Iderra, das Segment Ulaaruk, der zehnte Tag vor Relaneet
„Ihr seht großartig aus, Prinzessin“, meinte die Dienerin und knickste nervös vor ihr, bevor sie erneut hinter sie trat, um sich mit ihrer Frisur zu beschäftigen.
Schedela lächelte. Sie bezweifelte, dass die Dienerin ihre Worte ernst meinte. Man hatte ihr Zeichnungen von den Kleidern gezeigt, die Tsagi Anat und Tsems Frau Nasiyse jeweils bei ihrer Verlobung getragen hatten, und im Vergleich dazu war ihres schlicht. Am heutigen Tag hatte sie nach iderranischer Tradition ein Festkleid aus ihrer Heimat gewählt. Eine iderranische Schneiderin hatte es ihren Angaben und Zeichnungen gemäß angefertigt und so wirkte es auf sie richtig und falsch zugleich. Das Grün war tiefer und dunkler, als es in Callinger möglich gewesen wäre, wo man Waid und Reseda zum Färben verwendete. Hier nutze man vermutlich andere Mittel und Methoden, die anders und auch besser zu sein schienen. Auch das Leinen lag weicher und feiner auf der Haut, als sie es gewöhnt war – auch weil es unsinnig gewesen wäre, die dicke Kleidung Callingers in der Hitze Iderras zu tragen.
Nun bedauerte es Schedela, dass sie in all der Zeit so wenig über die Wirtschaft und Kultur des Landes gelernt hatte. Vielleicht würde sie irgendwann, wenn der Krieg mit ihrem Bruder beendet war, mit Handwerkern nach Iderra zurückkehren können, um neue Methoden zu erforschen.
„Vorsicht Prinzessin.“ Die Dienerin beugte sich vor und legte ihr das Stirnband mit den Schläfenringen aus Bernstein an. Bernsteine lagen auch um ihren Hals und waren in ihre Haare eingeflochten, das sich in Zöpfen über ihren Rücken ergoss. Goldene Tropfen auf rotbraun.
Der Schmuck war ihrer, sie hatte ihn mitgebracht, um ihn, falls benötigt, zu verkaufen. Jetzt hatte sie ihn angelegt, weil er einer Königstochter aus Callinger würdig war. Es war seltsam, ihn hier zu tragen. Heute, wo ihre Verlobung verkündigt werden würde.
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür.
„Es ist Jalldred, Herrin“, sagte Nirissod, einer ihrer callingischen Wachen, „er bittet um eine Audienz.“
Jalldred. Schedela schloss kurz die Augen. Was konnte er jetzt noch wollen? Glaubte er wirklich, dass sie ihn ausgerechnet heute empfangen würde?
„Er soll eine Botschaft dort lassen“, antwortete Schedela. Sie hatte weder die Kraft noch die Zeit, sich mit ihm und seiner Eifersucht zu beschäftigen.
„Verzeiht, Herrin.“ Nirissod klang nervös. „Aber er sagt, es sei wichtig. Er sagt, dass ein Cherew ihn schickt.“
Cherew? Hatte er wirklich Cherew gesagt?
„Lass ihn herein“, meinte sie, vollkommen verblüfft. Sie hatte nicht mehr an Cherew gedacht, ihren einstigen Mentor, seit ... sehr langer Zeit. Bedeutete es, dass Cherew hier in Iderra war? Merkwürdig. Sie hatte immer angenommen, dass er in den Diensten ihres Bruders verblieben war, vielleicht an einer weniger zentralen Position, sodass ihre Spione nie Neuigkeiten von ihm gebracht hatten. Als einen Ausbilder für junge Soldaten hätte sie sich ihn immer gut vorstellen können. Oder handelte es sich gar um jemand anderen?
Die Tür öffnete sich und Jalldred trat ein. Es genügte ein kurzer Moment, um zu wissen, dass sich nichts geändert hatte. Sein Blick ruhte zu lange auf ihrem Gesicht, ihrem Körper, der sich unter dem Kleid abzeichnete, dem Ansatz ihrer Brüste.
Wie sollte sie das nur durchstehen?
„Schedela“, sagte er nur, „du ...“
„Ihr habt gesagt, dass Cherew Euch schickt. Was wollt Ihr damit sagen?“, unterbrach sie ihn rasch.
Er starrte sie an, verletzt darüber, dass sie eine Mauer aus Höflichkeit und Etikette zwischen sie und ihre einstige Vertrautheit schob. Verstand er nicht, dass sie sich und ihre Pläne vor ihm schützen musste?
„Ja“, antwortete er, leiser als er zuvor gewesen war. „Er hat mich von einem Mordanschlag auf Euch gewarnt, Herrin. Er soll beim Bankett geschehen.“
„Ein Mordanschlag?“ Mit einem Nicken bedeutete Schedela, der Dienerin zu verschwinden, sodass sie und Jalldred allein zurückblieben.
„Ja, Herrin.“
Schedela stand von dem Stuhl vor dem Schminktisch auf und begann, im Raum umherzugehen. In Callinger hatte sie stets mit Anschlägen gerechnet, nicht von ihrem Bruder, aber von anderen politischen Feinden. Doch hier? Wer sollte sie denn töten wollen?
Andererseits war ihr bewusst, dass weder Cherew noch Jalldred leichtfertig Warnungen aussprechen würden.
„Wer?“, fragte sie angespannt.
Jalldred schüttelte den Kopf. „Das weiß ich nicht, Herrin. Er meinte, dass er ein Gespräch belauscht hat, doch die Männer nicht kannte. Allerdings wies er daraufhin, dass sie einflussreiche Verbindungen zu haben schienen.“
„Was genau hat er gesagt?“ Er wiederholte verwirrende Worte darüber, dass sie ermordet werden solle, um einen Krieg ausbrechen zu lassen.
„Hm“, machte sie. „Wie seid Ihr ihm begegnet? Cherew, meine ich.“
Er räusperte sich. „Verzeiht zunächst die Frage, Herrin, doch wer ist Cherew?“
Sie musste lächeln. Für gewöhnlich war Jalldred ein aufmerksamer Beobachter, doch er war Cherew nur selten begegnet und all das war lange her.
„Er war zunächst der Anführer der Leibwache meines Vaters, später der von meinem Bruder und mir. Ein Überbleibsel der Verträge mit den Iderri, nach dem immer einer der ihren für den obersten Schutz des Königs verantwortlich ist. Er hat mich vieles gelehrt. Ich frage mich, wie er nach Iderra gelangt ist.“
Er rieb sich die Stirn. „Dazu kann ich nichts sagen. Ich bin ihm zuerst vor anderthalb Wochen im iderrischen Viertel begegnet. Er schien nur ein älterer Sklave zu sein, dem ich ihm Kampf beistand. Pelayan nannte er sich. Als ich ihm dort das nächste Mal gesehen habe, hat er einen Mann im Tentikon getötet.“ Sie hörte Bewunderung in seiner Stimme. „Und nun ist er mir im Palast erneut über den Weg gelaufen.“
„Wie sah er aus?“
„Für sein Alter sehr gut. Er humpelte leicht und trug eine Uniform, nicht die der Palastwache, sondern wie die einer privaten Leibwache.“
„Ein Wappen?“
Jalldred lehnte sich gegen die Wand, schloss kurz die Augen und dachte nach. „Kerajaan“, meinte er schließlich, wenn auch zögernd. „Es könnte Kerajaan gewesen sein.“
Sollte Cherew wirklich dem kerajaanischen Botschafter verpflichtet sein? Es war gut möglich, dass er in diesem Umfeld ein Gespräch belauscht hatte. Und wenn er die Männer erkannt hatte und nur schwieg, um sie zu schützen? Etwa den Botschafter selbst? Nur weshalb sollte dieser sie töten wollen? Gewiss, ihre Verlobung mit Arraj bedeutete ein politisches Ärgernis, doch nicht mehr. Oder war es etwas ganz anderes?
Sie biss auf ihrer Unterlippe herum, wie immer, wenn sie angespannt nachdachte.
„Schedela?“, meinte Jalldred besorgt, „Ihr könnt nicht zum Gastmahl gehen. Ich kann Euch dort nicht schützen.“
„Versuch Cherew zu finden und bringe ihn zu mir“, befahl sie ihm, „dann verdoppelt Ihr meine Wachen für das Bankett.“
„Schedela ...“ Er machte einen Schritt auf sie zu, hob halb die Hand und ließ sie dann doch wieder sinken. „Ich will Euch nicht verlieren.“
„Geht Cherew suchen“, wiederholte sie ihren Befehl. Er warf ihr noch einen letzten Blick zu, dann ging er.
Erleichtert und beunruhigt zugleich wartete sie auf das Zufallen der Tür. Seine Gegenwart hemmte sie beim Denken, lenkte sie zu sehr ab.
Ein Krieg. Ihr Tod sollte also einen Krieg zwischen Iderra und Callinger entfachen. Es war eine lachhafte Vorstellung und eine Entwicklung, die sie nicht für möglich hielt. Nichtsdestotrotz änderte das wohl nichts an ihrer geplanten Ermordung.
Sie glaubte Cherew. Er hatte keinen Grund, Kontakt zu ihr aufzunehmen, wenn nicht, um sie aufgrund alter Sentimentalitäten zu warnen. Es gab Dinge, die sich nie ändern würden.
Außer ... Was wäre, wenn Cherew ein Agent ihres Bruders wäre, dessen Auftrag es war, ihre Verlobung zu sabotieren? Unwahrscheinlich. Woher sollte ihr Bruder von ihrem Plan wissen? Sie hatte ihn nur mit Jalldred geteilt. Vielleicht war ihm bewusst, dass sie sich in Iderra aufhielt, und dann würde er sicherlich Vermutungen darüber anstellen, dass sie neue Bündnisse suchte. Doch er hatte keinen Grund, eine Hochzeit zu verhindern, die sie ihren Anspruch auf den Thron kostete.
Nein. Sie wurde wohl zunehmend paranoid.
Was hatte er noch gleich gesagt?
Die Ermordung einer Prinzessin, um einen Krieg anzuzetteln. Letztendlich blieb sie ein Mittel zum Zweck. Das Ziel war und blieb eine Schwächung Iderras. Was bedeutete, dass sie den König warnen musste.
Doch sowohl vor den Gemächern des Königs als auch der der Königin wurde ihr der Einlass verweigert. Auch zu Arraj, seinem Bruder und dessen Frau ließ man sie nicht durch.
„Wir haben strikte Anweisungen, Prinzessin“, erwiderte der Hauptmann von Arrajs Leibwache auf ihre Einwände und lächelte sie nachsichtig an. „Für Euch ist sicherlich vieles ungewohnt hier, doch muss die Tradition gewahrt werden, damit die Verlobung nicht angezweifelt werden kann und kein Unglück auf Eure zukünftige Ehe herabkommt. Das versteht Ihr doch gewiss. Nach der offiziellen Verkündigung könnt Ihr mit ihm sprechen.“
„Und wenn ich ihm eine Nachricht schreibe?“
Wiederum schüttelte er leicht den Kopf, das Lächeln immer noch auf den Lippen, als ob ein Vater seinem Kind wieder und wieder erklären würde, warum es rechtzeitig ins Bett müsse.
„Die Tradition verbietet jegliche Kontaktaufnahme, Prinzessin.“
Sie packte ihn am Arm und die Nachsicht in seinem Gesicht wich Ungeduld.
„Beschützt ihn gut“, beschwor sie ihn.
„Gewiss, Prinzessin“, erwiderte er. „Wie ein jeder erfüllen auch wir unsere Pflicht.“
Sie verstand, dass das eine leise Kritik an ihrem Verhalten war, doch war sie nicht bereit, Rücksicht auf ihn und seine kulturellen Empfindungen zu nehmen.
Dennoch wusste sie nicht, wie sie ihn hätte überzeugen können und so wandte sie sich ab und kehrte zu ihren Gemächern zurück.
Jalldred war nicht zu sehen, doch Nirissod erwartete sie bereits.
„Der Botschafter ist in seinen Gemächern, Herrin“, berichtete er, „nach allem, was ich gehört habe, plant er tatsächlich, morgen abzureisen. Doch habe ich weiter nichts gehört, was misstrauisch machen würde. Allerdings scheint er sich über Euch umgehört zu haben.“
Das war jedoch nichts, was sie überraschen konnte. Wenn Pujabaat sich nicht über die Verlobte des Thronerben erkundigte, machte er schlechte Arbeit.
„Höre dich weiter um“, bat sie ihn und widmete sich erneut diesen ewigen Gedankenkreisläufen, aus denen sie keine klare Antwort erhielt.
Jalldred kehrte erst eine halbe Stunde vor dem Beginn des Banketts zu ihr zurück. Bereits als er eintrat, lag seine Hand auf dem Schwert an seiner Seite und er wirkte nicht, als ob er es jemals wieder loslassen wollte.
„Ich konnte Cherew nicht finden, Herrin“, berichtete er unglücklich. „Ich konnte nur herausfinden, dass er tatsächlich in der Leibwache des Botschafters tätig ist.“
„Dann werden wir eben wachsam sein müssen“, entgegnete sie nicht sonderlich überrascht. Es wäre ein Wunder gewesen, hätte Jalldred Cherew in den Tiefen des Palasts in einer Stunde aufgetrieben.
„Herrin!“, protestierte Jalldred, der erkannt hatte, dass sie nicht gedachte, dem Gastmahl fernzubleiben.
„Ich werde meine Pläne nicht für eine vage Warnung aufs Spiel setzen“, erwiderte Schedela in einem Ton, der keinen Widerspruch duldetet, „Ihr dürft meine Eskorte zusammenstellen.“
Die Iderraner verstanden es, Feste zu feiern. Die Tische bogen sich unter der Last der Speisen, von denen Diener ständig neue herantrugen, der Wein floss in Strömen und die Musiker spielten laut auf. Schedela saß nicht an der hohen Tafel der Königsfamilie, sondern an einem Tisch mit ledigen hochadeligen Damen. Jalldred und drei weitere ihrer Männer standen direkt hinter ihr. Der Zeremonienmeister hatte sich zwar über ihr plötzliches Sicherheitsbedürfnis beschwert, diese Veränderung jedoch dennoch ermöglicht. Auch ihn hatte sie gefragt, ob er für sie eine Botschaft an Arraj überbringen könnte, doch hatte er sich entsetzt geweigert.
„Aber Prinzessin, das widerspräche jeder Tradition, der wir alle dienen müssen.“ Dann hatte er ihr eben jene noch einmal erläutert.
Und so saß sie umgeben von schnatternden Damen, die alle versuchten, ihr Details über die Gerüchte von ihr und Arraj zu entlocken, unruhig an ihrem Platz. Sie starrte zu Arraj hinüber, der sich soeben angeregt mit Nasiyse zu seiner Linken unterhielt.
Auf seiner Rechten war der Botschafter platziert worden. Sie beobachte ihn, versuchte zu ergründen, ob ihr etwas an ihm merkwürdig vorkam, doch das Einzige, was sie bemerkte, war, dass Cherew hinter ihm stand. Er war zu weit weg, als dass sie Details erkennen konnte, und doch erkannte sie ihn innerhalb eines Augenblicks. Es war dieselbe starre, angespannte Haltung, die er allzu oft hinter ihr eingenommen hatte, derselbe aufmerksame Blick, der hierhin und dort huschte und nie zur Ruhe zu kommen schien.
Plötzlich kreuzten sie ihre Blicke und sie las das Entsetzen in seinem Gesicht, darüber, dass sie hier war, und eine Warnung, welche die Gefahr, in der er sie wähnte, wirklich machte.
Geh, Schedela. Geh, riefen seine Augen ihr zu, aber sie blieb doch, weil sie verstanden hatte, dass es nicht um sie ging und ihre Warnung noch nicht das eigentliche Ziel – den König Martik Arra – erreicht hatte.
Dieser erhob sich soeben und damit war auch ihre Chance vertan. Es war verboten, sich aus der Gegenwart des Königs zu entfernen, wenn dieser sprach.
Mit halbem Ohr hörte sie Martik zu, wie er über die lange Verbundenheit von Kerajaan und Iderra sprach und die Qualitäten des Botschafters lobte. Ihre Tischnachbarin schnaubte leise auf und es war selten, dass Schedela Zustimmung in den Gesichtern der Anwesenden sah.
„Auf dem Platz der Traurigen Dame haben sie gestern ein Freudenfeuer angezündet, sagt man“, meinte eine Frau nicht gerade leise und in einem Ton, der ihre Zustimmung dazu offenbarte.
Martik sprach weiter, nicht ohne manch indirekte Kritik an Kerajaan anzubringen, wie Schedela sehr wohl bemerkte. Wieder sah sie zu Arraj, der seinem Vater stumm zuhörte. Ihr Blick wanderte weiter zu Nasiyse, Tsem bis zu Ishkan, der ungeduldig auf seinem Stuhl hin- und her rutschte, zurück zum Botschafter, Martik bis zu Königin Tsagi, die aus einem Grund, den Schedela nicht verstand, besorgt aussah.
„... aus diesem Grund freuen wir uns, heute nicht nur unser Bündnis mit Kerajaan zu feiern, sondern auch ein Verlöbnis zu verkünden.“
Er machte eine kurze Pause und Schedela wurde bewusst, dass die Frauen am Tisch ausnahmslos sie musterten.
Nasiyse stand vor der Tafel auf. Es war der Brauch, dass die jüngste Schwester des Mannes seine Verlobte in die Familie einführte. Doch Arraj hatte nur zwei jüngere Brüder und so war seiner Schwägerin diese Aufgabe zugefallen.
Wie sie durch den Raum schritt, setzten die Musiker mit einem feierlichen Lied ein. Nasiyse, die hochschwanger war, hatte sichtlich Mühe, und ging nur langsam. Auch sie trug am heutigen Tag traditionelle Kleidung aus ihrer Heimat. Goldene Schriftzeichen, die zu verschlungenen, wunderschönen Mustern zusammenführten, auf einem dunklen Blau. Leise klingelnde Goldketten an ihren Fußknöcheln, Handgelenken und ein Netz aus Gold über ihrem Schleier. Ein Schmuck, wie er einer Prinzessin aus Erin gebührte.
Es war mehr Instinkt denn Wissen, der Schedela aufspringen und die wenigen Schritte zu Nasiyse überwinden ließ. Sie riss sie zu Boden, barg ihren Körper unter dem ihren und hörte das Klirren von Stahl, noch bevor sie es sah. Etwas zischte über sie weg, dort, wo wenige Augenblicke zuvor noch Tsnems Frau gestanden hatte. Die Musiker verstummten und Schreie gellten, als Menschen in Panik aufsprangen. Nasiyse zitterte.
Und dann war Jalldred da, der sich schützend vor sie stellte, und als Schedela sich aufrichtete, sah sie nur Blut, wo zuvor Arraj gesessen hatte. Männer kämpften an der königlichen Tafel. Jemand röchelte im Sterben. Ein Kind weinte.
Schedela riss sich von Jalldred los, der sie aufhalten wollte. Sie schrie ihm zu, Nasiyse zu schützen, ihren Dolch bereits in der Hand. Doch da waren Menschen in ihrem Weg, die verzweifelt zu den Ausgängen flüchteten, und sie, sowie die Soldaten der Palastwache behinderten. Sie suchte nach Cherew oder dem Botschafter, nach Arraj und Tsagi. Stattdessen sah sie den kleinen Ishkan, der sich verängstigt unter einem Tisch nahe der großen Tafel duckte. Ein bewaffneter Mann näherte sich ihm und Schedela wusste, was gleich passieren würde.
Wenn so ein Bauernjunge stirbt, ist es nicht schlimm, hatte er einst gefragt, als sie beim Vorlesen von der Trauer um Joresch überwältigt worden war.
“Der Tod eines jeden ist schlimm, für diejenigen, die ihn lieben”, hatte Arraj ihm geantwortet.
Sie hörte den gepeinigten, verzweifelten Schrei einer Frau, grausamer, als alles, was sie bisher vernommen hatte, und wusste instinktiv, dass es Tsagi Anat war – eine Mutter, die um ihre Kinder schrie.
Plötzlich verspürte sie den Schmerz um Joresch, der viel zu früh aus dem Leben und seiner Familie gerissen worden war, so schlimm wie nie zuvor. Sein Gesicht vermischte sich mit der Gestalt des kleinen Ishkan. Und mit der Präzision und dem Geschick einer erfahrenen Jägerin warf sie ihren Dolch in eine sich auftuende Lücke. Er bohrte sich in die Brust des Mannes, gerade, als dieser nach Ishkan greifen wollte. Aber da waren weitere Angreifer, deren Aufmerksamkeit sie dadurch auf das Kind gelenkt hatte.
Dann sah sie auch Cherew, der sich durch die Menge arbeitete, das Schwert erhoben, den Blick wachsam schweifend.
Sie schrie seinen Namen und las die Erleichterung in seinem Blick, als er sie lebend und unversehrt sah.
“Nearrars”, rief sie und er, mit dem sie sich so oft in Übungskämpfen gemessen hatte, verstand sofort.
Sie zog den zweiten Dolch aus ihrem Stiefel, sprang auf eine Tafel, schleuderte Kerzenständer und Teller zur Seiten. Noch im Lauf schnappte sie sich einen Soßendeckel, den sie als einen provisorischen Schild vor sich hielt. Heiße Bratensoße spritzte auf ihr Kleid, ihre Hände. Noch immer wurde an der hohen Tafel gekämpft, doch es waren zu viele panische Menschen dort, als dass sie sich den Weg dorthin hätte bahnen können. Sie lief einen Umweg und stand im Rücken der drei Männer, die Cherew bedrängten, der sich schützend vor Ishkan gestellt hatte. Sie alle trugen die Uniformen der Palastwache.
Bevor der erste Mann sie auch nur sah, hatte sie ihm bereits ihren Dolch seitlich in den Hals gerammt. Mit einem Gurgeln sank er zu Boden. Noch während sie dem zweiten Mann auswich, der sie verblüfft entdeckt hatte, trat sie ihm gegen den Kopf, sodass er sich gar nicht mehr rührte.
Mit einem raschen Blick schätze sie ihre Chancen ab. Zwei Kurzschwerter gegen einen Dolch. Es wäre wirklich dämlich, jetzt hier draufzugehen.
Mit einem mächtigen Oberhau kam das Schwert auf sie zu. Schedela versuchte gar nicht erst, mit ihrer dünnen Klinge zu versetzen, sondern hob den Soßendeckel. Er zersprang. Fluchend stolperte sie zurück, doch die Klinge traf sie dennoch, wenn auch durch die plötzlich wegfallende Blockade seitlich. Ein stechender Schmerz stach durch ihre linke Schulter. Ein zweiter Hieb kam auf sie zu. Trotz ihrer Wunde packte Schedela seinen Waffenarm, lenkte ihn zur Seite, und schrie zur gleichen Zeit gepeinigt auf wie er, als sie ihm den Dolch in die nun ungeschützte Brust bohrte. Er sank zu Boden.
Cherew, der den dritten Mann besiegt hatte, war an ihrer Seite, stellte sich Rücken zu Rücken mit ihr hin, auf der Suche nach weiteren Feinden.
Es war erstaunlich, wie schnell man in alte Gewohnheiten zurückfiel. Seine Bewegungen waren ihr vertraut, sie kannte seine Stärken und Schwächen und wusste, dass sie in diesem Moment keinen lieber an ihrer Seite gehabt hätte.
Sie sah nach Ishkan, der zitternd und mit großen Augen immer noch unter dem Tisch hockte, die Arme um ein Kätzchen geschlungen, das ihm in seiner Panik die Hände und Arme zerkratzt hatte. Ansonsten wirkte er unverletzt.
“Bleibe dort, Ishkan”, befahl sie ihm und der Junge nickte verängstigt.
Mittlerweile verebbten die Kämpfe, die königlichen Wachen gewannen die Oberhand über die Angreifer. Die wenigen verbleibenden machten keine Anstalten, in ihre Nähe zu kommen.
Zu ihrer Erleichterung erblickte Schedela wenig später auch die Königin. Tsagi Anat stand aufrecht an der königlichen Tafel, umgeben von ihrer Leibwache. Ihr Gesicht war bleich und sprach von demselben Schmerz, den Schedela jedes Mal gesehen hatte, wenn sie ihrem Bruder begegnet war. Aber sie stand und die Menschen blickten zu ihr auf, der Königin Iderras.
“Komm Ishkan”, meinte sie leise und der Junge griff nach ihrer rechten Hand. Sie hatte sich nie viel mit ihm beschäftigt, doch jetzt schien er sich an dieses wenig Vertraute zu klammern, das ihm blieb.
Gemeinsam mit ihm und gefolgt von Cherew schritt sie zur königlichen Tafel, wo Martik noch vor wenigen Minuten ihre Verlobung verkündigt hatte. Nun war der König tot. Er war von seinem Platz zu Boden gerutscht, hatte noch nicht einmal eine Waffe ziehen können.
Sie ging weiter in Richtung der Königin, die sich soeben über jemandem am Boden beugte. Ein Stich ging durch Schedelas Herz, als sie Arraj erkannte, dessen Festgewand blutverschmiert war. Zu ihrer Erleichterung sah sie, wie sein Brustkorb sich leicht hob und senkte. Im Gegensatz zu Tsnem, der nur wenige Schritte weiter lag. Ein Essmesser, das er wohl zur Verteidigung hatte nutzen wollen, war aus seiner Hand gerutscht.
“Ishkan.” Die Königin seufzte vor Erleichterung auf, als sie ihren jüngsten Sohn unversehrt entdeckte. Dass sie dennoch mit ruhigen Schritten auf ihn zuging, bevor sie ihn in die Arme schloss, erkannte Schedela als eine Stärke an, die ihr nirgends sonst begegnet war. Wie konnte diese Frau, deren Familie soeben hingemetzelt worden war, noch immer so viel Majestät und Würde ausstrahlen? Wie konnte sie noch in ihrem Schmerz so stark wirken?
Und ohne, dass sie einen Grund hätte benennen können – einfach, weil es in diesem Moment als das einzig Richtige erschien – sank Schedela auf die Knie.
“Lang lebe Tsagi Anat, die Königin Iderras”, rief sie mit heiserer Stimme und zu ihrem Erstaunen fielen die anderen Menschen im Raum darin ein, bis die Hochrufe auch das letzte Wimmern und den letzten Schrei übertönten.
Als ob diese Frau es war, in welche Iderra seine Hoffnung setzte.
Als ob diese Frau es war, welche sie einte.
Und ihnen jenes eine Geschenk bereiten würde, nach denen sie alle nun dürsteten: Vergeltung.