Iderra, das Segment Ulaaruk, der fünfte Tag nach Traapur
In dieser Nacht träumte Cherew von Schirewel. Er stand inmitten eines Nadelwaldes auf einem Hügel, der mit einem Feld aus Buschwindröschen besäumt war. Der süße Duft stieg Cherew in die Nase, lieblicher und schöner als alles, was er auf dem Kontinent je gerochen hatte. Unter ihm flackerte ein Lagerfeuer, das seinen Blick auf sich lenkte. Dort lagerte eine Gruppe von sieben Personen. Zwei hielten Wache, starrten aufmerksam in den umgebenden Wald und sahen ihn doch nicht. Die Übrigen saßen im Kreis um das Feuer, aßen und unterhielten sich leise. Sie saß in ihrer Mitte, in seiner Erinnerung ein Mädchen, nun eine junge Frau, gekleidet in gehärtetes Leder und auf ihrer Stirn das Zeichen ihrer erfolgreichen Jagdprüfung.
Was tat sie hier? Er kannte diese Wälder. Sie war weit entfernt von ihrem Heim und ihrer Familie in Tsarem.
„Du musst sie beschützen“, meinte eine Stimme. Cherew sprang herum und da stand er. Ein Mann, den er nicht hatte kommen sehen. Der Fremde hob die Hände, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war.
„Wer bist du?“, fragte Cherew misstrauisch in diesem Traum, der so merkwürdig war.
„Ein Freund von Sinamet“, antwortete er und trat neben ihn. „Du kannst mich Lurrved nennen.“
Sinamet ... Es war lange her, dass Cherew ihren Namen vernommen oder selbst in den Mund genommen hatte. Woher also wusste der Fremde von ihrer einstigen Freundschaft?
Der Mann, der sich Sinamets Freund nannte, lächelte ihn nur an. „Ich bin mir sicher, dass du viele Fragen hast, allerdings haben wir wenig Zeit und es gibt Dinge, die gesagt werden müssen, ehe es zu spät ist.“ Er deutete nach unten zu der Gruppe, zu Schirewel, die nun allein am Feuer saß, den Blick zu den Sternen gerichtet.
„Du musst sie beschützen“, wiederholte er seine eingangs gesprochenen Worte, „du weißt von dem Eid, die nie gesprochen werden sollte und es doch wurde. Du kennst die Konsequenzen, die daraus erfolgten.“
Cherew nickte verwirrt. Es war doch nur ein Traum, oder? Entwickelte er sich langsam zu einem Albtraum?
„Joresch ist das Kind, das aus einem Eid geboren wurde.“
Ein Schauer lief Cherew über den Rücken. Ähnliche Worte hatte er bereits früher gehört.
Kind des Eides. Befreier unseres Volkes. Gemurmelte Gebete, gewisperte Prophezeiungen. Hände, die sich in den Himmel reckten. Ekstatische Schreie auf einer Lichtung.
Zwei Hände in den seinen. „Bring ihn uns, Tsavarty.“
Tsavarty.
Er zitterte. Lurrved legte ihm die Hand auf die Schulter und die Angst, die sich in seinem Inneren gerührt hatte, wich unter seiner Berührung.
„Lass nicht zu, dass diese Zuschreibung deine Identität bestimmt.“
„Zuschreibung?“
„Ich werde es nicht aussprechen, denn Worte haben Macht und Titel aus Prophezeiungen umso mehr. Es verleiht ihm Macht.“
„Ihm?“
Lurrved schüttelte den Kopf. „Nicht hier, nicht jetzt. Wichtig ist nur, dass du sie beschützt. Sie ist das Kind der Verheißung, geboren aus Hoffnung, ein Versprechen an die Menschheit Callingers.“
„Ich werde sie beschützen“, versprach Cherew, ohne zu verstehen weshalb. Schirewel wurde besser beschützt als der größte Teil der Bevölkerung Callingers. Sie hatte Männer, die ihr Leben für das ihre geben würden. Weshalb brauchte sie also ausgerechnet ihn?
Aber Lurrveds Worte rührten etwas in seinem Inneren an, das lange verborgen gewesen war: Hoffnung.
„Ich weiß.“ Lurrved schenkte ihm ein letztes Lächeln, dann war er fort, so plötzlich verschwunden, wie er gekommen war.
Cherew blieb noch kurz stehen, sah auf Schirewel hinab. Wie hatte Lurrved sie noch genannt? Kind der Verheißung. Versprechen an die Menschheit Callingers.
Große Worte für ein Mädchen, das eben erst erwachsen geworden war. Und doch verspürte er in sich den Wunsch, sie, wie er versprochen hatte, zu beschützen.
Was war das für ein Traum, für ein Zauber, der auf diesem Ort lag? Er hatte ihm doch mehr Fragen geschenkt, denn beantwortet.
Als Cherew wenig später erwachte, fühlte er sich erholt, wie schon lange nicht mehr. Selbst sein treuster Begleiter – der Schmerz in seinem Bein – schwieg für den Moment.
Es war noch früh am Morgen, durch das Fenster drang erst die erste Ahnung der Dämmerung. Rund um ihn herum schnarchten die anderen Männer, ein Geräusch, das Cherew plötzlich als störend empfand. Im Wald war es so still und friedlich gewesen.
Du musst sie beschützen.
Aber Lurrved hatte ihm nicht gesagt wie. Allein die Überfahrt nach Callinger würde Wochen brauchen. Davon abgesehen war es mehr als unwahrscheinlich, dass er ein Schiff fand. Und er war ein Sklave, auf Leben an seinen Herrn gebunden.
Eigentlich war Cherew als Soldat erzogen worden. Er war ein Soldat, der gerne Befehlen folgte und klar aufgeteilte Verantwortlichkeiten schätzte. Seine Aufgabe als Anführer der königlichen Leibwache hatte ihn erfüllt. Das war einfach. Entscheidungen zu treffen, wie die, die Lurrved von ihm verlangte, war schwer.
Nachdenklich erhob Cherew sich, zog seine Schuhe an und begab sich zum Abtritt, um sich zu erleichtern.
Als er fertig war, wollte er sich zurück in den Schlafsaal begeben, als er Liraan bemerkte, der sich vollkommen angezogen an den Ausgang von Pujabaats Gemächern begab. Was tat er hier? Mittlerweile war selbst das Licht hinter Pujabaats Tür erloschen, der zumeist bis tief in die Nacht arbeitete, um am Morgen lange zu schlafen. Es gab also kaum einen plötzlichen Auftrag, dem dieser nachgehen konnte.
Cherew zögerte nur kurz, dann folgte er dem Anführer der Wache.
Liraans Ziel lag außerhalb des Palastes in der Stadt. Zu seinem Glück trug Cherew die Marke, mit der er sich gegenüber den Wachen ausweisen konnte, um seinen Hals, die ihn so hinausließen.
Liraan verfolgte seinen Weg entschlossen und zielstrebig. Den Patrouillen wich er geschickt aus und seinen aufmerksamen Blicken entging auch Cherew manchmal nur knapp.
Schließlich entpuppte sich sein Ziel als eine Schänke, aus deren Fenstern leicht bekleidete Frauen winkten.
Er geht nur etwas trinken, wisperte die Stimme, welche, wie ihm nun bewusst wurde, während seines Traumes geschwiegen hatte. Wie du es nun auch zu gerne tun würdest.
Es wäre eine Lüge, das in ihm brennende Verlangen zu verneinen. Oft hatte er schwierige Entscheidungen im Alkohol ertränkt. Zu oft. Außerdem glaubte er nicht, dass Liraan nur etwas trinken ging. Nicht Liraan, der sich sonst in asketischer Genügsamkeit übte.
Allerdings zögerte Cherew vor der Tür. Es war nicht auszuschließen, dass Liraan den Eingang beobachtete und seine Anwesenheit würde s nur schwerlich erklären können.
Vielleicht gab es eine Hintertür? Cherew umrundete die Häuserzeile, wo in den Hinterhöfen nicht wenige Betrunkene ihrem Rausch verfallen waren. Die Taverne besaß in der Tat eine Hintertür, allerdings wurde sie wie auch die Vordertür von zwei Männern bewacht, die Cherew sofort misstrauische Blicke zuwarfen.
Rasch kehrte er um und legte sich vor der Vordertür auf die Lauer. Er wusste nicht einmal weshalb, aber etwas sagte ihm, dass das hier wichtig war.
Dein Misstrauen in allen Ehren, aber andere Männer wollen auch nur ihren Spaß.
Cherew ignorierte sie.
Es dauerte nicht allzu lange, dann verließ Liraan das Gebäude wieder und begab sich schrittsicher erneut in Richtung Palast. Dieser Mann hatte sich wahrlich nicht betrunken.
Cherew zögerte kurz, dann vertraute er seinem Instinkt und wartete. Immer wieder verließen Personen die Schänke, doch keine von ihnen ließ den einsamen Beobachter aufhorchen. Es dauerte lange, so lange, dass Cherew sich zu fragen begann, ob er die Person nicht doch durch seine Leichtfertigkeit verpasst hatte.
Doch schließlich traten drei junge Männer aus der Schänke. Einen von ihnen kannte Cherew – es war Hishen Tej, der Neffe des Königs, der sich sichtlich angetrunken auf einen der beiden anderen stützte.
„Es ist der Tag meines Glücks!“, verkündete er und hickste.
Der zweite Begleiter klopfte ihm auf den Rücken und sprach so leise, dass Cherew sich näher heranbegeben musste, um ihn zu verstehen. „Ich bin mir nicht sicher, ob es klug ist, sich auf die Kerajaaner einzulassen.“
„Klug“, höhnte Hishen Tej, „klug wäre es, wenn mein Onkel mich zum Erben ernennen würde. Dann müssten viele Dinge nicht passieren.“ Nur der raschen Reaktion seines Freundes war es zu verdanken, dass er bei seinen ausladenden Handbewegungen nicht das Gleichgewicht verlor.
Der jüngere der beiden Begleiter blickte sich nervös um. „Wir sollten nicht hier davon sprechen.“ Er begann, den Prinzen von Iderra mit sich zu ziehen.
Vorsichtig folgte Cherew den dreien, die sich bis zu einer Hauptstraße begaben, wo sie sich eine Sänfte riefen.
Verwirrt blickte er diesen hinterher.
Sicherlich, er war es gewesen, der Pujabaat auf Gajaks Rat hin den Kontakt zu Hishen Tej vorgeschlagen hatte. Es war nur sinnvoll, dass dieser einen seiner engsten Vertrauten – Liraan – zu einem Gespräch mit dem Prinzen entsandte. Dennoch der Ort und der Hochmut des jungen Prinzen besaßen eine Geheimniskrämerei, die Cherew nicht schmeckte.
Du hast Politik schon immer gehasst. Wann schmeckte sie schon gut?
Wieder einmal wurde Cherew bewusst, dass das hier nicht sein Platz war, nicht sein Ort. Er wollte kein Teil von Intrigen und politischen Ränkespielen sein. Nur hatte er die Antwort, was stattdessen sein Ort war, nicht gefunden. Vielleicht war sein Leben für immer der Ziellosigkeit verschrieben und der wehmütigen Sehnsucht nach jener Zeit, als sein Leben noch von Klarheit bestimmt gewesen war.
Du musst sie beschützen.
Lurrveds Worte. Ein klarer Auftrag, der kein klares Vorgehen schenkte.
Wie?
Er atmete tief ein. Nun gut, vielleicht war es einen weiteren Versuch wert.
Cherew konnte nicht verhindern, dass beim Betreten des Viertels der Iderri Glücksgefühle in ihm aufstiegen – trotz all dem, was bei seinem letzten Versuch geschehen war. Es waren die Gebete, welche in die Haustüren eingeritzt worden waren, daneben die zwei Schalen mit Wasser und Kräutern, die Heimat verhießen.
Dieses Mal wählte er eine andere Taverne als beim letzten Mal. Er gab seine offensichtlichen Waffen ab, behielt jedoch ein verstecktes Messer – in eine solch verletzliche Situation wie beim letzten Versuch wollte er sich nicht begeben.
Sobald er in den Schankraum eintrat, warf ihm der Wirt einen aufmerksamen Blick zu und Cherew war sich sicher, dass er ihn trotz der Kapuze sofort erkannt hatte.
Als Cherew an die Theke trat und eine Erbensuppe bestellte, brummte er jedoch nur: „Mach mir ja keinen Ärger.“
Ansonsten wurde Cherew, als er sich einen Platz suchte, zwar gemustert und die Männer tuschelten, doch niemand näherte sich ihm. Die meisten drängten sich um den Kampfring in der Mitte des Raumes. Dieses Mal maßen sich die beiden Männer nicht im Tonscherbentod, sondern im Tentikon. Eine – wie für sein Volk typisch – brutale Kampfart, bei der zwar keine Waffen genutzt wurden, die aber bis auf das Beißen und den Angriff auf Augen und die Genitalien alles erlaubte.
Seine Ruhe wurde erst gestört, nachdem Cherew den ersten Löffel seiner Erbsensuppe probiert hatte, die der Wirt ihm gebracht hatte. Ein Mann ließ sich ungefragt auf der Liege ihm gegenüber nieder.
„Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass du es wagst, zurückzukehren, Tsavarty“, kicherte er und stibitzte ein Stück des noch warmen Brotes, welches der Suppe beilag.
Scheinbar gelassen nahm Cherew einen weiteren Löffel seiner köstlich schmeckenden Suppe, während er angespannt den Fremden musterte. Ein Iderri mit ungepflegtem Aussehen, dessen gerötete Wangen und zitternde Hände auf zu viel Alkoholkonsum hindeuteten.
Sieh ihn dir genau an, witzelte die Stimme, eines Tages wirst du auch so aussehen!
Cherew ballte die Hände zu Fäusten. Suppe schwappte über, als er gegen die Schale stieß.
Mit einem übertrieben freundlichen Lächeln wandte er sich dem anderen zu. „Da du meinen Namen kennst, wäre es unhöflich, wenn du mir deinen nicht nennst.“
Der Mann beugte sich über den Tisch, den Mund voll mit dem stibitzten Brot. „Keine Sorge, vor dem alten Ksarik hast du nichts zu befürchten.“
„So?“ Cherew hob die Augenbrauen.
Wieder kicherte er. „Ich will mich nur ein wenig unterhalten. Hier passiert so wenig Interessantes.“
„Und ich bin interessant?“
„Oh ja.“ Theatralisch hob er die Hände. „Eine dramatische Prophezeiung, ein Verbannter und ein Fluch, daraus ließe sich eine wirklich spannende Geschichte entwickeln.“
„Ich eigne mich nicht für Geschichten“, erwiderte Cherew mit ausdruckslosem Gesicht.
„Mach dich nicht kleiner als du bist. Eine Menge Leute wäre sehr interessiert zu wissen, dass du hier bist.“
Daran zweifelte Cherew nun wahrlich nicht. Allerdings schien es ihm nicht, als ob Ksarik ein großes Interesse daran hatte, sein Wissen weiterzugeben.
Er beugte sich ein Stück vor. „Ich suche ein Schiff nach Callinger.“
Ksarik prustete belustigt. „Wenn du dein Leben fortwerfen willst, steht dir das frei. Aber es gibt sicherlich weniger schmerzvollere Todesarten als sich dem Urteil der Ältesten zu unterwerfen.“
„Ich suche ein Schiff nach Callinger“, wiederholte Cherew, verärgert darüber, dass die Narben der Hundebisse plötzlich juckten. Und weil, was er sich nicht eingestehen wollte, die Angst in seinem Inneren wütete. Die Wahrheit war, dass er wusste, was ihn in der Heimat erwartete. Er hatte sein Volk verraten und sich gegen dessen Glauben gewandt – dafür gab es keine Begnadigung.
Du musst sie beschützen ...
„Die Callingers Fluch setzt in zwölf Tagen von Jurhagist aus die Segel“, antwortete Ksarik, der nun nachdenklich wirkte. „Doch dem Kapitän wird es ein Zeichen der Ehre sein, dich den Ältesten auszuliefern.“
„Danke“, antwortete Cherew leise. Zwölf Tage. Das war nicht viel Zeit, um eine Flucht vorzubereiten. Eigentlich blieben ihm sogar nur neun Tage, da Jurhagist von Iderra eine Drei-Tages-Reise entfernt war. Aber es fuhren nicht viele Schiffe in die Heimat, weshalb die Callingers Fluch eine einzigartige Möglichkeit bedeutete, die er trotz der Gefahr nicht einfach so ausschlagen durfte.
Nachdenklich ließ er den Blick durch die Taverne schweifen, die sich mittlerweile gefüllt hatte, und entdecke zu seinem Erstaunen ein bekanntes Gesicht.
„Entschuldige mich, ich muss jemanden begrüßen“, meinte er zu Ksarik. Dieser zuckte nur mit den Schultern, zog Cherews mittlerweile erkaltete Schüssel Suppe heran und begann zu essen.
Dennoch bemerkte er die neugierigen Blicke des alten Säufers im Rücken, als er sich auf die Liege neben dem Bekannten fallen lassen ließ.
Sofort richtete dieser sich auf, das Essmesser in der rechten Hand ausgestreckt.
„Jalldred, oder?“, fragte Cherew, „du hattest mir letzte Woche geholfen.“
Kaum zu glauben, dass die Ereignisse seines letzten Besuches nur dreizehn Tage zurücklagen. Viel zu viel war in der letzten Zeit geschehen.
Jalldred ließ das Messer sinken.
„Ich habe deinen Namen vergessen“, gab er zu und widmete sich wieder seinem Essen – Ziegenkäse mit gefüllten Teigtaschen, ein typisch iderranisches Essen. Daneben stand ein Krug mit Met, der verführerisch roch.
„Pelayan“, wiederholte Cherew den Namen, den er beim letzten Mal genannt hatte.
Ihm war bewusst, dass er mit dem Feuer spielte. Jalldred mochte sich zurzeit nicht an ihn erinnern, aber vielleicht sagte er in einem Moment etwas Falsches oder bewegte sich auf eine bestimmte Weise, wodurch sich das änderte.
„Ich hoffe, heute lässt du dich nicht in einen Kampf verwickeln.“
„Ich gedenke nicht, dass zu tun“, erwiderte Cherew wahrheitsgemäß, „ich habe nur nach Informationen gesucht und außerdem gibt es hier nun einmal den besten Met ganz Iderras.“
Und dann zog er Jalldreds Krug mit Met doch zu sich heran und nahm einen kräftigen Zug des hervorragenden Mets. So begann es immer. Mit einem Schluck. Aber enden tat es dort nie.
Cherew bereute es noch in demselben Moment.
Jalldred sagte nichts. Überhaupt schien er sich wenig um sein Gegenüber zu kümmern, sondern beschäftigte sich nur mit seinem Essen. Außerdem schien auch er, wie Cherew bemerkte, dem Alkohol schon zugesprochen zu haben.
„Hast du jemals eine Frau geliebt?“, fragte er plötzlich.
„Wer hat das nicht?“, antwortete Cherew und musterte den Offizier verwundert.
Oh Schedela, dachte er, hast du immer noch nicht damit aufgehört, Männern die Herzen zu rauben?
„Kämpfe sind einfacher“, knurrte Jalldred, „unkomplizierter als eine Frau, die die Pflicht über alles stellt.“
„Ja“, antwortete er und schob Jalldred den Krug mit Met zu, den dieser rasch leerte. Wenig später stellte der Wirt ihnen zwei neue vor die Nasen.
Schweigend tranken sie, zwei Männer in Gedanken versunken in die Unglücke, die sie jetzt und einst erlebt hatten.
In Cherews Leben hatte es zwei Frauen gegeben, die er geliebt hatte. Die Erste hatte er um der Pflicht und der Ehre willen getötet und die zweite hatte sich für Pflicht und Ehre von ihm abgewendet. Sie war klug gewesen, er nicht.
Denn er war Tsavarty gewesen und als solcher hatte er seinem Volk gehört – keiner Liebe und am allerwenigsten sich selbst.
Vorbei ...
Aber frei war er noch lange nicht und kein Ort erinnerte ihn mehr daran als dieser. Er hörte sie seinen Namen flüstern, spürte ihre Blicke und wusste, dass er es nicht lange würde ertragen können.
Und zugleich war es ein Ort, der ihn wie keiner sonst an Heimat erinnerte, an das, was er verloren hatte.
Er genoss es, wieder Iderri zu hören, obgleich es anders klang als in der Heimat. Die Rückkehrer hatten neue Begriffe in die vertraute Sprache aufgenommen, ihre Aussprache hatte sich teilweise der Art der Iderraner angeglichen. Und dennoch war es wie ein Spiegelbild, etwas Vertrautes, an das er sich klammerte. Es war ein Wunder, dass Garak, der doch so verzweifelt nach der Sprache der Iderri suchte, nie der Gedanke gekommen war …
Cherew riss die Augen auf. Gewiss über Callingers Geschichte war hier kaum etwas bekannt, doch das Wissen darüber, dass Iderraner sich während der Ubandur-Kriege auf der Insel angesiedelt hatten, war hinlänglich verbreitet. Ebenso wie die Tatsache, dass Teile ihrer Nachkommen wieder zurück in die einstige Heimat gekommen waren.
Es war kaum zu glauben, dass ein gut vernetzter Wissenschaftler wie Garek davon nichts wissen sollte.
Er musste an Gareks Forschungsprojekt, von welchem Cherew Teile an Pujabaat übermittelt hatte, denken. Es hatte von dunklen Legenden aus der Vergangenheit von Cherews Volk gesprochen – einer Dunkelheit, von der er selbst sich abgewandt hatte und auf diesen Kontinent geflohen war.
Was hatte Garek damit vor? Weshalb sammelte Pujabaat Informationen zu diesen Dunkelheiten, denen sich niemanden zuwenden sollte?
All diese Gedanken wurden jedoch irrelevant, als er die Stimme hinter sich hörte. „Der Verräter ist also auch hier.“
Mit dem Krug in der Hand sprang Cherew auf und drehte sich um.
Er wusste nicht, wer von den Männern das gesagt hatte, doch spürte er ihre Blicke, in denen Verachtung lag.
„Der Verräter, der nun ein Feigling ist“, spottete einer von ihnen, das Gesicht zu einer Grimasse verzogen.
Beweise es ihnen. Zeig ihnen, wer du bist.
Dieses Mal widerstand Cherew ihr nicht. Mit wenigen Schritten überwand er die Distanz zu dem Mann, schubste eine Bedienung beiseite und wollte ihm den Metkrug ins Gesicht schlagen. Doch er traf ihn nur mit Met - der junge Mann wich rechtzeitig in den leeren Kampfring zurück.
„Diesen Kampf hättest du ankündigen lassen müssen“, rief er dem Wirt zu, schüttelte sein metgetränktes Haar und ließ seinen Mantel fallen. „Die Wetten lohnen sich ganz bestimmt nicht.“
Cherew dagegen ließ den leeren Krieg fallen und folgte dem vorwitzigen Mann in den Kampf.
Die Aufmerksamkeit der Anwesenden war ihnen gewiss. Bald drängten sich nicht nur sie um den Kampfring, sondern auch Menschen von draußen, die hereinstürzten, um dieses Ereignis nicht zu verpassen. Dinge sprachen sich hier schnell herum. Jeder wusste, wer er war.
„Schlag ihn nieder, Tey!“, rief ein Mann und schüttelte die Hände.
„Bringe die Ehre zurück!“, grölte ein zweiter.
Sie umkreisten sich aufmerksam. Tey war schmal und klein, seine Schritte sicher, als er um Cherew herumtänzelte und ihn mal in diese, dann in jene Ecke trieb. Die Beinarbeit war ausgezeichnet.
Aber Cherew war wach. Das war etwas, was er kannte und einordnen konnte. Keine Zukunftspläne, keine Sorgen, kein Gedanke an verflossene Lieben – nur der Kampf. Sein Körper reagierte instinktiv und nahm die Haltung des Kämpfers ein.
Er machte einen Ausfall, hob die Faust und wollte seinem Gegner einen Schlag gegen den Kopf verpassen, doch dieser sprang blitzschnell zurück. Und er grinste.
Cherew wollte ihm dieses verdammte Grinsen aus dem Gesicht schlagen, den Spott austreiben. Er wollte ...
Halt!
Überhastet in seinem Zorn war er in einen Angriff hineingestürzt, den er nur halbwegs parieren konnte. Die Faust seines Gegners traf seine Hüfte. Er stöhnte auf.
Verbissen wich er zurück, die Fäuste abwehrbereit gehoben. Vor seinem Gegner empfand er einen widerwilligen Respekt.
Du musst vorsichtiger sein, Narr.
Er musterte den jungen Mann nun aufmerksamer, studierte seine Bewegungen und seine Blicke.
Er ist Rechtshänder, bemerkte er, und schützt seine linke Seite schlecht.
In einem günstigen Moment sprang er erneut nach vorne, täuschte einen Angriff auf seine rechte Seite vor, woraufhin sein Gegenüber die Fäuste abwehrbereit nach oben hielt. Dann sprang Cherew rasch nach links und traf den anderen an der linken Seite.
Kurz darauf war es Cherew, der einem Angriff ausweichen musste, als der andere blitzschnell in einen Ausfall ging.
Dabei wurde er in eine Ecke des Rings getrieben.
Mit einem gut gezielten Tritt traf er Tey in der Kniekehle. Dieser stöhnte auf, sackte kurz weg. Das genügte für Cherew, sich aus der Ecke zu befreien und den Gegner am Arm zu packen.
Er versuchte, ihn zu Boden zu ringen, doch irgendwie gelang es Tey, sich aus seinem Arm zu entwinden und plötzlich war er es, der schmerzhaft auf dem Sandboten aufprallte. Seine Rippen schmerzten, doch es blieb keine Zeit. Mehr aus Instinkt denn aus tatsächlicher Wahrnehmung heraus rollte Cherew zur Seite. Nur knapp entging er dem Tritt nach seinem Kopf.
Wie aus der Ferne nahm er die aufgeregten Schreie der Zuschauer wahr, die ausnahmslos seinen Gegner unterstützen zu schienen.
Tey grinste übermütig und sonnte sich in der Bewunderung. Diesen kurzen Moment nutzte Cherew aus. Er rollte sich zu Tey, richtete sich halb auf und warf sich, seine Hüfte umpackend, gegen ihn.
Nun lagen sie beide auf dem Boden, ineinander verschlungen, während sie versuchten, den anderen zu packen, irgendwie zu fixieren und tretender Füße und schlagender Fäuste habhaft zu werden.
Cherew gelang es, seine Beine um Teys Hüfte zu schlingen, was ihm einige schmerzhafte Schläge gegen die Hüfte und ins Gesicht einbrachte. Mit einem Knacken brach Cherews Nase, Blut rann über sein Gesicht und tropfte bis auf Tey hinab. Abwehrend hob er die Hände gegen die brutalen Angriffe seines Gegners.
Tey grinste noch immer, wand sich unter ihm und Cherew spürte, wie er ihm entglitt. Irgendwie gelang es ihm, auf alle Viere zu kommen, während Cherew sich an seinen Rücken klammerte und versuchte, ihn wieder auf den Boden zu bekommen. Er schlug nach Teys Gesicht, immer und immer wieder, musste jedoch rasch wieder nach seiner Hüfte packen, um zu verhindern, dass er vollends aufstand. Das Blut aus Cherews Nase malte Muster auf Teys Rücken. Es gelang ihm, den Gegner so hart gegen die Bande zu drücken, dass das Holz ächzte.
Doch wieder schaffte es Tey, sich aus der Bedrängnis zu lösen und fast aufzustehen. Dieses Mal klammerte Cherew sich mit den Beinen um dessen Hüfte und er spürte, wie allein sein größeres Gewicht dem jungen Mann zusetzte. Er griff nach Teys Bein und das brachte ihn wieder zu Boden. Mit den Händen umgriff Cherew Teys Oberkörper, während dieser nach ihm schlug und versuchte, seine Beine freizuwinden. Seine Fäuste, die er nicht zu fassen bekam, prasselten auf Cherew ein, versuchten seinen Griff zu lösen. Ein schmerzhafter Stich durchzog Cherews Körper, als ein Tritt ihn an der noch kaum verheilten Wunde traf. Er schrie auf und lockerte seinen Beingriff instinktiv ein wenig. Und schon wand Tey sich wieder frei, seine Freunde jubelten, wenn auch wesentlich leiser als zuvor.
Zorn und Alkohol wüteten in Cherew, Zorn über diesen wahnwitzigen jungen Mann, über sein Volk, seinen Onkel und am allermeisten über sich selbst.
Plötzlich lag Tey unter ihm, das Gesicht blutüberströmt, weil Cherews Fäuste immer und immer wieder auf ihn einprasselten.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter und Cherew fauchte diesen neuen Gegner an, der es wagte, ihn anzurühren, ihn Tsavarty, er ...
Erschüttert taumelte er zurück, als ihm gewahr wurde, dass es Jalldred war, der ihm gegenüber stand.
„Es ist vorbei, Pelayan“, meinte er und erst langsam drangen seine Worte zu Cherew durch. Er blickte zu seinem blutenden Gegner. Tey rührte sich nicht mehr.
Er stand auf, blickte zu den Zuschauern, die ihn schweigend anstarrten. Teys Freunde waren verstummt.
„Ob es das wert war?“, fragte Jalldred in seinem Rücken.
Wortlos taumelte Cherew an ihm vorbei nach draußen. Sie ließen ihn gehen. Für heute hatte er sich ihren Respekt erworben. Morgen würden sie ihn wieder bereitwillig verraten.
Er hatte gehofft, dass er sich besser fühlen würde, doch alles, was er empfand, war Leere. Müde, mit Schmerzen und erschöpft stolperte er durch die Straßen Iderras. Er sehnte sich nach weiterem Alkohol, etwas, was diese Stille in ihm betäubte und ihm einredete, dass es ein guter Kampf gewesen war.
Selbst die Stimme schwieg, was grausamer war als jeder vorige Spott.
Stattdessen erinnerte er sich plötzlich wieder an etwas, was Sinamet vor Jahren zu ihm gesagt hatte.
Da ist Dunkelheit in dir, Cherew, hatte sie gemeint, nachdem sie seine Methoden der Waffenausbildung kritisiert hatte. Er hatte sie damals nicht verstanden, nicht verstehen wollen. Ausgerechnet sie, die eine Klinge nicht einmal in die Hand nehmen würde, hatte ihn kritisiert.
Jetzt erkannte er, dass diese Dunkelheit, die schon immer in ihm gewesen war, begann, ihn aufzuzehren. Sinamet! Sie hätte gewusst, was zu tun war. Das hatte sie immer getan. Nie hatte er sich glücklicher gefühlt, nie war sein Leben so klar gewesen, wie in jener Zeit, als er gemeinsam mit ihr für die Sicherheit und Erziehung von Schedmasal und Schedela verantwortlich gewesen war. Er hatte sie beschützt, diese beiden widerspenstigen Kinder, die aus einer vertraglichen Verpflichtung eine Freude gemacht hatten. Und nie hatten sie von ihm verlangt, dass er andere Kinder tötete und ihr Blut auf die Erde Callingers vergoss. Nicht wie Pujabaat.
Hätte er es damals schon sehen müssen? Wohin ihn dieser Dienst brachte und zu was für eine Art Mann ihn das machte? Cherew war nie ein Heiliger gewesen. Er hatte getötet und gelogen und all das verraten, was ihm wichtig gewesen war.
Aber jetzt war er hier.
Du musst sie beschützen.
„Wie kann ich das, wenn ich nicht einmal mich selbst vor mir beschützen kann?“, brüllte er, sodass eine Frau ihr Kind eilig von ihm fortzog.
Ihr ungeachtet sank er mitten auf der Straße zu Boden. Die Menschen umrundeten ihn. Nur ein weiterer Betrunkener, der in eine Prügelei hineingeraten war, ein weiterer gebrochener Mann. Ein Hund schnüffelte an seiner Hand. Ein Hund!
Er zitterte, als er sich an die anderen Hunde erinnerte. Gewaltige, düstere Bestien, die nach seiner Kehle schnappten, während sein Volk lachte. Noch letzte Nacht hatte er von ihnen geträumt. Doch dieser Hund begann, seine Finger zu lecken. Die Zunge war klein und rau. Er begann zu winseln, drückte den Kopf gegen Cherews Arm und hörte erst auf, als er begann, das verfilzte Fell zu streicheln. Aus dunklen Augen blickte ihn das Tier an, als ob Cherew allein ihn von dem Übel des Lebens beschützen könnte.
Doch das konnte er nicht. Er hatte Joresch nicht beschützen und nicht verhindern können, dass Schedela und Schedmasal sich gegenseitig bekriegten. Er würde auch an Schirewel versagen.
Aber ein Kampf, den man nicht aufnahm, war von Anfang an verloren.
Also würde er es versuchen.
Cherew stand auf und begab sich zum Palast, um seine Pflicht zu erfüllen.
Der Hund trottete ihm nach.
Als Cherew zum Palast zurückkehrte, war es bereits später Vormittag. Zunächst hatte er das Blut aus seinem Gesicht wischen und die Wunden versorgen wollen. Er verstand selbst nicht, was mit ihm los war, doch er brachte es nicht über sich, den Hund, der sich vertrauensvoll in seine Arme schmiegte, draußen zurückzulassen. Also brachte er ihn zu einer Dienerin, mit der er sich angefreundet hatte. Sie fragte erschrocken nach seinen Wunden, akzeptierte jedoch sein Schweigen darüber und beschwerte sich zunächst, als er ihr das schmutzige Bündel, das sicherlich voller Flöhe war, in die Arme drückte, doch schließlich versprach sie, auf ihn aufzupassen. Es war dumm, sich mit dem Tier zu belasten, Cherew versprach sich dennoch, den Hund auf seiner Flucht mitzunehmen und an Bord der Callingers Fluch zu schmuggeln. Irgendwie. Er brauchte ihn. Ein Versprechen darauf, dass es Schönes im Leben gab, für dass es wert war, zu kämpfen.
Kaum, dass er Pujabaats Gemächer betrat, eilte Liraan ihm entgegen und blaffte ihn an: „Wo bist du gewesen?“
Ohne eine Antwort zu erwarten, befahl er ihm, seinen Posten einzunehmen. Obwohl Cherews Dienst erst in einer Stunde begonnen hätte, gehorchte er der Anweisung schweigend. Etwas schien geschehen zu sein, sodass Liraan die Wachen verdoppelt hatte. Aufgebracht und gereizt erteilte er seine Befehle und zog sich schließlich mit seinen Stellvertretern zu einer Besprechung zurück. Wahrscheinlich war es gut, dass der Anführer der Wache zu beschäftigt war, um Cherews Verletzungen zu bemerken oder sich damit weiter auseinanderzusetzen.
„Was ist geschehen?“, zischte Cherew Anoon zu, der mit ihm vor der Tür Wache hielt.
Nervös blickte der junge Leibwächter sich um, bevor er meinte: „Heute Morgen hat sich der ehrwürdige Botschafter mit dem König getroffen und dabei ist irgendetwas passiert. Jedenfalls kehren wir wieder nach Kemuliaan zurück.“ Er grinste aufgeregt. „Endlich lassen wir diese stinkende Stadt hinter uns.“
Er riss seine Augen auf, als Cherew ihn am Arm packte. „Wann?“, fragte er aufgebracht, „wann brechen wir auf?“
„In sieben Tagen.“