen.
Etwas verständnislos starrte er zu dem Kerajaaner, der soeben von einer Lammkeule abbiss. Dunkler Saft rann dem Mann über das gebräunte Kinn.
Mit fettigen Fingern deutete der Mann auf die Schüsseln und Teller, die vor ihnen auf der Tafel standen.
Cherew, dessen Magen in diesem Moment hörbar knurrte, schüttelte den Kopf. »Mein Herr kann jeden Augenblick wiederkommen.«
»Bah.« Der Mann legte die Keule auf seinem Teller ab. »Das dauert noch Ewigkeiten, Jungchen.«
Amüsiert bemerkte Cherew, dass er fast doppelt so alt wie der andere Leibwächter war. Aber für die hier versammelten Soldaten war er dennoch fremd, neu und unerfahren. Es war erstaunlich, wie unterschiedlich sie sich gebärdeten, wo sie doch alle ein Ziel teilten: Ihre Herren zu schützen. Die meisten schienen sich gegenseitig zu kennen und so war Cherew, der Pujabaat zu diesem Gastmahl im Kaiserpalast begleitet hatte, mit Misstrauen begegnet worden. Auch Pujabaats übrige Leibwächter hatten ihn nicht weiter beachtet. Cherew störte dies nicht sonderlich. Er würde seine Aufgabe erfüllen, mehr nicht.
»Bis sie die richtigen Formulierungen gefunden und die Rituale durchgeführt haben, dauert es. Genug Zeit, um in Ruhe zu essen.« Wieder griff er nach seiner Keule. »Vertraue mir. So gutes Essen kriegst du lange nicht wieder.« Genüsslich biss er ab.
Er hatte recht. Das Essen war gut, auch wenn Cherew nur sporadisch aß. Und wenn dies nur das Essen war, was man den Leibwächtern der Geladenen vorsetzte, wie musste dann erst in der kaiserlichen Halle aufgetragen werden? Aber als Kaiser der bedeutendsten Macht des Kontinents konnte man sich dies wohl leisten.
Wieder blickte Cherew, der sich an seine Probe erinnert fühlte, zu der Doppeltür, durch die sie auf den Innenhof geführt worden waren. Hätte er darauf beharren sollen, mit seinem Herrn zu gehen? Die Sammlung aller Leibwachen der Geladenen würde den Weg für einen Anschlag bereiten. Sollte die Halle gestürmt werden, so würde selbst Cherew nicht eingreifen können.
Eine mächtige Hand drosch auf Cherews Schulter. »Jetzt entspann dich doch. Der Botschafter steht unter dem persönlichen Schutz des Kaisers, dem geschieht nichts.«
»Der Botschafter?« Cherew horchte auf.
Sein Gegenüber verdrehte die Augen. »Kriegst du denn gar nichts mit? Wie bist du nur Leibwächter eines der wichtigsten Männer Kerajaans geworden?«
Aufgrund einer Herkunft, die ich nicht besitze, dachte Cherew, sprach es jedoch nicht aus.
»Er ist also ein Botschafter«, führte er stattdessen das Gespräch fort.
Knurrend griff der Mann nach einer Olive und schob sie sich in den Mund, bevor er weitersprach: »In dieser Zeremonie wird der edle Pujabaat zum Botschafter des Kaiserreichs ernannt und nach Iderra geschickt werden.«
Deshalb also! Nun führten die Fäden zueinander und Cherew verstand, weshalb es nach Iderra ging. Aber wofür brauchte Pujabaat einen Einheimischen? Dem Botschafter würden sicherlich Führer durch die dortigen Eliten zur Verfügung gestellt werden, oder?
»Die haben auch einige Botschaften nötig, die Iderraner.« Kichernd griff der Mann nach einer weiteren Olive und warf sie über den Tisch hinweg nach einem Soldaten, der mit dem Rücken zu ihm saß. Treffer. Der Getroffene blickte sich um, aber Cherews verrückter Gesprächspartner widmete sich wieder ungerührt seinem Essen.
»So, wie der da.« Bevor er eine weitere Olive werfen konnte, packte Cherew ihn am Arm. »Was ist mit Iderra?«
Der Mann musterte ihn. »Oh, der Kerl taugt doch etwas zum Leibwächter, selbst wenn es um die Kerne von sauren Früchten geht. Wie heißt du?«
»Cherew.«
Sein Gesprächspartner legte den Kopf schief. »Aus dem Osten? Vielleicht sogar von der Grenze zu Erin? Man siehst`s dir an.«
Er nickte. »Iderra.« Es war erstaunlich, wie gut manche Personen Dinge erkennen konnten, von denen sie glaubten, dass sie der Wahrheit entsprachen. Mittlerweile war Cherew davon überzeugt, dass die Gesprächsfreude seines Gegenübers nicht ohne Hintergründe kam. Ein Zufall war es gewiss nicht. Cherew war nicht aus Iderra. Man dürfte es ihm nicht ansehen können. Aber auch er konnte dieses Gespräch für sich nutzen.
»Ich aus dem Westen. Verfluchte Lerin. Wird Zeit, dass wir ihnen meine Heimat wieder abnehmen.« Cherew seufzte. Die ganze Politik war ihm schon immer zu komplex gewesen. Er war es bereits damals leid gewesen, eine Figur in den Händen der Mächtigen zu sein. Nur leider hatte er es damals zu spät erkannt. Als er auf den Kontinent gekommen war, hatte er sich geschworen, die Politik hinter sich zu lassen. Wie ironisch, dass er jetzt durch den Dienst an Pujabaat erneut in dieses grausame Spiel hineingezogen wurde.
Für einen Moment starrte der Mann ins Leere. Immerhin seine Trauer um die verlorene Heimat schien echt zu sein. Auf einmal zuckte er zusammen. »Naaret ist mein Name. Ah ja, Iderra. Was willst du, dass ich dir über deine Heimat erzähle? Du kennst dich gewiss besser aus.«
»Es ist lange her, dass ich zuletzt dort war. Ein Sklave sucht sich nicht aus, wohin der Weg seines Lebens führt«, log Cherew. »Ich habe seitdem wenig gehört.«
Naaret schnaubte. »Besser ist das. Die Iderraner sind verfluchte Rebellen. Niemand spricht es aus und sie sind ein Teil des Reiches, aber sie gebärden sich als eigenständig und unabhängig, ist das zu glauben? Mittlerweile sollen sie sogar ihre eigenen Münzen prägen!«
Nachdenklich rieb Cherew eine Olive zwischen seinen Fingern hin und her. Bald waren seine Finger klebrig von ihrem Saft. Das bedeutete, dass es gefährlich für Pujabaat werden würde. Sicherlich würden sich die Einheimischen kaum freuen, wenn ihnen ein kaiserlicher Beobachter vor die Nase gesetzt wurde. Und er? Was würde sich ändern, sobald er in Iderra war? Blieb er Pujabaat dann verpflichtet? Er würde nicht nach Kemuliaan zurückkehren, so viel stand fest. Iderra war das Ziel, was er anstrebte. Dort würde Cherew bleiben, Pujabaat hin oder her.
»Wird es zum Krieg kommen?«
Der andere kicherte. »Wenn deine Landsleute klug sind, lassen sie es nicht so weit kommen. Aber ich bezweifle, dass sie um ihre Meinung gefragt werden.«
Wieder blickte Cherew zu der Tür, hinter welcher der Kaiser einen Botschafter entsandte. Sicherlich hatte es einen Grund, dass dies ausgerechnet jetzt geschah. »Die Mächtigen bestimmen die Politik.«
»Oh ja. Und die Iderraner tun gut daran, sich das zu merken. Ich hoffe, dass der Botschafter für Ruhe dort sorgt. Diese Wüstenmaden müssen lernen, dass sie sich uns nicht so leicht widersetzen können.« Naaret hob seinen Krug an den Mund und trank in großen Schlucken. Mit einem lauten Krachen stellte er ihn wieder ab. Erneut schüttelte er ungläubig den Kopf. »Was für eine Ehre, man! Du hast ein Glück! Mein Herr zieht bloß von einem Gastmahl zum nächsten und betrinkt sich.«
Cherew war sich nie privilegiert vorgekommen. Die Kerajaaner waren ihm suspekt. Der Mann neben ihm war ein Sklave. Dies schien ihn jedoch weitaus weniger zu stören, als die Tatsache, dass ein anderer eine höhere Stellung als er selbst einnahm.
»Also.« Naaret beugte sich zu ihm. »Stimmt es, was man sich über die Frau des Botschafters erzählt? Steigt sie mit dem Halbbruder des Kaisers ins Bett?«
Angewidert und überrascht zugleich starrte Cherew ihn an. »Gewiss nicht«, protestierte er, obgleich er keine Ahnung hatte. Dass die Kerajaaner auch an nichts anderes denken konnten als an Kriege und Skandale.
»So?« Er runzelte die Stirn. »Beim letzten Ball plauderten sie sehr angeregt nebeneinander.«
Konnte das sein? Wusste Pujabaat von den Gerüchten? Und wieso tat er nichts dagegen? Wieder einmal musste Cherew sich vergegenwärtigen, dass er in einer völlig anderen Kultur aufgewachsen war. Vielleicht störte es die Kerajaaner auch nicht.
»Ich bin der Leibwächter des Botschafters. Ich schütze meinen Herrn und seine Geheimnisse«, erklärte Cherew leise und beharrlich.
Der Mann griff wieder nach seiner auffällig lange unbeachtet gebliebenen Lammkeule. Mittlerweile musste sie erkaltet sein. »Wie du meinst.« Er biss ab. Von seiner Freundlichkeit war auf einmal wenig zu spüren. Anscheinend hatte er verstanden, dass Cherew ihm keine Geheimnisse verraten würde. Dass er aufgegeben hatte, glaubte er indes nicht. Cherew würde sich in Hut nehmen, wer seine Gespräche belauschte.
Er zuckte mit den Schultern und widmete sich wieder dem Beobachten der Tür. So lange konnte die Feier ja nicht mehr dauern, oder?
Immerhin in diesem Punkt hatte Naaret recht behalten: Es dauerte lange. Cherews früher Gesprächspartner hatte ihn längst verlassen und sich zu einer anderen Gruppe gesetzt, die sich angeregt unterhielt. Cherew saß alleine da. Selbst Pujabaats andere Wachen beachteten ihn nicht weiter. Es störte ihn nicht.
Schließlich öffneten sich die Türen und jemand, dessen Gesicht Cherew nicht sehen konnte, erklärte, dass die Zeremonie beendet war. Sofort sprang Cherew auf. Andere taten es ihm nach. Bänke wurden gerückt, Gespräche verstummten, Uniformen wurden geglättet und die Soldaten der verschiedenen Herren traten in Gruppen zusammen. Cherew schloss sich den elf anderen Wachen an, welche Pujabaat ausgewählt hatte. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihre Namen zu lernen. Angeführt wurden sie von Tentarnet. Jene Eleganz und Perfektion, welche die Wachen beim Gastmahl abgelegt hatten, trat nun wieder zutage, als sie ordentlich und gesittet durch die Tür schritten. Es ging einen langen Gang entlang, bis sie die Vorhalle des Thronsaals erreichten, in der eine große Anzahl kaiserlicher Wachen ihren Dienst versah. Soeben öffneten sich die gewaltigen Flügeltüren. Zwei kaiserliche Standartenträger nahmen links und rechts der Flügeltüren Aufstellung. Es folgten sechs Trommler, weitere kaiserliche Wächter und schließlich die Gäste. Zwei Mitglieder der Kaiserfamilie – vielleicht Halbbrüder des Kaisers – machten den Beginn, kurz hinter ihnen kam Pujabaat. Er trug einen neuen Umhang mit dem Wappen des Kaiserhauses und blickte starr geradeaus. Als Soldaten der Kaiserwache herantraten und einen Geleitschutz für die Verwandten ihres Herrn bildeten, taten Cherew und seine Begleiter ihnen dies nach und umgaben Pujabaat schützend. Hinter ihnen folgte eine große Anzahl an Adeligen.
Die Halle schien Cherew ewig lang zu sein. Und draußen, das wusste er, wartete noch gewöhnliches Volk. Zur Feier des Tages hatte der Kaiser die Grenzen von Ober- und Unterstadt geöffnet und auch ein Fest für das Volk ausgerichtet. Wohl um die Proteste, die wie Pelayan ihm berichtet hatte, im Bürgertum momentan herrschten, zu entkräften und das Ausbrechen von Aufständen zu verhindern. Den Lärm des Festes hatte man bis in den Innenhof vernommen. Ein Lärm, der, wie Cherew nun sah, von Hunderten verursacht worden war. Zu viele. Im Vergleich dazu schienen es nur wenige Soldaten zu sein. Besorgt blickte Cherew sich um, als sie die Treppen hinabstiegen. Soldaten der Kaiserwache teilten die Menge für sie und bildeten eine Gasse. Mehrere Ausrufer gingen voran und verkündeten die Ernennung Pujabaats. Laut jubelte und jauchzte die Menge. Kinder wurden auf die Schultern ihrer Eltern gehoben, Frauen warfen Blumen über die Köpfe der Soldaten hinweg, die den Boden zu Cherews Füßen bedeckten. Hochrufe auf den Kaiser und den Botschafter erklangen. Aber nicht nur diese. Cherew vernahm auch Schmährufe, kritische Äußerungen und Fäuste, die geschüttelt wurden.
Cherew eilte neben seinen Herrn. »Wollt Ihr eine Sänfte rufen, Herr?« Tentarnet, der an Pujabaats anderer Seite schritt, warf ihm einen scharfen Blick zu. Vermutlich hatte Cherew irgendwelche Richtlinien und Kompetenzen überschritten.
Pujabaat schien dies wenig zu interessieren. »Ich bezweifle, dass diese durchkommen würde«, gab er zu bedenken. »Erfüll deine Aufgabe, Soldat.«
Cherew nickte, blieb jedoch an der Seite des neu ernannten Botschafters. Die Hand hatte er wachsam auf seine Waffe gelegt.
Das leise Sirren war inmitten der Rufe kaum zu vernehmen. Instinktiv warf Cherew sich nach rechts und gegen Pujabaat. Der Kerajaaner stolperte und fiel zu Boden. Etwas bohrte sich in den Sand. Cherew wandte den Kopf. Ein Pfeil. Pujabaat rappelte sich auf. Ihm schien nichts geschehen zu sein.
»Wo ist der Schütze?«, schrie Cherew. Er hob den Blick. Der Pfeil war schräg von oben Links gekommen. Der Schütze musste sich auf einem der Flachdächer befunden haben. Die Leibwache Pujabaats war gut ausgebildet. Nach einem raschen Befehls Tenternets hatte sich auf der linken Seite eine unnachgiebige Wand von Soldatenleibern gebildet. Aber wenn er ein Attentäter wäre … Prüfend blickte Cherew nach rechts.
»Runter!« Dieses Mal war es Pujabaat selbst, der sich zu Boden warf. Etwas sirrte über ihn hinweg. Für einen Moment war sich Cherew nicht sicher, ob sein Herr unverletzt geblieben war. Doch dann umfasste eine der Leibwachen hinter ihm die Kehle, derweil ein einzelner Blutstropfen über die bronzene Haut rann. Ein kleiner Pfeil hatte ihn getroffen. Winzig. Schaum bildete sich um seinen Mund. Röchelnd sank er zusammen.
Aber nun war Cherew sich sicher, den Schützen gesehen zu haben. Am Rande der Menge. Eine schmale kleine Gestalt mit einem weiten Umhang, die nun in der Menge verschwand. »Beschützt euren Herrn«, rief er den anderen zu, dann warf er sich herum und begab sich an die Verfolgung.
Die Soldaten des Kaisers ließen ihn durch, ebenso wie große Teile der Menge, die panisch vor ihm zurückwichen. Schreie gellten. Panik breitete sich aus. Und Cherew wurde ruhig. Hier inmitten des Chaos fühlte er sich wohl, hier besaß alles eine Einfachheit, die nicht aus Fragen, sondern nur aus Taten bestand. Das verstand er. Seine Füße trommelten über den Boden, seine Hände stießen Personen beiseite, die nicht schnell genug auswichen, seine Augen folgten dem Attentäter, der sich vor ihm seinen Weg durch die Menge suchte. Niemand hielt ihn auf. Die Panik hielt sie davon ab.
»Weg da!« Cherew schlug einen Haken, um einem kleinen Mädchen auszuweichen, das plärrend vor ihm stand. Er beschleunigte seinen Lauf. Schweiß sammelte sich in seinem Nacken an. Sein Bein schmerzte. Er ignorierte es.
Sie erreichten den Rand der Menge, die sich dort aufzulösen begann und sich in die umliegenden Gassen und Straßen ergoss. Der Attentäter bog um eine Ecke.
»Du entwischst mir nicht!« Keuchend folgte Cherew dem Attentäter. Niemand konnte so dreist sein, am helllichten Tag ein Attentat zu begehen, und glauben, damit durchzukommen. Etwas wurde umgestoßen und als Cherew um eine weitere Ecke bog, musste er umgeworfenen Kisten ausweichen. Er beschleunigte seine Schritte. Der Attentäter keuchte. Die jungenhafte Gestalt wurde langsamer. Sie lief nun direkt vor ihm.
Cherew erwischte den Mantel des Attentäters. Stoff riss, aber sein Lauf wurde verlangsamt. Mit einem raschen Sprung erreichte er ihn ganz. Er schlug nach ihm, drängte ihn zur Seite und gegen die Hauswand. Ein spitzer Schrei ertönte und er wand sich in seiner Umklammerung hin und her. Ein plötzlich auftretender Schmerz lenkte Cherew ab. Er hatte das kleine Messer in der Hand des Gegners übersehen. Den Gedanken selbst eine Waffe zu ziehen, verwarf er. Dafür blieb keine Zeit. Die Gelegenheit zur Flucht gab er dem Attentäter dennoch nicht. Mit dem Ellenbogen stieß er nach seiner Kehle und würgte ihm die Luft ab. Rasch bewegte er sich zur Seite, um einem weiteren Messerangriff auszuweichen. Die Klinge streifte seine Hüfte. Cherew hob den freien, linken Arm und schlug ihm die Waffe aus der Hand, auch wenn die Schneide ihm dabei in die Hand schnitt. Blut rann über seinen Arm. Ein Fuß trat nach ihm, aber die Bewegungen wurden langsamer, unkontrollierter. Cherew presste seine Hand gegen die Brust des Jungen, wobei die Rundungen, die er dabei ertaste, ihn stutzig werden ließen. Er lockerte den Griff um die Kehle des Attentäters und riss ihm die Kapuze vom Kopf. Es war ein Mädchen, das keuchend nach Luft schnappte. Rote Muster und Tattoos zeichneten ihre dunkle Haut, sodass er das Sklavenmal nicht sogleich erkannte. Eine Merinaar.
»Weißt du, wen du da töten wolltest, Sklavin?«, fragte er.
Hasserfüllt starrte sie ihn an. Als sie sich gegen seinen Griff stemmte, erhöhte er den Druck gegen ihre Kehle. Keuchend hielt sie inne. Er lockerte seinen Griff wieder.
»Den Mann, der mich versklaven, meine Mutter und Schwestern vergewaltigen und meinen Vater und meine Brüder ermorden ließ«, zischte sie mit einem starken Akzent gegen den Druck an ihrer Kehle an.
»Pujabaat ist sein Name«, erwiderte Cherew leise. Wie kam ein Sklavenmädchen dazu, einen der mächtigsten Männer Kemuliaans töten zu wollen? Rache war ein Motiv, ja. Doch der zweite Attentäter, der Bogenschütze von den Dächern, verriet Cherew, dass sie Teil von etwas Größeren sein musste. Jemand hatte ihren Rachedurst genutzt. Aber wer?
Er begann, sie zu durchsuchen. In einer Innentasche ihres Umhangs fand er ein Blasrohr. Damit musste sie auf Pujabaat geschossen haben.
»Für wen arbeitest du? Wer gab den Auftrag, den Botschafter zu ermorden?« Sie wand sich unter seinem Griff und plötzlich waren ihre Hände da, die in sein Gesicht und nach seinen Augäpfeln stießen. Cherew warf den Kopf nach hinten, sodass sie ihn nicht erreichen konnte, krallte seine linke Hand in ihre Kleidung und die rechte gegen ihren Oberkörper. Sie rangen. Irgendwo über ihnen schrie ein Kind. Auf einmal hatte sie einen Hausgötzen in der Hand, der in einer Nische gestanden haben musste. Die kleine Statue aus gebranntem Ton warf sie nach ihm. Cherew wich aus. Sie zerplatzte hinter ihm. Scherben klirrten. Sie trat gegen seine Hüfte. Cherew stöhnte auf und warf sich gegen sie. Ihm gelang es, sie zu greifen und sie zu Boden zu ringen.
»Du entkommst nicht.« Er lag auf ihr, mit den Beinen umfasste er ihren Unterkörper und hielt die zappelnden Beine still. Ihre Arme schlugen nach ihm, doch er konnte diese packen.
»Wer gab den Befehl?«, wiederholte er nahe an ihrem Ohr. Er konnte sehen, dass ihr Tränen über die staubigen Wangen rannen. Eigentlich war sie nur ein Kind. Neun Segmentjahre? Zehn?
»Wer, Mädchen?« Sie erzitterte. Er konnte ihre schmalen Unterarme mit seiner linken Hand umfassen, mit der Rechten löste er die dicke Kordel, welche ein Teil seiner Uniform war. Sie wehrte sich nur noch schwach, als er ihr die Hände band und sie hochzerrte.
»Wer?« Er drängte ihre schmalen Schultern gegen die Hauswand. Ein weiterer Götze prallte zu Boden. Sie erzitterte. Dann hob sie den Blick.
»Es ist meine Rache.«
Cherew schnaubte. »Es ist leichter, wenn du die Wahrheit jetzt sagst, Mädchen«, meinte er sanft.
Sie verkniff das Gesicht. Eine Menge alter und neuer Schürfwunden verunstaltete es. Sie trug viele Narben, schon jetzt.
»Wie du willst.« Er zerrte sie mit sich, folgte dem Weg, den sie zuvor gerannt waren. Immer noch befürchtete er, dass sie fliehen würde, doch schien sie sich ihrem Schicksal ergeben zu haben. Personen kamen ihnen entgegen, aber sie senkten nur stumm die Köpfe und wichen aus. Keiner von ihnen wollte mit dem, was geschehen war, etwas zu tun haben. Keiner wollte verdächtigt werden. Natürlich. Sie alle wussten von nichts. Endlich erreichten sie den offenen Platz vor dem Palast, wo sich die Präsenz von Soldaten erkennbar erhöht hatten. Einwohner waren in Gruppen zusammengetrieben worden und wurden nicht gerade freundlich befragt. Zu seiner Erleichterung erkannte Cherew seinen Herrn, der in einer Gruppe von Soldaten, die sich aus seinen eigenen Wachen und denen der Kaiserwache zusammensetzte, befand. Gesandte des Kaisers waren ebenfalls dort. Einige Soldaten eilten Cherew entgegen, neigten anerkennend die Köpfe und begleiteten ihn bis zu Pujabaat.
Dieser hob den Kopf, sowie er ihn kommen sah und trat inmitten seiner Leibwachen hervor.
Cherew stieß das Mädchen zu Boden und hielt sie mit einem Griff an der Schulter fest. Umgeben von Bewaffneten würde sie sicherlich nicht wieder zu fliehen versuchen.
»Ich bringe Euch die Attentäterin, Herr.«
»Gute Arbeit, Soldat«, bemerkte Pujabaat, »du solltest deine Wunden versorgen lassen.«
Cherew, der den Schmerz zuvor mit zusammengebissenen Zähnen ertragen und sich ihn nicht hatte anmerken lassen, nickte. Er war sich sicher, dass es nur Fleischwunden waren, doch konnten auch hier Entzündungen zu schwerwiegenden Verletzungen führen.
»Hat sie noch etwas von weiteren Komplizen gesagt?« Pujabaat hatte ganz die Sprache eines Politikers angenommen.
»Nein, Herr«, verneinte Cherew die Frage, »vielleicht gelingt es uns noch, weiteres aus ihr herauszukriegen.« Er zögerte. »Verzeiht die Frage, doch was ist aus dem zweiten Schützen geworden?«
»Er konnte nicht gefasst werden«, antwortete der Botschafter. Er blickte auf das schmächtige Mädchen zu seinen Füßen. »Ich denke nicht, dass sie mehr weiß. Sie ist ein Straßenkind, eine Sklavin, die man angeheuert hat. Niemand würde ihr Informationen anvertrauen.«
Cherew nickte nur. Die Merinaar war völlig erstarrt. Sie rührte sich nicht mehr. Nur wenn er sich fokussierte, konnte er ihre schnellen Atemzüge hören.
Von ihr blickte Pujabaat wieder zu Cherew. »Töte sie.«
»Herr?«
Ungeduldig deutete der Kerajaaner auf das Mädchen. »Du hast mich verstanden, Soldat. Töte sie. Keine Attentäterin darf ungestraft davon kommen.«
»Wie Ihr befehlt, Herr.« Cherew zog das Mädchen auf die Füße. Jetzt wirkte sie so leicht, dass man sich kaum vorstellen konnte, wie heftig sie sich gewehrt hatte. Cherew griff nach dem Kurzschwert an seiner Seite. Den ganzen Kampf über hatte er es nicht genutzt, denn für einen Kampf in engen Gassen war es kaum eine geeignete Waffe. Für so etwas jedoch war sie gemacht.
»Steh aufrecht, Mädchen.« Er drehte sie so, dass sie mit dem Gesicht zu ihm sah. Mit der linken Hand hatte er sie an der Schulter gepackt, mit der rechten die Waffe gezogen. Ihre Tränen waren versiegt, aber er sah die Angst in ihren Augen, obwohl sie diese zu verbergen suchte. Es war eine Lüge, dass man mutig in den Tod schritt. Cherew hatte noch nie jemanden ohne Angst sterben sehen.
Er konnte ihr Zittern unter seiner Hand spüren. Aber wer einen Mann töten wollte, der musste auch damit rechnen, selbst zu sterben. Das war die Konsequenz. Sie hatte es gewusst.
Er zielte auf ihre Brust. Für gewöhnlich würde er immer auf den Bauchraum zielen, denn war bei der Brust das Risiko zu groß, das sich die Waffe zwischen den Rippen verfing. Dies konnte auf dem Schlachtfeld den Tod bedeuten. Hier jedoch hatte er genug Zeit, um ihr einen schmerzvollen Tod zu ersparen.
Er stieß zu. Ihr Körper erbebte, ein wenig Blut drang um die Wunde herum aus, dann sank sie zusammen. Cherew zog das Schwert aus dem Leichnam, spürte, wie es gegen die Rippen kratzte, dann wischte er dieses an ihrem Umhang ab und steckte es in die Scheide zurück. Kurz warf er einen Blick auf sie. Noch im Tod hatte ihr kleiner Körper sich zusammen gerollt. Das schwarz-rote Haar umkränzte ihr Gesicht, was sie jünger wirken ließ. Blind starrten ihre Augen hinauf zur Sonne, die hoch über ihnen am Himmel stand.
»Gut gemacht, Soldat.« Pujabaat war zu ihm getreten.
»Wir müssen herausfinden, wer dahinter steht, Herr. Wo ein Attentäter kommt, werden weitere folgen«, meinte Cherew leise. »Und nicht jeder wird so dumm sein, am helllichten Tag anzugreifen.«
Pujabaat stieß den Leichnam des Mädchens mit dem Fuß an.
»Sie war ein Opfer. Nun wird sie eine Märtyrerin sein für diejenigen, die nach ihr kommen.« Mit ihrem Zorn würde das Mädchen tatsächlich eine gute Märtyrerin abgeben.
»Und Ihr habt sie Ihnen gegeben.« Wiederum senkte Cherew die Stimme. Viele neugierige Augen beobachteten sie genau.
Der Hochadelige seufzte. »Zorn, Cherew, ist gut, wenn es der Richtige ist. Lieber kämpfe ich bald gegen Gegner, als lange zu warten, bis sie sich aus ihren Schatten hervorwagen, wo sie ihre Pläne geschmiedet haben. Er wird sie unvorsichtig machen. Sei bereit.«
»Immer.« Er hatte einen Schwur geschworen. Vor Iderra würde er diesen nicht brechen.
»Morgen werde ich aufbrechen in eine Stadt, in der mich nicht nur Sklaven ermorden wollen, sondern wo ich bis in die höchsten Gesellschaftsschichten als Gesandter des Bösen gelten werde. Dieses Mädchen wird nur eines von vielen sein.«
»Ich werde Euch beschützen«, versprach Cherew.
Pujabaat schenkte ihm einen merkwürdigen, etwas nachdenklichen Blick. »Für den Anfang wird es genügen.«
Für den Anfang … Cherews Blick streifte das junge Mädchen.
Wenn es hier begann, wo endete es dann?