Callinger, Hanuvbre-Gebirge am Lauf des Fedlas, der erste Helam des Segments Retoldut.
Mared. Das Wort hallte in Sinamets Gedanken wieder und erinnerte sie an all die Momente, als man sie »Mared Sinamet« gerufen hatte. Jetzt war sie nur noch eine Panti, die jedes Anrecht auf diese Bezeichnung verloren hatte. Warum also erinnerte der Fremde sie daran? Warum wühlte er einen Schmerz auf, von dem er gar nicht wissen konnte?
»Wer bist du?«, wiederholte sie die Frage.
Der Fremde legte den Kopf schief. Sein Haar schimmerte leicht silbern im Licht der Flammen, derweil alles, was nicht vom Licht erhellt wurde, nur schemenhaft zu erkennen war. Nun erschien er ihr viel älter zu sein, als sie zunächst vermutet hatte.
»Ich bin nicht mehr als ein Wanderer, den es an diesen merkwürdigen Ort getrieben hat«, antwortete er. Einen Wanderer, den es in ihre Quelle getrieben hatte? Dessen Ankunft von einem Zeichen der Götter begleitet worden war?
»Ein Wanderer?«, wiederholte sie ungläubig.
Er nickte. »So ist es.« Sie wusste, dass sie ihn nicht fürchten brauchte – die Götter hätten sie gewarnt. Ein Lächeln schmückte seine Lippen. Er wirkte nicht böswillig, ganz und gar nicht. Aber fremd. So fremd.
»Und auf deinen Wanderungen hast du über mich erfahren?« Es war unmöglich, dass er von den Dorfbewohnern des Umfeldes davon erfahren hatte. Sie wussten es nicht. Als Sinamet vor neun Segmentjahren hierher gekommen war, hatte sie ein neues Leben begonnen. Dies schloss ein Schweigen über die Vergangenheit mit ein. Umso beunruhigender war die Tatsache, dass dieser Mann so viel über sie wusste. Sie bemühte sich, das Zittern in ihren Händen zu unterdrücken.
Er deutete zu ihrer Bettstatt, die hinter dem Vorhang nur halb verborgen war.
»Du redest im Schlaf.«
Verblüfft folgte sie seiner Handbewegung. Tatsächlich? Die Erklärung erschien zu simpel, zu einfach zu sein. Aber es war auch einfacher, daran zu glauben, als dass jemand in ihrer Vergangenheit herumgeschnüffelt hatte. Und sie lebte alleine, wer also konnte ihr sagen, ob sie des Nachts sprach, wenn die Träume sie zu sehr quälten?
»Du musst diesen Masal sehr geliebt haben.« Sinamet schloss die Augen. Sie erinnerte sich an seinen Blick, die Verzweiflung, wie er ihr die Arme entgegenstreckte und… Nur ein Traum, der einen Schmerz in sich trug, welcher alleine der Vergangenheit angehörte. Ja, sie glaubte ihm, dass er sie im Schlaf hatte reden hören. Sie hatte Masal nur mit seinem Spitznamen gerufen, wenn sie alleine gewesen waren. Niemand anders kannte ihn. Und für Masal selbst war sie vor neun Jahren gestorben. Von wem also sollte er es erfahren haben, wenn nicht von ihr selbst?
»Das habe ich«, wisperte sie und sah ihn an. Sie tat es noch immer. Der Schmerz hatte die Liebe auch nach all den Segmentjahren nicht vertreiben können. »Aber manchmal gibt es Entscheidungen, die getroffen werden müssen. Dabei sind die eigenen Gefühle unerheblich.«
Er trat ein Stück auf sie zu. »Und wegen einer Entscheidung versteckst du dich hier?«, fragte er.
Sinamet zuckte zusammen. »Ich verstecke mich nicht«, widersprach sie lautstark, »ich habe die Entscheidung getroffen, denen zu helfen, die meiner Hilfe bedürfen. Sie haben niemanden außer mir.«
Plötzlich hob er die Hand und griff über seinen Kopf inmitten der Kräuterbüschel, welche unter der Decke hingen. Vorsichtig zerrieb er ein Blatt zwischen seinen Fingern. Es zerbröselte leicht und die einzelnen Teile fielen zu Boden.
»Und das ist sehr ehrenwert«, meinte er, »und doch kannst du mir nicht sagen, dass du unser Gespräch nicht genießt. Du bist eine Gelehrte, Sinamet, die an diesem Ort so austrocknet wie diese Blätter.« Wie kam es nur, dass er ihre Gedanken besser verstand, als jene Personen, die seit neun Segmentjahren ihr Umfeld waren? »Ich glaube nicht, dass du dich nicht danach sehnst, wie es früher gewesen ist.«
»Nein«, gab sie zu, nicht verstehend, wie das Erscheinen eines Fremden der Vergangenheit auf einmal Tür und Tor öffnete, »aber es ist Vergangenheit.«
Sie trat an ihm vorbei und holte die Reste des Abendessens. Aufgaben verhalfen ihr dabei, sich abzulenken von den Gedanken, die sonst zwangsläufig aufkamen.
»Hast du Hunger, …?« Sie stockte, sowie ihr auffiel, dass sie seinen Namen nicht kannte.
Mit Schüssel und Brot in der Hand blieb sie vor ihm stehen. »Wie heißt du?«
Er runzelte die Stirn und sah verwirrt aus. Nach dem bisherigen Gespräch war dies eine angenehme Überraschung, sodass Sinamet unwillkürlich lächeln musste. »Ich weiß es nicht.«
»Dann werde ich dir einen Namen geben«, beschloss sie. Sie probierte einige Namen ihres direkten Umfeldes aus. Aber keiner von diesen wollte zu diesem merkwürdigen Mann passen, der sie bereits so sehr herausgefordert hatte.
»Lurrved«, meinte sie plötzlich, »Wie klingt das?«
Er wiederholte den Namen. Dann nickte er. »Er ist so gut wie jeder andere. Doch sagt dieser Name nichts über mich aus, die Art, wie ich handle und auf andere zugehe.« In seinen Ansichten war er beharrlich. Das gefiel ihr.
»Aber für mich bedeutet er viel.« Lächelnd reichte Sinamet ihm die Schüssel und das Stück Brot. »Mein Meister-Panti trug diesen Namen. Er ist schon vor Jahren gestorben.«
»Dankeschön.« Er neigte den Kopf und begann zu essen. Sie hatte sich gewünscht, dass er noch etwas sagen würde, doch er aß schweigend, derweil sie ihm zusah.
Erst als er fertig war, meinte er: »Ich werde diesen Namen mit guten Erinnerungen verknüpfen, auch wenn diese unbequem sein mögen.«
»Durch unbequeme Erinnerungen wächst man«, wiederholte sie eine Weisheit des anderen, toten Lurrveds.
»So ist es«, antwortete er und reichte ihr die Schale zurück.
In seinen Augen funkelte etwas. Und auch wenn sie nicht aus ihm schlau wurde, so hatte sie zumindest die Gewissheit, dass er sie mit Unangenehmen konfrontieren würde. Was daraus in Zukunft erwachsen würde – sie wusste es nicht.
Noch lange sprachen sie in dieser Nacht über das Leben, Sinamets Zukunft und die Männer, Frauen und Kinder der Dörfer. Diese interessierten ihn besonders, immer wieder wollte er Dinge aus ihrem Alltag erfahren, bis sie ihm ausführliche Erklärungen gegeben hatte.
Schließlich, als Sinamet die Augen nicht länger offenhalten konnte, beendeten sie das Gespräch und nutzten die letzten Stunden der Nacht, um zu schlafen.
Und nun träumte sie nicht mehr, sondern schlief so tief und fest wie schon seit Jahren nicht mehr.
Lurrved schien ihr ein Gesandter der Götter zu sein.
»Panti! Panti!« Die Tür wurde aufgerissen und das helle Licht der Morgensonne ergoss sich auf den Boden. »Heute ist Luvvjassed! Sie kommen, um ...«
Schalwa brach ab und blieb inmitten der Tür stehen, sowie er Lurrved erblickte, der soeben das Feuer anzündete. Der Junge blinzelte kurz.
»Du bist kein Traum, oder?«
Sinamet musste ob der Kindlichkeit Schalwas lächeln. Für ihn war es leicht, ein solches Erlebnis für einen Traum zu halten. Sinamet dagegen …
Lurvved sah zu ihm auf. »Nein, ich bin so wirklich wie du auch.«
»Das ist gut«, meinte Schalwa nach einem Augenblick des Nachdenkens, »dann hat die Panti jemanden, der auf sie achtet, wenn ich nicht da bin.« Kinder waren erstaunlich. Gestern hatte der Junge noch solche Angst gehabt, und jetzt vertraute er ihm bereits ihre Sicherheit an? Was war geschehen, dass sich seine Meinung so geändert hatte? »Du passt doch auf sie auf, oder?«
»Das werde ich«, versprach Lurrved, bevor Sinamet etwas einwenden konnte. Sicherlich musste der Mann zu seinen eigenen Leuten zurück – wo auch immer die sein sollten. Sie würde bald mit ihm darüber sprechen.
»Erzählst du mir von diesem Luvvjassed?«, fragte der Fremde. Wieder einmal war Sinamet überrascht davon, wie leicht ihm die Aussprache der Wörter fiel.
Schalwa legte den Kopf schief. »Nein«, antworte er schließlich, »du musst es sehen, um zu verstehen.«
Luvvjassed… Sofort fühlte Sinamet sich schuldig, dass sie bis eben nicht an dieses Fest gedacht hatte! Es schien, als ob die letzten Ereignisse sie vollends vereinnahmt hätten. Dabei durfte es nicht sein, dass sie darüber ihre Pflichten vernachlässigte!
»Dann werde ich es sehen«, antwortete Lurrved in seinem akzentfreien und doch seltsamem Singsang.
»Ja!« Die Augen des Jungen blitzten freudig. Sinamet musste lächeln.
»Hier.« Sie drückte ihm ein mit Erbsen gefülltes Fladenbrot in die Hand. »Nimm dies, wenn du deinen Posten einnimmst. Aber zuvor lässt du die Ziegen raus.« Es wäre sinnlos, den Jungen jetzt nach Hause zu schicken. Die paar Stunden konnten sie noch warten.
Schalwa sank in eine überschwängliche Verneigung. »Selbstverständlich Panti.«
Mit einem letzten Blick auf Lurrved lief der Junge nach draußen. Kurz darauf waren Jubelrufe zu vernehmen. Sie konnte nur hoffen, dass er keinen Blödsinn anstellte.
Den Vormittag verbrachte Sinamet damit, Lurrved ihre Hütte und die nähere Umgebung zu zeigen. Nur zu der Quelle, wo er fast ertrunken wäre, gingen sie nicht. Die ganze Zeit suchte sie nach Krankheits- oder Schwächesymptomen, doch das Einzige, was ihm zu fehlen schien, waren vereinzelte Erinnerungen. Diese versuchte er, mit vielfältigen Fragen zu kompensieren. Sinamet störte dies kaum. Es war lange her, dass sie sich so ausführlich mit jemandem unterhalten hatte. Seite an Seite erledigten sie Aufgaben im Haushalt und untersuchten das Dach, wo Teile des Rieds ersetzt werden mussten.
Es war gegen Mittag, als Schalwas Ruf erklang. »Sie kommen.«
Sinamet ließ ihre Arbeit liegen und ging zu dem Pfad, der hinab ins Tal führte. Lurrved folgte ihr. Dort, auf einem Vorsprung, von wo aus man gut hinab blicken konnte, stand Schalwa. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht sah er hinunter.
Sinamet folgte seinem Blick. Dass »Sie« entpuppte sich als ein einzelner Mann, der den beschwerlichen Aufstieg zu ihr unternommen hatte. Beunruhigt warf sie einen Blick zu Schalwa, der die Stirn runzelte.
»Es ist Petsahed«, murmelte er. Seine Augen waren deutlich besser als die der alten Frau. »Warum ist er alleine?«, stellte der Junge die Frage, welche auch sie beschäftigte.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Sinamet leise und blickte Petsahed, dem Pischoti der hier lebenden Gemeinschaften, entgegen.
Es dauerte nicht lange, da hatte er sie erreicht.
»Panti Sinamet«, begrüßte Petsahed sie, »Schalwa.« Sein Blick fiel auch auf Lurrved, doch ging er nicht weiter auf den Fremden ein.
Sein Atem war gehetzt und seine Stirn war nass vom Schweiß. Er musste den Aufstieg in großer Eile hinter sich gebracht haben, denn war Petsahed ein gesunder und sportlicher Mann. Seit vielen Segmentjahren war Petsahed der Pischoti, ein direkter Untergebener des Stammesfürsten und gewählter Anführer der vier Dörfer, für die Sinamet als Panti verantwortlich war. In dieser Zeit hatten sie sich gut kennengelernt. Wenn es eine Person an diesem Ort gab, den sie als Freund bezeichnet hätte, dann war er dies. Die Sorge um die Personen, die ihnen anvertraut war, hatte sie geeint und mit der Zeit war daraus eine Akzeptanz und Anerkennung für die Leistungen des jeweils anderen erwachsen. Die Tatsache, dass er sie jetzt alleine aufsuchte, beunruhigte Sinamet.
»Was ist passiert?«, fragte sie ihn. Ansonsten wäre er nicht hier. Nicht alleine. Und er trug die Fackel nicht bei sich. »Wo sind die anderen?«
»Ist die Fackel erloschen?«, platzte es aus Schalwa hinaus. Die Fackel, welche der bedeutendste Teil des Rituals Luvvjassed ausmachte, hatte Petsahed mit sich bringen sollen.
Der Mann mittleren Alters schüttelte leicht den Kopf. »Nein. Ich bin voraus gegangen.«
Sinamet beruhigte diese Aussage kaum. »Was ist geschehen?«, fragte sie den einflussreichsten Mann der Gegend erneut.
Wieder blickte Petsahed zu Lurrved, dann wandte er sich zu ihr um. »Können wir reden?«
»Natürlich.« Sinamet deutete auf ihre Hütte. »Lass uns hinein gehen.«
Ohne zu zögern, setzte der Pischoti sich in Bewegung.
Besorgt folgte Sinamet ihm.
Petsahed nahm sich nicht die Zeit, sich zu setzen. Stattdessen ging er in der Hütte umher, strich sich immer wieder das Haar aus der Stirn und zeigte allgemein eine Unruhe, die sie von ihm nicht gewohnt war.
»Was ist geschehen?« Sinamet, die sich gegen einen der Stützpfeiler gelehnt hatte, musterte ihn.
Für einen Moment hielt der Pischoti inne. »Wer ist der Mann?«, fragte er, »Ich kenne ihn nicht.«
»Ein Wanderer«, erwiderte sie, nicht genau wissend, wie sie Lurrveds Erscheinen erklären sollte.
»Bedeutet er eine Gefahr?« Prüfend blickte der etwas jüngere Mann sie an. »Wird er uns schaden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht uns.«
Er nickte und setzte sich wieder in Bewegung.
Sinamet fröstelte. Sie verschränkte die Arme vor dem Körper. »Was …?«, wollte sie ihre Frage wiederholen.
»Uns hat ein Ausrufer aus Tsarem erreicht«, meinte Petsahed in diesem Augenblick.
Ein Schauer lief Sinamet über den Rücken, die schlechten Nachrichten, die nun folgen würden, befürchtend. Nachrichten aus Tsarem – der Hauptstadt des Reiches – kamen nur dann. Die Wege waren weit und ein Reiter benötigte viel Zeit.
»Welche Nachricht brachte er?«
Petsahed seufzte. »Die Königin liegt im Sterben. Alle Panti sind aufgefordert, die Götter um Rat zu bitten.«
Die Panti biss sich auf die Unterlippe. Mit der Furcht kehrten alte Gewohnheiten zurück. »Nun, dann muss der König wahrlich verzweifelt sein, wenn er die Panti um Rat bittet«, erwiderte sie mit einer leicht zitternden Stimme.
»Man hört, dass er sie sehr geliebt hat.« Der Pischoti betrachtete sie aufmerksam. Merkte er, dass ihr diese Nachricht mehr bedeutete, als die einer getreuen Untertanin, welche sich um die Königin sorgte? Wusste er vielleicht, dass sie Königin Malkat gekannt hatte? Nein, entschloss sie sich, sie hatte nie mit ihm darüber gesprochen.
»Wahrscheinlich ist sie schon tot«, lenkte Sinamet ab, »bald werden wir Gebete für sie sprechen und die Feuer ihr zu Ehren hoch auflodern lassen.«
»Dieser Tod wird die Festlichkeiten an Taffis Dufvir überschatten«, stimmte er ihr zu.
»Ich werde für sie beten«, meinte die Panti, »so wie es ihr gebührt.« Schon so viele Gebete hatte sie für das Königshaus gesprochen. Vielleicht würden die Götter ihr dieses erhören.
Petsahed legte den Kopf in den Nacken und starrte zur Decke hinauf. »Damit stirbt das Königshaus aus«, sprach er die Sorgen aus, welche nun vermutlich viele beschäftigten. Malkat war nicht alt gewesen, und viele hatten gehofft, dass sie noch einem weiteren Sohn das Leben schenken würde.
»Vielleicht wird seine Tochter Schirewel ihm auf den Thron folgen«, entgegnete Sinamet, derweil sie seinem Blick folgte. Spinnweben hingen unter dem Dach.
Der Pischoti schnaubte. »Unwahrscheinlich. Und mit ihr würde die Familie dennoch aussterben. Schirewels Kinder würden allein zur Familie ihres Mannes gehören.« Sinamet wollte nicht darüber reden, aber sie konnte es doch nicht verhindern. Dafür waren die Einflüsse, welche diese Geschehnisse für ihr Leben hier bedeuten konnten, zu groß, und diese Ereignisse zu eng mit ihrem eigenen Leben verflochten. Es mochte lange brauchen, bis die Nachrichten in diese entlegenen Ecken des Reiches Callinger kamen, doch das bedeutete nicht, dass sie den Personen hier irrelevant erschienen.
»Dann wird die Volksversammlung einen neuen König wählen«, erwiderte Sinamet sanft, »ich bin mir sicher, dass bei Taffis Dufvir viel darüber diskutiert werden wird. Sicherlich werden weisere Personen als wir gute Entscheidungen fällen.«
Sie sah, dass ihn das nicht überzeugte. Aber er hatte sich schon immer viele Sorgen gemacht – über das Leben und die, für die er verantwortlich war. »Du bist trotzdem vorsichtig, wenn du zu deinem Stamm zurückkehrst, Panti.«
»Natürlich, das bin ich jedes Segmentjahr.« Es war ein weiter und langer Weg bis zur Bucht von Laris, wo sie geboren und aufgewachsen war. Wie der Brauch es befahl, kehrte auch sie als Panti zurück, wenn der gesamte Stamm zum Fest Taffis Dufvir zusammenkam. »Und ich werde sicherlich Neuigkeiten vom Königshof hören, sodass wir Gewissheit haben.«
»Das ist gut«, sprach Petsahed erleichtert aus und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Es sind merkwürdige Zeiten, Panti. Seltsame Träume gibt es in den Dörfern und eine Königin liegt im Sterben.«
Und es gibt göttliche Zeichen, die von Veränderung erzählen, und ein Fremder ertrinkt nicht in einer Quelle der Götter, fügte Sinamet in Gedanken hinzu.
»Erzähl mir von den Träumen«, bat sie ihn.
»Helvkar hat geträumt«, berichtete er.
Sie nickte. Helvkar war einer der ältesten des nächsten Dorfes, dem das Alter das Augenlicht geraubt hatte. Mit den Träumen, die ihn regelmäßig heimsuchten, hatte er seinen Wert für die Gemeinschaft dennoch nicht verloren. Sinamet nahm das, was er sah, ernst.
»Was?«
Petsahed zuckte mit den Schultern. »Es war nicht aus ihm herauszubekommen. Er sprach davon, dass das Blut des Mondes hervortreten und das Licht schwinden würde.«
Wiederum erschauderte Sinamet. »Bist du dir sicher?«
Ihr gegenüber blieb der Peschoti stehen. »Ich wünschte mir, ich wäre es nicht. Was bedeutet das, Sinamet?«
Sie senkte den Blick. »Ich weiß es nicht«, wisperte sie. Auf dem Boden tanzte der Staub in den Sonnenstrahlen. »Aber ich kenne ein Gedicht, das eben jenes besagt.« Für einen Moment schwieg Sinamet, derweil sie versuchte, sich an die richtigen Worte zu erinnern. »Färbt der Mond sich rot, so werden seine Tränen weiß und wir unsere Heimat finden«, zitierte sie.
Ihr Gesprächspartner legte die Hände auf ihre Schultern, was sie dazu bewegte, aufzusehen. »Wessen Tränen? Wessen Tränen Sinamet?«
»Du weißt es«, erwiderte sie. Noch immer zitterte ihre Stimme. »Wir beide wissen, wessen Tränen gemeint sind.«
Stumm nickte er. Nun schien Petsahed ganz und gar erstarrt zu sein, der Schrecken hatte seinen Bewegungsdrang gelindert.
»Hab keine Angst«, ermutigte sie ihn, »es sind die Götter, die uns leiten. Und die Bürde, welchen sie uns auferlegen, können wir nur tragen. All das hat einen Sinn.« Versuchte sie soeben, sich selbst zu überzeugen? Wieso nur waren die Wahrheiten, welche sie zuvor als unwiderrufbar angenommen hatte, auf einmal so unklar? Wieso nur konnte sie den Pfad, der all die Segmentjahre so eindeutig gewesen war, vor ihren Füßen nicht mehr sehen?
Sie sah Petsahed an, der trotz seiner Rolle als Anführer von Gemeinschaften nur ein Mann war, der zweifelte und die Unterweisung der Götter brauchte. Sie, eine Panti, musste für diese Leute da sein. Nur hatte sie mittlerweile verlernt, für sich selbst da zu sein. Doch bewusst geworden war ihr dies erst aufgrund eines Fremden in einer Quelle.
Sanft drückte sie seine Hand. »Hab Vertrauen.«
Der Peschoti nickte zögernd. Die von draußen hereindringenden Geräusche entbanden ihn einer Antwort: Es schien, als ob der Rest seiner Begleitung eingetroffen war.
Es war eine kleine Gruppe, die draußen auf sie warteten. In einem äußeren und einem inneren Quadrat hatten sich vier Krieger und vier Jungen in Schalwas Alter aufgestellt. Einer der Jungen hielt eine Fackel, die in einem verzierten Halter aus Eisen platziert war, in der Hand. Lurrved und Schalwa standen abseits und beobachteten stumm, was nun geschah. Besorgt blickte sie zum Himmel, wo sich dicke Wolken vor die Sonne geschoben hatte.
Sinamet versuchte, sich nichts von der inneren Anspannung, welche sie ergriffen hatte, anmerken zu lassen. Wenn das Ritual misslang… Sie führte den Gedanken nicht zu Ende. Stattdessen trat sie vor.
»Panti, Panti! Wir bringen dir die Flamme, auf dass du sie segnest und über sie wachst«, riefen die Jungen im Chor.
»Volk! Volk!«, erwiderte sie jene Worte, welche seit Jahrhunderten die Panti an Luvvjassed sprachen, »so bringt mir die Flamme, damit ich sie segne und über sie wache.« Die Worte, an die sie so lange nicht gedacht hatte, kamen ihr leicht über die Lippen. Nur das Zittern schien ihr überdeutlich zu sein.
Sinamet trat zu den Kriegern. Jeder der Männer reichte ihr eine Blume, jede war in einer anderen Jahreszeit gesammelt worden. Die Blume des Frühjahrs – sie musste aus dem vorigen Jahr stammen - begann bereits, in ihrer Hand zu zerbröseln.
»Eure Gabe wurde gesehen«, sprach sie laut. Ihre Worte wurden von den Bergen zurückgeworfen. Das Echo verhallte nur langsam.
Die Blumen in der Hand schritt sie bis zu dem Jungen, der die Fackel trug. Vorsichtig näherte ihre Hand sich den Flammen, die in Gelb und Orange hin- und herzuckten. Ein Blatt nach dem anderen hielt sie an die Flammen und ließ diese in ihrer Hand verbrennen, bis die Asche zu Boden rieselte. Die Hitze war etwas, was sie in den Jahren zu ertragen gelernt hatte und um den Schmerz zu lindern, hatte sie die benötigten Kräuter. Für das, was dies in der Tradition ihres Volkes bedeutete, gab es jedoch keine Alternative.
»Das, was ihr in der langen Zeit der Dunkelheit erlitten habt, wurde gesehen.« Sie ließ die Reste der Asche los. Schwarze Flocken wurden vom Wind davongetragen und würden irgendwo und irgendwann zu Boden fallen.
»Und es wird euch vergolten werden. Die Felder werden gesegnet sein. So spreche ich, Panti des Gebirges, Dienerin der Götter.«
Der Junge reichte ihr die Fackel und sie nahm diese entgegen. Zwei Denias würde sie bei Sinamet verbleiben, bis sie diese an ihn zurückgeben würde. Die Flamme brannte das ganze Segmentjahr. Sie war ein Zeichen dafür, dass der Segen der Götter auf dem Stamm lag. Würde sie erlöschen, so bedeutete dies ein schreckliches Unglück. Um dies zu verhindern, gab es Sinamet.
»Mit dir wird unser Licht zurückkehren«, sprachen die vier Kinder.
»Das Licht hat euch nie verlassen«, fügte sie eigene Worte dem Ritus hinzu, »und das wird es nie, sofern dies der Wille der Götter ist. Es …«
Ihre weiteren Worte wurden vom Grollen des Himmels verschluckt. Nur wenig später setzte der Regen ein. Im kurzen Abstand prasselten die Tropfen hinab. Es zischte, sowie sie auf die Flammen trafen.
Jemand murmelte vom Zorn der Götter und Unglück. Ein Junge – Schalwa - weinte.
Mit beiden Händen umfasste Sinamet die Fackel. Wasser rann ihre Wangen hinab. Sie schrie Beschwörungen in den Regen hinaus, derweil die Flammen um ihr Überleben kämpften. Das Feuer flackerte, erlosch unter dem Wasser und glomm wieder auf.
»Panti! Panti.« Sie alle beobachteten den verzweifelten Kampf. Aber was sollte Sinamet ausrichten, wenn die Götter ihre Entscheidung getroffen und den Regen geschickt hatten?
Die letzte Beschwörungsformel sprach sie nicht zu Ende. Die Worte erstarben auf ihren Lippen, genauso wie die Flamme, die zwischen ihren Händen erlosch.
Salzige Tränen rannen ihr über die Wangen. Das Licht des Winters war ihnen genommen und die Zeichen deuteten auf eine düstere Zeit, die folgen würde. Über die Fackel hinweg blickte sie zu Petsahed. Er entgegnete ihren Blick. Und sie las die Furcht in seinen Augen. Sie beide wussten, was dieses Vorzeichen bedeutete.