Iderra, der fünfte Tanutise des Segments Retoldut
Tsagi Anat, die Königin Iderras, besaß eine beeindruckende Präsenz. Sobald sie den Raum betrat, war es unmöglich, sie zu ignorieren. Sie war eine Frau, die die Blicke auf sich zog, ohne dafür etwas zu tun. Der kerajaanische Philosoph Menoreem hatte es als die »Aura eines guten Herrschers« bezeichnet, der »herrschte, ohne zu sagen, dass er herrschte.« Schedelas Vater war genauso gewesen. Er hatte immer behauptet, dass seine einzige Tochter ein weibliches Ebenbild seiner selbst war. Doch die Wahrheit war, dass Schedela ihm in diesem Punkt nicht ähnelte. Ihr ganzes Leben war sie in der Erwartung aufgewachsen, eines Tages auf dem Thron Callingers zu sitzen, und dann, wo er ihr versagt worden war, hatte sie den Traum danach weiter verfolgt. Bei ihrem Vater hatte alles so selbstverständlich gewirkt, während sie selbst sich inmitten all dieser Pracht der königlichen Gemächer mehr wie ein Kind als eine Königin fühlte. Nun, vielleicht konnte sie von Königin Tsagi Anat lernen, was es hieß, eine Herrscherin zu sein.
Tsagi Anat war, wie Garek ihr erzählt hatte, in demselben Alter wie sie selbst. Zuerst war sie nur eine von mehreren Frauen des Königs gewesen, doch war sie die Einzige, die ihm männliche Erben geschenkt hatte, sodass sie die Rivalinnen leicht hatte verdrängen können. Mittlerweile regierte sie unumstritten an seiner Seite.
Und nun war es Schedela, die vor ihr auf den Fliesen lag. Nach drei Denias, die sie gewartet hatte, war ihr durch Garek die Einladung in den königlichen Palast überbracht worden. Ein Diener hatte sie als eine Vorleserin klassischer iderranischer Lyrik vorgestellt, wie ihr Mentor es geplant hatte. Mehrfach war sie von Soldaten durchsucht worden und hatte nicht mehr mitnehmen dürfen, als die Kleidung, die sie am Leib trug. Schlussendlich war sie bis in die Privatgemächer der Königin geleitet worden, wo Tsagi sie erwartet hatte.
Nun lag sie mit ausgestreckten Armen zu Füßen ihrer Majestät, spürte den Blick der Königin über ihr und hörte das Rascheln ihres Gewandes. Es war ein befremdliches Gefühl, das ihr zutiefst missfiel. Doch für den Moment wurde alles von dem tiefen Triumph überströmt, der ihr Innerstes beherrschte. Sie hatte den ersten Schritt erreicht und war in der Gegenwart der Königin! Das war mehr, als ihr viele ihrer Männer zugetraut hatten. Jetzt musste sie nur weitergehen. Einen Schritt nach dem anderen.
»Erhebt Euch.« Tsagis Stimme war erstaunlich tief.
Schedela rappelte sich auf, bemüht, der Königin dabei nicht direkt in die Augen zu sehen. Die Iderraner hatten ein merkwürdiges System, ihre Ehrerbietung zu zeigen. Zähneknirschend hatte sie es akzeptiert.
Tsagi war eine sehr schöne Frau. Sie war größer als Schedela und hatte sich ein schlankes, jugendliches Aussehen bewahrt. Ihr eng geschnittenes kurzärmliges Seidenkleid, das unter der Brust gerafft wurde, betonte ihren zierlichen Körperbau. Darüber trug sie einen Überwurf. Alles war in beigen, sanften Farben gehalten, nur durchbrochen von dem einzelnen Rubin, der in einem bronzenen Diadem auf ihrer Stirn saß. Das pechschwarze Haar hatte sie zu einer eleganten Hochsteckfrisur gebunden.
Die beiden jungen Männer, die auf Liegen nahe einem zentralen Tisch lagen, waren ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Der Älteste war vielleicht Mitte Zwanzig, der Jüngere schien gerade das Erwachsenenalter erreicht zu haben. Sie trugen ähnliche Kleider. Der Jüngere der beiden beachtete sie nicht, sondern widmete sich mit Hingabe dem Obst, das ihm eine Sklavin hinhielt. Sein Bruder dagegen warf ihr über die Schriftrolle in seinen Händen einen kurzen, interessierten Blick zu.
Doch es war die Mutter, die über Schedelas Schicksal bestimmte.
»Ihr seid also die Vorleserin, die Garek für so überragend hält«, meinte sie.
Schedela nickte. Unerlaubt zu sprechen, hatte Garek sie ermahnt, galt als sehr unhöflich.
Die Königin deutete auf einen kleinen Tisch am Rande des Raumes. Darauf lagen mehrere Schriftrollen. »Dann überzeugt mich.«
Nicht sicher, ob das eine Erlaubnis war, sich zu bewegen, zögerte Schedela.
»Worauf wartet Ihr?«
Tsagi hatte sich abgewandt und durchquerte den Raum mit raschen Schritten bis zu der Tafel in der Raummitte. Sofort stand eine Sklavin bereit, die ihr den Stuhl an der Stirnseite zurückschob, während eine zweite ihr Wein einschenkte.
Auch Schedela nahm ihren Platz ein, setzte sich auf den Schemel und zog die Werke, aus denen sie lesen sollte, heran. Sie alle waren sorgfältig nach den Wünschen der Königin zusammengesucht und Schedela hatte geübt, sie richtig zu lesen.
Es hieß, dass Tsagi einen großen Wert auf die Bildung ihrer Kinder legte und bei den ausgewählten Titeln, glaubte sie, dass das der Wahrheit entsprach.
Sie schlug das erste Werk auf. Es war eine Sammlung iderranischer Lehrgedichte, traditionelle Lyrik, deren Ziel es war, jungen Menschen Tugenden und Weisheiten zu vermitteln. Da sie für gewöhnlich demselben Schema folgten, handelte es sich um leicht vorzulesende Texte.
Die Worte flossen aus Schedelas Mund, ohne dass sie viel von der Bedeutung mitnahm. Sie bemerkte, dass die Königin und ihr jüngerer Sohn sich dabei unterhielten, derweil der ältere Prinz sich in seinen eigenen Text vertiefte.
Die Tür öffnete sich. Schedela zuckte durch den plötzlichen Laut zusammen, verlor kurzzeitig den Faden und fuhr dann mit dem Vorlesen fort.
Sie merkte sich die nächsten Worte und hob den Blick etwas, derweil sie aus dem Gedächtnis vortrug.
Ein kleiner Junge war hineingestürmt, vielleicht acht oder neun Segmentjahre alt. In den Armen hielt er eine fauchende, sich windende Katze, welche ihm die Hände völlig zerkratzt hatte.
»Ishkan!« Die Königin erhob sich und starrte missbilligend auf ihr jüngstes Kind herab.
Dieser beachtete sie kaum, sondern lief zu seinem nächstälterem Bruder.
»Ich habe sie gefangen, Tsenem!«, berichtete er stolz, »obwohl du sagtest, niemand kann das.«
»Falsch«, grinste dieser, »ich sagte, kein normaler Mensch kann das. Du aber bist ein kleines Ungeheuer.«
»Nein«, krähte das Kind empört, »ich bin schon groß. Papa hat gesagt, dass ich an der Tafel sitzen darf.«
Schedela spürte, wie ihre Kehle trocken wurde.
Er ist es nicht, versuchte sie, sich selbst zu überzeugen. Obwohl sie wusste, dass ihr Neffe nie mehr Katzen fangen würde, half das nicht das Geringste gegen die Erinnerungen, die sie nun überkamen. Und mit den Erinnerungen kamen die Schuldgefühle. Joresch war damals genauso alt gewesen wie dieser Junge, von derselben Neugierde und Lebensfreude erfüllt. Fort. Für immer.
In diesem Augenblick bemerkte sie zwei Dinge: Sie hatte zu lesen aufgehört und die Königin stand vor ihr.
Die Wut verdrängte Schuld und Trauer so leicht. Sie stieg in ihr auf und ließ sie diesen Moment der Unachtsamkeit verfluchen. Nie wieder sollten diese Gefühle sie beherrschen … Und doch war es geschehen.
Schedela neigte den Kopf. »Ich bitte um Verzeihung, Majestät.«
»Nun, was geschehen ist, geschah. Sagt mir, was beschäftigt Euch?«
Ob die Wahrheit hier genauso gut half wie bei Garek? Schedela bezweifelte das. Wenn diese Frau Schedelas Intentionen herausfand, würde ihr Kopf sich bald aufgespießt über den Stadttoren befinden – oder welche Hinrichtungsart auch immer die Iderraner bevorzugten.
Aber meistens war es die Mischung aus Wahrheit und Lüge, welche die besten Ergebnisse erzielte. Und so, beschloss die falsche Vorleserin, würde sie auch hier vorgehen.
»Mein Bruder verlor seinen Sohn, der im Alter des Euren war. Daran fühlte ich mich erinnert. Verzeiht mir, Majestät.«
»Es liegt nichts Falsches in der Trauer«, meinte die Königin Iderras sanft. Schedela fragte sich, wie diese Frau es schaffte, ihr auf der einen Seite Verständnis zu vermitteln und auf der anderen Seite die Distanz zwischen ihnen zu wahren. »Aber Ihr solltet nicht zulassen, dass sie Euch die Zukunft raubt.«
Schedela nickte. »Wünscht Ihr, dass ich mit den Gedichten des Künstlers Dejek fortfahre?«
Tsagi musterte die Titel, die auf dem Tisch ausgebreitet lagen. In dem kurzen Moment der Stille hörte man deutlich die Worte des kleinen Ishkan, der seinen Bruder fragte: »Aber wenn so ein Bauernjunge stirbt, ist es nicht schlimm, oder?«
Starre. Erinnerungen an Tränen, Hass und Blut. Nein, dieser Junge ähnelte Joresch nicht.
»Der Tod eines jeden ist schlimm, für diejenigen, die ihn lieben«, erwiderte der Thronerbe Arraj. »Nur manchmal sind die Auswirkungen für einen größeren Kreis spürbar.«
Schedela fragte sich, ob der Junge die Auswirkungen einschätzen konnte, die sein eigener Tod mit sich ziehen würde. Wahrscheinlich nicht. Doch er war nur der dritte Sohn. Die Wahrscheinlichkeit, dass er eines Tages den Thron von seinem Vater erben würde, war gering. Joresch war der Thronerbe gewesen. Sein Unglück hatte zu einem Bürgerkrieg geführt, der das Land bis heute spaltete.
»Lies dieses Werk vor«, befahl Tsagi, ohne den Dialog ihrer Söhne in irgendeiner Weise zu kommentieren. Ihr Finger lagen auf einem kunstvoll gebundenen Buch mit dem Titel Von der Wichtigkeit der Liebe innerhalb der herrschenden Familie trug.
Das würde eine herausfordernde Lesung werden.
Als Schedela Stunden später den Palast verließ, war sie emotional erschöpft, aber zugleich erfüllt, von den Möglichkeiten, die sich hieraus ergaben.
Kurz kehrte sie in die Akademie zurück, um Garek Bericht über ihre erste Lesung zu erstatten. Hierbei zeigte er sich von der Nachricht, dass die Königin erneut nach ihr schicken wollte, so erfreut, dass er ihr den Rest des Tages frei gab.
Schedela nutzte die Zeit, um sich mit Jalldred zu treffen.
Dieses Mal traf sie ihn nicht in der Schenke, sondern außerhalb der Stadtmauern. Gemeinsam saßen sie in einem kleinen Hain und blickten auf die Straße von Iktar hinab, die bis auf Patrouillen verlassen war. Nur vereinzelt wagten sich mutige Händler in den Osten, um den Handel mit den Erin, der im Grenzkrieg zum Erliegen gekommen war, wieder aufzunehmen. Bis auf die Eidechsen, die bei der kleinsten Bewegung davon huschten, und den über ihnen kreisenden Geiern, waren sie alleine.
Irgendetwas an Jalldred hatte sich verändert, aber Schedela war sich nicht sicher, was es war. Auch war sie nicht geneigt, darauf Rücksicht zu nehmen. Er hatte hier auf sie gewartet, genauso wie er jetzt wartete, dass sie zu sprechen begann.
»Der zweite Teil meines Plans ist erreicht«, berichtete sie also, »ich bin am Königshof angelangt und wurde erneut zum Vorlesen gebeten.«
Ihr treuer Schatten nickte. »Wird sich der König dazugesellen? In vertraulicher Umgebung wird er Euch eher anhören.«
Schedela straffte sich. Sie wusste, dass sie sein Vertrauen nun sehr strapazieren musste und seinen Stolz verletzen würde. Das war ein Teil des Preises, den sie für ihren Plan entrichten musste. Und sie würde ihn bereitwillig zahlen.
Sie bemerkte, dass Jalldred ihr einen kurzen Seitenblick zuwarf. Ihm war ihr Zögern aufgefallen.
Also sagte sie es geradewegs heraus: »Der König ist irrelevant.«
Er starrte sie an. Überrascht. Verletzt. Und verstehend.
»Ihr hattet nie vor, ihn als Verbündeten zu gewinnen und so seine Truppen zu erhalten.« Aus gutem Grund war es ihr schwer gefallen, ihren Plan vor Jalldred zu verbergen. Sie kannte niemanden, der aus den kleinsten Indizien so schnell die richtigen Schlussfolgerungen ziehen konnte.
»Nein.« Eine lange Geschichte band ihr Volk an diese Stadt. Es war eine Geschichte, die mit Blut, Tränen und Leid geschrieben worden war. Zwischen ihrem Volk und Iderra bestand keine Freundschaft, auch wenn sie in den letzten Denias versucht hatte, eben das vorzuspielen. Und wenn Schedela Iderra verlassen würde, wäre sie des Königs Feindin.
Sie starrte in die Ferne. Hinaus in die Wüste, wo soeben ein Adler mit eleganten Flügelschlägen aufstieg und bald als dunkler Punkt immer kleiner wurde.
»Wieso?«, fragte er, »wieso habt Ihr mir nichts gesagt?« Allein dadurch, dass er es wagte, diese Frage zu stellen, offenbarte er die Tiefe seiner Verletzung. Schedela spürte einen Hauch von Ärger. Wieso nur meinte er, dass sie sich ihm gegenüber zu verantworten hätte? War sie nicht seine Königin, der er zur Treue verpflichtet war? Und dann ärgerte sich über jenen Teil ihrer Selbst, der sich wünschte, ihn nicht so verletzen zu müssen.
Sie entschloss sich, seine Frage zu übergehen.
»Seit neun Segmentjahren versuche ich, den Thron durch militärische Stärke zu gewinnen. Und ich bin nicht hier, um meinen eigenen Fehler zu wiederholen«, meinte sie stattdessen. Jalldreds Blick mied sie.
Er ging auf ihre Ablenkung ein. Kühler, ein klein wenig abweisender als zuvor. Oder kam es ihr nur so vor?
»Fehler?« Etwas klackerte. Mit einem raschen Blick sah sie, dass er kleine Steine im Sand aufeinander stapelte. Zwischen ihnen. »Bisher wurde jeder Krieg durch militärische Stärke gewonnen.«
Schedela ignorierte es und blickte in die Ferne, hinaus in jene ihr fremde Wüste, die sie nie weiter bereisen würde.
»Jalldred, ich mache mir keine Illusionen. Auf die bisherige Art werde ich meinen Thron nie gewinnen. Ich bin abhängig von der Güte meiner Unterstützer, die nie meinen Sieg im Sinn hatten.« Sie seufzte. Es hatte einige Zeit gebraucht, sich das einzugestehen. Ihr Gespür für die Machtspiele der Großen hatte sie erst noch entwickeln müssen. Doch jetzt fühlte sie sich bereit, um die Stammesfürsten und die Volksversammlung mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. »Ja, die Stammesfürsten profitieren von dem Gold, das ich ihnen für ihre Unterstützung zahle. Aber noch mehr profitieren sie von einem schwachen König auf dem Thron Callingers, der seine Kräfte in einem endlosen Krieg mit seiner Schwester aufbraucht, anstatt die Macht der Stämme zu begrenzen und die königliche Macht zu stärken. Sie wollen weder einen starken König, noch eine starke Königin.«
Jalldreds Steinturm brach in sich zusammen. »Das war schon immer so, Majestät.«
Ein wenig unwillig neigte sie den Kopf hin und her.
»Vielleicht. Ich aber gedenke, einen anderen Weg einzuschlagen.«
Er runzelte die Stirn. »Aber worauf wollt Ihr Euren Kampf begründen, wenn nicht auf den Männern, die für Euch sterben?«
Lange hatte sie überlegt, was ihr gegenüber ihrem Bruder fehlte. Mittlerweile hatte sie ein Wort gefunden, das eben dies beschrieb
»Legitimität«, antwortete sie.
Dieses Mal verstand er nicht sofort, worauf sie hinaus wollte. Vielleicht, weil er im Gegensatz zu ihr ein Soldat war und eine andere Möglichkeit für ihn nicht in Betracht kam.
Nachdenklich ließ er die Steine Steine sein, drehte seinen Oberkörper zu ihr und sah sie wieder an.
»Aber Ihr seid die legitime Erbin EuresVaters«, betonte er, »das hat nie jemand bestritten ... Es ist nur so, dass Euer Br... der Usurpator genauso legitimiert ist.«
Und eben das war der Denkfehler, dem sie selbst für die ersten Segmentjahre unterlegen war. Und nun hatte sie auch eine Möglichkeit gefunden, ihn zu beheben.
»Nein«, erwiderte Schedela, »mit dem Verlust meines Götternamens habe ich jeglichen Anspruch auf den Thron verloren. Und solange ich weder ihn zurückerlangt habe, noch den Vorwurf ausgemerzt habe, meinen Neffen ermordet zu haben, wird niemand ernsthaft erwägen, mich auf den Thron zu erheben.«
Joresch ... Sie hatte den kleinen Jungen nicht weniger als ihr Bruder geliebt, ebenso wie seine Zwillingsschwester Schirewel. Doch die Trauer hatte sie und Schedmasal nicht mehr geeint, sondern nur entzweit. Bis heute verstand sie nicht, wie es so weit hatte kommen können. Mittlerweile hatte sie es als unabdingbar akzeptiert. Vielleicht gehörte auch das zur Bürde eines Herrschers.
Wie auch immer. Dieser Vorwurf Schedmasals war der Makel, an dem sie seit neun Segmentjahren scheiterte. Es gab nur eine Möglichkeit. Ein riskanter Weg, dass selbst das Führen von Krieg einfacher erschien. Aber es wäre sinnlos. So sinnlos. Und sie war es müde, das Sterben ihrer Männer, die dauernden Niederlagen, die Perspektivlosigkeit ihres Kampfes. Also würde sie den einzigen Weg gehen, der blieb. Heute wunderte sie sich manchmal, dass sie damit so lange gewartet und es erst so spät gesehen hatte.
»Ich muss mich vor der Volksversammlung verantworten.«
»Schedela!« Ruckartig überwandte Jalldred die Distanz zwischen ihnen und packte sie am Arm. »Das ist genau, was er will.«
Ihre Blicke kreuzten sich. Sie trug ein ärmelloses Kleid. Seine Hand auf ihrer nackten Haut. Nein. Die Stimme, die in ihr schrie, war lauter. Schedela entwand ihren Arm seinem festen Griff. Rote Abdrücke zeigten sich darauf. Keiner von ihnen senkte die Augen. Sie las die Sorge in den seinen.
»Ich weiß«, meinte sie leise. Ihr Bruder hatte nie versucht, sie umzubringen oder Mörder auszusenden, obwohl er dazu wahrlich genug Gelegenheiten gehabt hätte. Eben jener Vorwurf, der ihr Verhängnis war, schützte sie zugleich. Schedmasal wollte sie lebend, um zu wissen, wo sich die sterblichen Überreste seines Sohnes befanden. Nur dann würde Joresch' Seele ihren Frieden finden. Deshalb hatte er mehrfach versucht, sie zu entführen und gewaltsam vor die Volksversammlung zu zerren. Gelungen war es ihm bisher nicht.
»Aber wenn ich zurückkomme, werden sie mich anhören und ich werde ihnen beweisen, dass ich unschuldig bin. Dann kann Schedmasal mir mein Thronrecht nicht länger vorenthalten. Der Vertrag meines Vaters, der eine Doppelherrschaft zwischen uns vorgesehen hat, würde auch ihn dann binden.«
Sie wusste, dass sie versuchte, sich und ihn von der Situation zuvor abzulenken. Es musste so sein. Sie war dankbar, dass Jalldred darauf einging. Vielleicht sollte sie ihn wegschicken, wenn sie zurück in Callinger waren. Ihm den Oberbefehl einer ihrer Armeeteile geben, um sich und ihn zu schützen. Ja, das wäre sicherlich richtig.
»Ihr würdet Seite und Seite mit Eurem Bruder regieren wollen, den Ihr all die Zeit bekämpft habt?«
»Ich hasse meinen Bruder nicht«, meinte sie nachdenklich. Joresch’ Verlust hatte ihre Beziehung vergiftet. Schedela war niemals verheiratet gewesen, noch hatte sie jemals Kinder geboren. Dennoch hatte sie sich immer wieder in einsamen und langen Nächten gefragt, wie sie an Schedmasals statt reagiert hätte. Wahrscheinlich hätte sie sich nicht anders entschieden. Sie beide waren schon immer gut dabei gewesen, die Schuld einander zuzuweisen. »Für mein Recht würde ich auch mit ihm an meiner Seite regieren.«
»Und was ist, wenn die Volksversammlung Euch nicht anhören wird? Ihr habt kein Recht, vor ihnen zu sprechen.« Er sprach schnell und zornig. Nicht gegenüber ihr, das wusste Schedela. Sie beide waren gut darin, Zorn über sich selbst zu empfinden, weil sie an einer Wahrheit gerührt hatten, die niemals ausgesprochen werden durfte.
»Ich weiß.« Sie wusste so vieles. Manchmal wünschte sie sich, wieder klein und unwissend zu sein. Damals war alles einfacher und unkomplizierter gewesen. Aber es war vorbei.
Mit dem Verbrechen, das ihr zu Last gelegt hatte, war sie auch aus ihrem Stamm ausgestoßen worden. Damit hatte sie nicht nur ihre Heimat und ihre Familie verloren, sondern auch ihren Götternamen. Er war es, der sie als vollwertiges Mitglied ihres Volkes mit allen Rechten und Pflichten kennzeichnete. Ohne Götternamen war sie rechtslos und hatte keinen Anspruch darauf, sich gegenüber ihr zur Last gelegten Verbrechen zu verteidigen.
»Doch wenn ich vor sie trete, werden sie mir zuhören.«
Jetzt verstand er. Sie erkannte es an der Art, wie seine Augen sich weiteten und sein Körper sich aufrichtete. Und an dem Lächeln, dem breiten Grinsen, das sein Gesicht erhellte.
»Du willst deinen Götternamen wieder erhalten«, schlussfolgerte er und nickte anerkennend, »Wie?«
Das war eine sehr gute Frage. Schedela hatte sich, seitdem sie erkannt hatte, dass das die beste Lösung war, damit beschäftigt. Hier, in Iderra hoffte sie, die Gelegenheit darauf zu erhalten.
Das erkannte Jalldred nun auch. Er legte den Kopf schief. »Deshalb wolltest du an den Königshof?«
Schedela nickte. »Es gibt zwei Möglichkeiten, wie ich meinen Götternamen zurückerhalten kann. Erstens muss ich sieben Panti vorbringen, die belegen, dass mir mein Göttername zu Unrecht entzogen und die Götter selbst mich in den Stamm aufnehmen wollen.«
»Wir wären nicht hier, wenn das dein Plan gewesen wäre«, meinte er.
Tatsächlich hatte Schedela kaum über diese Möglichkeit nachgedacht. Sie war so gut wie unmöglich. Sieben hochrangige Panti, die ihren Anspruch unterstützten, zu finden, allein war schon schwer genug, doch gemeinsam mit dem Bestehen einer Götterprobe war es ein Ding der Unmöglichkeit.
»Richtig.« Schedela erhob sich. Irgendwie erschien es ihr, des Augenblicks nicht würdig zu sein, weiter im Sand zu hocken. »Ich habe mich für die zweite Möglichkeit entschieden.«
Die zweite Möglichkeit beinhaltete das Vollbringen einer großen Heldentat, um den eigenen Stamm davon zu überzeugen, sie in ihre Mitte wieder aufzunehmen. Damit würde ihr auch der Göttername zurückgegeben werden.
Ihr Begleiter räusperte sich. Auch er war aufgestanden. Gemeinsam blickten sie nach Iderra, der Stadt, aus der das Unglück ihres Volkes gekommen war.
»Willst du Rache nehmen? Für den Ubandur-Krieg und Callingers Tod?«
Es war eine berechtigte Frage. Aber auch wenn Schedela an der Vergangenheit ihres Volkes sehr interessiert war, lag es nicht in ihrem Interesse dreihundert Segmentjahre alte Wunden wieder aufzureißen und Rache für einen ermordeten Volkshelden zu nehmen, indem sie dasselbe mit dem Herrscher dieser Stadt tat.
»Ich habe jemandem geschworen, dem iderranischen König nicht zu schaden und gedenke nicht, dieses Versprechen zu brechen.« Zwar glaubte sie nicht, dass Garek seine Versprechen ihr gegenüber halten würde, doch andererseits war der Versuch der Ermordung des Königs bei all seinen Schutzmaßnahmen sehr riskant. Schedela war bereit, gewisse Risiken auf sich zu nehmen, aber dumm war sie deshalb noch lange nicht.
Und sie entgegnete Jalldreds breites Lächeln.
»Aber wir werden den Thronerben Iderras entführen.«