Iderra, das Segment Ulaaruk, der vierte Tag vor Relaneet
Arraj starb sechs Tage nach dem Attentat, ohne sein Bewusstsein wiederzuerlangen. Schedela saß neben seinem Bett, lauschte auf seine röchelnden Atemzüge, beobachte die Fieberkrämpfe, die seinen Körper erzittern ließen und roch die Kräuter, mit denen die Ärzte seine Verbände einrieben, und die den Kampf gegen den Gestank der schwärenden und entzündeten Wunden längst verloren hatten.
Der Mann, der sich nach ihrem Volk und dessen Gebräuchen erkundigt hatte und zwischen ihnen eine freundschaftliche Beziehung hatte aufbauen wollen, war lange fort. Sie hatte ihn verloren an den Schmerz, an die Fieberträume, in denen er immer wieder einen Namen flüsterte, der nicht der ihre war – und nun verlor sie ihn auch an den Tod.
Tsagi Anat saß an der anderen Seite seines Bettes, seine Hand zwischen den ihren, als ob sie versuchte, ihm ein Stück ihrer Wärme zu geben. Sie betrachtete ihren Sohn, kühlte seine Stirn und wisperte ihm leise Worte ins Ohr. Keiner von ihnen sprach, während sie hilflos Arrajs Sterben zusahen. Die Ärzte hatte die Königin schon vor Stunden in den Nebenraum verbannt. Es gab nichts mehr, was sie hätten tun können.
Schedela hatte bereits am Totenbett ihres Vaters gesessen, war im Schatten des Todes ihrer Mutter aufgewachsen, hatte dem Sterben unzähliger ihrer Männer zugesehen und sie trotzdem immer wieder in den Tod geschickt, und dennoch war Arrajs langsamen Sterben kaum zu ertragen. Bereitwillig hatte sie seinen Tod in ihren Plänen in Kauf genommen, doch dass er auf diese Weise aus dem Leben gerissen wurde, blieb ihr auf eine grausame Art und Weise unbegreiflich.
Ein letztes Aufbäumen seines Körpers, ein letztes Zucken und dann – nur Stille. Wie erstarrt saßen sie und Tsagi Anat einander gegenüber, den Blick auf einen Toten gerichtet. Einen Sohn, einen Verlobten. Tränen rannen über ihrer beider Gesichter, als Tsagi Anat sich vorbeugte und Arraj sanft die Augen schloss.
Dann sank sie in ihren Stuhl zurück. Schedela konnte förmlich beobachten, wie etwas in ihr zerbrach, wo sie ihren toten Sohn nun vor sich liegen sah. Wie erstarrt saß sie da, gleich einer Statue, der diese Welt nicht länger etwas bieten konnte, und ihr Blick wanderte in die Ferne, als ob sie ihm folgen wolle in jene andere Welt, aus der es keinen Rückweg gab.
Schedela verstand sie. Sie verstand sie so gut. Als sie nach Joresch‘ Verschwinden geflohen war, hatte es keine Zeit für Trauer gegeben. Doch so wie sein Lachen einst ihre Welt erhellt hatte, so hatte seine Abwesenheit auch ein Loch in ihr Herz gerissen. Und ihr Bruder war an seinem Verlust zerbrochen. Die Trauer hatte ihn ins Unerkenntliche verzehrt, ihn zu einem Schatten seiner selbst werden lassen, einer Karikatur des Jungen, den sie einst geliebt hatte.
Sie sah es in Tsagis Augen, das Bersten ihres Herzens, als ob jemand einen wunderschön gearbeiteten Krug aus reiner Freude an der Zerstörung auf den Boden schleuderte. Doch wenn Tsagi zerbrach, würde es Iderra mit ihr tun. Wer also würde sie zusammensetzen? Niemand. Es würde niemanden geben, der die Königin stützte, weil sie alle in ihrer Verzweiflung erwarteten, dass sie diejenige waren, welche die Welt zusammenhielt.
Sie müsste aufstehen, die Königin in die Arme nehmen, ob sich das nun ziemte oder nicht, um ihr zumindest etwas Halt zu bieten. Doch stattdessen blieb sie sitzen und weinte um Arraj, einen Mann, der so viel besseres verdient gehabt hätte. Fast wünschte sie sich, dass sie niemals aufgetaucht wäre. Vielleicht wäre dann all das nicht passiert, Arraj hätte jene Frau heiraten können, deren Namen er flüsterte, und wäre ein gerechter und guter Herrscher geworden.
Aber es hatte nicht sein sollen.
Sie war hier und er lag tot in seinem Bett.
Wieder und wieder betrachtete sie sein Gesicht, das nicht von Wunden verunstaltet war wie der Rest seines Körpers. Es sah nicht friedlich aus, nicht wirklich trotz allem, was die Dichter und Sänger behaupten würden, die dreizehn Trauergesänge bei seiner Beisetzung vortragen würden, weil der Tod weiter ging als die Vollkommenheit des Lebens.
„Ich hatte gehofft, dass immerhin er überlebt“, wisperte Tsagi mit einer Stimme, aus der jegliche Lebensfreude gewichen war. „Er war mein Liebling, ist es immer schon gewesen. Freiheitsbringer nannte ich ihn, Liebesschenker. Seit dem Moment, als ich ihm zum ersten Mal in den Armen hielt, war ...“ Ihre Stimme brach.
Schedela versuchte nicht die Stille mit Lügen darüber zu füllen, dass auch sie Arraj ähnlich geliebt hatte – auch wenn sie sich bei der Frage ertappte, ob sie ihn eines Tages nicht doch hätte lieben können, wenn die Pflichten nicht zwischen ihnen gestanden wären.
Sie war nie eine Mutter gewesen und würde diesen Schmerz über den Verlust eines Kindes, unter dem Tsagi nun brach, nie empfinden. Wieder und wieder versuchte sie, die richtigen Worte zu finden, um die Königin zu trösten, doch alles, was sie dachte, hörte sich falsch und leblos an in ihren Ohren. Die Wahrheit war, dass es weder Worte noch Taten geben könnte, die diesen Schmerz heilen konnten. Vielleicht würde es die Zeit vermögen, eines Tages, wenn Arraj längst zwischen seinem Vater und seinem Bruder begraben war und die Erinnerung an sein Leben stärker war als jene blutbefleckte seines Todes.
Langsam, mit fast mechanischen Bewegungen, beugte Tsagi sich vor und strich Arraj zärtlich über das dunkle Haar, das sie mit ihm gemeinsam hatte.
„Ihr habt noch einen Sohn, Hoheit“, wagte es Schedela schließlich mit Worten, nie niemals genügen konnten, „und eine Enkelin, die beide Eure Kraft benötigen.“
Tsagi Anat erstarrte wieder, die Hand in dem Haar ihres Sohnes verkrampft. Langsam hob sie den Blick, die Augen gerötet vom Weinen.
„Ja“, wisperte sie schließlich und nahm die Hand von ihrem Sohn fort, eine einzelne schwarze Strähne hing weiterhin zwischen ihren Fingern. „Und ein Volk, das ich gewiss nicht Kerajaan überlassen werde.“
Schedela war erleichtert darüber, dass sie noch Kampfgeist in ihrer Stimme las und einen Funkeln in ihren dunklen Augen sah.
„Ich brauche Eure Hilfe, Schedela.“ Noch immer klang Tsagi Anat schwach und gebrochen.
„Gewiss, Majestät“, meinte die Königin Callingers und neigte den Kopf.
„Es darf kein Wort über seinen Tod aus diesen Gemächern dringen. Ich brauche Zeit, um Ishkan zu inthronisieren und den Botschafter zu entmachten. Wir dürfen nicht zulassen, dass er einen Gegenkandidaten einberuft.“
Sie sprach mit geschlossenen Augen, als müsse sie den Blick von ihrem toten Sohn verschließen, um die Maske der Königin über die der leidenden Mutter ziehen zu können. Aber sie sprach. Und vielleicht würde das genügen.
Damit erhob sie sich, öffnete die Tür und trat in den Vorraum, wo ihre beiden engsten Ratgeber Zejk Iru und Zannikas sowie Mitglieder ihrer Leibwache, die sie massiv verstärkt hatte, warteten.
„Er ist gestorben“, berichtete sie leise, „veranlasst das Nötige.“ Schedela war sich nicht sicher, ob die anderen das sanfte Zittern in ihrer Stimme auch bemerkt hatten.
Die beiden Männer verneigten sich, gaben Befehle an die Wächter und kurze Zeit später wurden die Ärzte und Diener unter Bewachung fortgebracht. Man würde sie unter Arrest stellen, sodass kein Wort über Arrajs Tod den Raum verließ.
Die Königin dagegen blieb inmitten des Raumes stehen, den Blick in die Ferne und wahrscheinlich an die Erinnerung verloren, als ihre Welt noch heil gewesen war.
Sie trafen sich keine Stunde später mitten in der Nacht in den privaten Gemächern der Königin. Die Fenster wurden verhängt, sodass kein verräterisches Licht nach außen drang, die vertrauenswürdigsten Männer der königlichen Leibwache standen vor den Türen und jeder musste sich selbst von den bereitstehenden Getränken und dem Essen bedienen.
Sie waren zu acht. Die Königin saß am Kopf des Tisches, an ihrer linken Seite saß Nasiyses Bruder Daysan, der sich als Abgesandter seines Vaters seit mehreren Wochen in der Stadt aufgehalten hatte. Den Ehrenplatz rechts zur Königin hatte man Schedela zugestanden, während neben ihr Cherew saß, was die Iderraner Zejk Iru und Zannikas mit misstrauischen Blicken quittierten. Weiterhin waren der Zeremonienmeister und der oberste Kämmerer anwesend.
„Meine Herren, meine Dame, ich möchte sie darüber unterrichten, dass mein Sohn Arraj Nek soeben verstorben ist.“ Sie hob die Hand, als die ersten bereits beginnen wollten, ihr Beileid auszusprechen. „Die Lebenden bedürfen unserer Zeit und Aufmerksamkeit. Wenn das getan ist, bleibt uns die Zeit, auch die Toten zu betrauern. Und Arrajs Tod macht Ishkan zu Nek. Ihn auf den Thron zu bringen, ist unsere oberste Priorität.“ Ihre Stimme klang kalt, als sie das sagte. Den Schmerz, der zuvor noch ihre Züge verzehrt hatte, schien sie weit fortgeschoben zu haben.
Es war Daysan, der das Wort zuerst ergriff. Er war vielleicht fünf Jahre älter als seine Schwester und sah ihr ähnlich wie ein männlicher Zwilling.
„Ich darf Euch versichern, Majestät, dass Erin an Eurer Seite steht. Der Angriff auf Eure Familie war auch ein Angriff auf die meine und schon erklingen die Trauergesänge in der Wüste über Tsnem, der das Glück meiner Schwester war und auf immer sein wird. Schon loben sie das Wunder inmitten des Todes und sprechen Segen über seiner Tochter aus.“
Die Worte klangen formalisiert, mehr nach Tradition, doch in seinem Gesichtsausdruck las Schedela nur wahrhaftigen Zorn über das Schicksal, dem seine Schwester nur knapp entronnen war. Zugleich ahnte sie, dass er von Tsagi in die Beteiligung Pujabaats am Attentat bereits eingeweiht worden war und somit eine Rolle einnahm, deren Ziel darin gipfelte, die anderen auf Tsagis und seine Position einzustimmen.
„Ich danke Euch, Daysan“, meinte Tsagi.
Zannikas räusperte sich. Er war ein noch junger Mann, der – wie man ihr berichtet hatte – eine Vielzahl militärischer Orden gewonnen hatte, von denen er jedoch keinen auf seiner schlichten, zweckmäßigen Uniform trug.
„Wir werden gewiss alles tun, um Iderras Interessen durchzusetzen. Nach dieser Bluttat ist es unbezweifelbar, dass Volk und Staat der Thronbesteigung Ishkan Neks erwarten.“ Seine dunklen Augen wanderten zu Cherew. „Dennoch frage ich mich, wieso hier jemand am Tisch sitzt, den man noch vor kurzem der Komplizenschaft am Attentat beschuldigte.“
Gemurmel wurde laut.
Mit einem Blick zu Tsagi ergriff Schedela, wie sie es zuvor besprochen hatten, das Wort.
„Cherew ist seit vielen Jahren mein treuer Begleiter und Anführer meiner Leibwache. Wir haben ihn im Umfeld Pujabaats platziert, um Informationen über dessen Intentionen zu erhalten“, erläuterte sie. „In all der Zeit stand er in meinem Dienst.“
Tsagi hatte sich in ihrem Stuhl zurückgelehnt, in der Hand ein Glas mit Wein. Sie vermittelte eine Gelassenheit und Abgehobenheit über den Dingen, die Schedela bewunderte.
„Berichtet von Eurem Unterfangen, Cherew“, bat sie.
Erneut lauschte Schedela Cherews Bericht. Er fügte nichts hinzu, stellte es nur in ein anderes Licht, als ob er all das in ihrem Auftrag getan hätte.
Nun wandte sich die Empörung der Anwesenden nicht mehr gegen ihn, sondern gegenüber dem kerajaanischen Botschafter.
Zejk Iru fegte seinen Weinkelch vom Tisch, der klirrend auf dem Boden zersprang.
„Das können wir nicht dulden“, knurrte er.
„Wie ich schon sagte, wird Erin in jedem Falle auf Seiten Iderras stehen. Gemeinsam werden wir gegen den kerajaanischen Hochmut vorgehen“, versprach Daysan feurig und neigte den Kopf ehrerbietend vor der Königin. Ob er wusste, wie grausam der Krieg war?
Zannikas beugte sich vor. „Was ist denn das Ziel des Botschafters nach dem Attentat?“, fragte er ruhig, „hat er gar einen Kandidaten, den er auf den Thron setzen will?“
Tsagi nickte. „Ein Interesse an einer kerajaanischen Marionette auf dem Thron ist naheliegend. Ich vermute, dass Hishen Tej ursprünglich nach dem Tod meines Gemahls und meines Sohnes den Thron besteigen sollte. Doch er ist bei dem Attentat umgekommen und mein Sohn lebt noch. Allerdings berichten mir meine Spione, dass Pujabaat sich mit den Söhnen von Nourish Torin trifft.“
Zejk Iro zischte zornig. „Der Onkel Eures Mannes wurde auf Lebenszeit aus der Stadt verbannt, zurecht für den Verrat, den er einst begann. Seine Linie ist entehrt.“
„Ein kaiserliches Privileg könnte seine Söhne wieder in seine einstigen Rechte und Privilegien einsetzen“, gab der Zeremonienmeister zu bedenken, „auch wenn es jeden Gepflogenheiten widerspricht.“
„Die Frage ist, wie die zwölf Familien dazu stehen werden“, meinte Tsagi. Ihre Finger trommelten nachdenklich auf der Lehne ihres Stuhls.
Die Zwölf Familien waren, wie Arraj ihr einst erklärt hatte, eine mächtige Instanz, deren Zustimmung für einen König bei seiner Thronbesteigung unabdingbar war. Zunächst hatte sie geglaubt, dass sie vergleichbar mit der Volksversammlung waren, doch Arraj hatte nur gelacht, als sie ihre Vermutungen geäußert hatte.
„Wer würde denn so etwas wollen? Nein, sie haben außerhalb dessen keinen direkten Einfluss auf die Regierungsgeschäfte. Der Gedanke ist vielmehr, dass sie sich als Vertreter vergewissern, dass der König auch die Interessen seines Volkes vertritt. Es ist eine Sicherheitsmaßnahme, damit kein ungeeigneter Herrscher die Macht ergreift.“
Aber was sie als ungeeignet definierten, hatte auch Arraj ihr nicht erläutert. Ob Jugend dazugehörte?
„Es kann unmöglich in ihrem Interesse sein, einen König zu wählen, der unser Volk und seine Ehre so mit seinen Füßen trat“, murmelte Zannikas nachdenklich, „doch ist nicht auszuschließen, dass sie von Versprechen und klingender Münze Kerajaans zur Zustimmung bewegt werden können.“
„Eine Woche“, beschloss Tsagi Anat, „so lange kann ich den Tod Arrajs gewiss noch geheim halten. In dieser Zeit müssen wir die Zwölf Familien überzeugen und alles vorbereiten, dass Ishkan den Thron besteigen kann.“
Sie sprachen noch Stunden. Es galt, Strategien zu entwickeln, wie diese oder jene Familie zu überzeugen sei, Informationen über Pujabaats Ziele zu gewinnen oder die Position der potenziellen Thronanwärter in der iderranischen Gesellschaft zu schwächen sei. Niemandem war es in dieser Zeit erlaubt, sich weiter zu entfernen als bis zum Abtritt.
Sicherlich vergaß Schedela die Hälfte von dem, was besprochen wurde und die Königin hatte zudem verboten, ein Protokoll zu führen, doch am Ende der Nacht war ihre Stimme heiser und ihr Kopf voll der Gedanken und Pläne von dem, was noch zu tun war.
Schließlich stand die Königin auf, bedankte sich bei allen für die Beratung und schickte jeden zu seinen Pflichten zurück.
Müde taumelte Schedela davon, wünschte sich nichts mehr als in ihr Bett und zu Träumen, in denen keine Toten zu ihr sprachen.
Doch als sie ihre Gemächer betrat, erwartete Jalldred sie bereits im Vorraum. Er sprang aus dem Sessel auf, lief auf sie zu und bleib dann doch vor ihr stehen.
„Jalldred“, meinte sie nur. Sie war müde, so unendlich müde.
„Schedela, wir müssen reden.“
Sie nickte und öffnete die Tür zu ihrem Studierzimmer, auch wenn ihr ein anderer Zeitpunkt lieber gewesen wäre. Seit dem Attentat hatten sie kaum mehr als das Notwendigste gesprochen – zu beschäftigt war sie gewesen, zu oft hatte sie an Arrajs Sterbebett gesessen.
Sie schenkte ihm Wein ein, für sich jedoch setzte sie nur Teewasser auf, der Alkohol würde ihre Müdigkeit nur verstärken.
Sie saßen in den beiden Sesseln vor dem Kamin und starrten in die zuckenden Flammen. Schließlich stellte Jalldred eine Frage, die sie nicht erwartet hatte: „Wie geht es Euch, Schedela?“
„Ich bin müde, Jalldred“, erwiderte sie, obwohl sie genau wusste, dass es nicht das war, worauf er hinausgewollt hatte, „es gibt so viel zu tun.“
„Was werdet Ihr nun tun, Schedela?“, fragte er sie und sprach es zuletzt doch aus, „nun, wo der Thronfolger schwer verletzt ist und allen Erwartungen nach auch nicht wieder gesunden wird?“
„Es wird einen neuen Thronfolger geben“, antwortete sie, weil er Fragen stellte, auf die sie selbst doch keine klaren Antworten wusste. Warum sie ihn nicht darüber aufklärte, dass Arraj mittlerweile gestorben war, wusste sie selbst nicht.
„Gewiss“, stimmte er zu, „doch ist er ein Kind, das seine Mutter nach allem, was geschehen ist, gewiss nicht aus der Stadt lassen wird. Die Sicherheitsmaßnahmen wurden massiv verstärkt. Ihr werdet keine Möglichkeit haben, ihn zu entführen.“
„Nein. Eine Entführung kann und wird es nicht geben.“ Es schmerzte, das zugeben zu müssen.
„Und wie werdet Ihr dann Euren Namen zurückerlangen?“
„Mit der Freundschaft und dem Bündnis des iderranischen Volkes, mit dem ich nach Callinger zurückkehren werde.“
Das war kaum mehr als eine schwache Hoffnung, die allzu leicht vergeblich sein mochte, sie beide wussten das.
„Sie werden es niemals akzeptieren, Schedela“, meinte er schließlich unumwunden, „noch immer singen die Panti in den Nächten von der Grausamkeit Iderras, die in unserer Heimat wütete.“
„Ich weiß, doch versuchen muss ich es.“ Nachdenklich starrte sie in die Flammen. „Da ist noch mehr, Jalldred. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit in der Akademie gehabt. Ich kann es nicht einordnen, doch es geht um einen Eid, den mein Vater einst gab. Einen Eid, dessen Konsequenzen ich nun fürchte.“
Jalldred wirkte verwirrt. Er war es nicht gewöhnt, dass sie ihr Gedankennetz so frei und offen vor ihm spann.
„Was für ein Eid? Wem gegenüber?“
„Ich glaube, dass er diesen mit den Iderri schloss, doch was der Inhalt war ...“
„Den Iderri? Warum hätte er ein Bündnis mit den Iderri schließen sollen?“ Das schien eine unglaubliche Vorstellung zu sein und hätte Schedela nicht das Gedicht, so hätte sie das auch nicht für vorstellbar gehalten. Waren die Iderri doch ein unterworfenes Volk, das zurückgezogen in den Nomitko-Sümpfen lebte. Es gab im Alltag nur wenig Berührungspunkte zwischen ihnen und den Puidan.
„Ich werde mit Cherew darüber sprechen müssen. Vielleicht kann er weiterhelfen oder mir später Mitglieder seines Volkes vorstellen, die mir Fragen darüber beantworten können.“
Er allein war ein Überbleibsel alter Friedensverträge, nach denen Puidan und Iderri gleichermaßen in der Leibwache des Königs dienen mussten. Ansonsten war ihr kein Iderri bekannt, der eine einflussreiche Position am königlichen Hof eingenommen hätte.
Jalldred nickte nur. Sie sah wohl, dass ihm das missfiel und sie verstand seine Befürchtung, dass Cherews Anwesenheit ihn selbst aus ihrer Gegenwart drängte. Unsinn. Cherew war eben ... Cherew.
„Wenn es das ist, was Ihr in Iderra tun wollt, was sind dann Eure Ziele hier in Iderra?“
„Ich werde die Königin vorerst bei der Inthronisierung ihres Sohnes unterstützen. Ist die Krönung vollzogen und Pujabaat entmachtet, werden wir zurückkehren.“
„In die Heimat.“
„Ja“, wisperte sie leise und dachte an die Wälder, den Frühlingsregen auf ihrer Haut, der die Gerüche von nasser Erde und Kräutern in seinem Schatten hinter sich hertrug.
Die Heimat und all das, was diese für sie bereithalten mochte.
Hoffentlich einen Götternamen.