Tsarem, die Hauptstadt Callingers, der erste Brabirt des Segments Retoldut
Es klopfte an der Tür zu dem Gemach des Königspaares. Instinktiv zuckte Schedmasal zusammen, warf einen kurzen Blick zu seiner schlafenden Frau und legte die Hand auf den Knauf des schmalen Kurzschwertes an seiner Seite.
»Vater?«, erklang es von draußen.
Erleichtert nahm er die Hand wieder fort und blickte seiner Tochter entgegen, die sich soeben in den Raum schob. Leise schloss sie die Tür hinter sich, um ihre Mutter nicht aufzuwecken. Schirewel sah verändert aus. Nicht vom Aussehen oder ihrer Kleidung, vielmehr von der Art, wie sie ihn anblickte und sich bewegte. Wieso war ihm das zuvor nie aufgefallen?
»Schirewel.« Er lächelte sie an und spürte, wie sich das schlechte Gewissen in ihm regte. »Deine Mutter schläft.«
»Sie schläft viel.« Mit leichten Schritten näherte sich die junge Frau und setzte sich neben ihn auf die Kante des Bettes. Sie griff nach der Hand ihrer Mutter und umfasste sie sanft. Die Schlafende rührte sich nicht. Würde sich nicht ihr Brustkorb regelmäßig unter der Bettdecke heben, so könnte man sie auch für tot halten.
»Ja«, stimmte Schedmasal ihr zu, »sie schläft mehr, als sie wach ist.«
Plötzlich umfasste ihre Hand die seine. »Du musst mich nicht schonen, Vater. Ich weiß, was geschehen wird.«
Ihre Direktheit überraschte ihn. Wo war das kleine Mädchen, das ihn dieses und jenes fragte, anstatt sich die Welt selbst zu erklären? Und wann hatte er aufgehört, der Held seines Kindes zu sein, sodass sie ihre Probleme mehr denn je alleine löste? Doch vermutlich musste das so sein, damit sie erwachsen werden konnte.
»Manchmal vergesse ich, wie groß du schon geworden ist«, sprach er seine Gedanken aus, beugte sich vor und küsste sie sanft auf den Scheitel.
Für einen Augenblick wanderten ihrer beiden Blicke zu der Sterbenden, Mutter und Ehefrau, und von ihnen geliebt.
»Fürchtest du dich, Vater?«, fragte Schirewel plötzlich und er erkannte, dass es ihr nicht um seine Angst, sondern vielmehr um die ihre ging.
Und nun sah er das kleine Mädchen in ihr, das ihn bat, die Scherben einer zerstörten Welt wieder zusammenzusetzen, das um Trost bettelte und ihn anflehte, die Monster, die mit der Nacht und den Träumen kamen, zu vertreiben.
»Ja«, antwortete er, weil es die Wahrheit war, die sie brauchte. »Neunzehn Segmentjahre haben wir gemeinsam verbracht und neun davon hat sie mit mir regiert.« Er strich ihr sanft über das rotbraune Haar und spürte, wie sie sich etwas entspannte. »Weißt du, ich denke, dass wir die Frauen gerne übersehen und unterschätzen, obwohl sie es sind, die unser Volk in seinem Inneren zusammenhalten.« Er seufzte. »Ohne deine Mutter würde ich nie hier stehen.«
Seine Tochter unterbrach ihn nicht mit Fragen, sondern lauschte stumm auf das, was er zu sagen hatte. Darin erkannte er, ähnelte sie ihrer Mutter, die auch immer instinktiv gewusst hatte, wann sie reden und wann sie zu schweigen musste, um das zu erfahren, was sie wissen wollte. Diese Erkenntnis linderte die Schmerzen seines Herzens ein wenig, konnte er sich doch darauf verlassen, seine getreue Tochter weiterhin an seiner Seite zu haben.
»Nach dem Tod deines Großvaters, dem Verrat deiner Tante und … Joresch.« Er stockte. Noch immer bereitete es ihm Mühe, über die damaligen Geschehnisse zu sprechen. Umso mehr jetzt, wo ihm nun der Abschied von eben jener Person bevorstand, die ihn durch diese schwierige Zeit getragen hatte.
Er blickte sie an. »Sie war es, die mich damals gerettet hat. Deine Mutter.«
Schirewel lächelte unter Tränen. Noch immer hielt sie sowohl die Hand ihrer Mutter als auch die seine fest umklammert.
Schedmasal zog sie zu sich heran, löste seine Hand sanft aus der ihren und schloss sie in ihre Arme. Er konnte spüren, wie sie erbebte.
»Und ich weiß, dass dieselben Fähigkeiten auch in dir schlummern. Du wirst sie hundertfach übertreffen.«
»Wie soll ich jemals das können, was sie getan hat?«, wisperte sie. Er konnte ihre Zweifel hören, die Angst vor der Zukunft.
Er drückte sie noch fester an sich. »Was hältst du davon, wenn wir es gemeinsam üben?«
»Ja.« Dankbar lehnte sie sich gegen seine Schulter. Es war ungewohnt, dass sie seine Nähe suchte und er war dankbar für diesen Moment.
»Es tut mir leid, dass ich deine Zeremonie nicht mitbekommen hatte«, entschuldigte er sich.
Sie drehte sich in seiner Umarmung, sodass sie ihn ansehen konnte. »Das Königreich geht immer vor«, entgegnete sie ernsthaft.
Er bewunderte sie für die Stärke, die sie in diesem Augenblick ausstrahlen konnte, obwohl in ihren Augen immer noch Tränen glitzerten. Jeder andere hätte es ihr abgekauft. Aber er kannte sie und wusste genau, dass es sie gekränkt hatte. Sie würde es nur nie zugeben.
»In diesem Fall hätte es nicht vorgehen dürfen«, widersprach er und erkannte noch in demselben Moment, dass dies die Wahrheit war. »Du bist die Einzige, die mir von meiner Familie bleibt.« Dass er noch eine Schwester hatte, ignorierten sie beide. Für ihn war sie bereits vor neun Jahren gestorben und es war nur eine Frage der Zeit, bis dies auch zur unabkömmlichen Realität werden würde. »Es wird Gerede darüber geben, dass ich deine Zeremonie in Hast verlassen habe.«
»Vater.« Sie lächelte. »Es wird immer Gerede geben, völlig egal, was du tust. Du kannst es nie allen recht machen.«
»Das ist wahr.« Er stupste ihre Nasenspitze an und genoss den kurzen Laut des Kicherns, der Erinnerungen an eine Kindheit hervorrief, die sie beide fast vergessen hatten.
Und nun, das wusste er, musste er ihr mitteilen, was er und Malkat beraten hatten.
»Ich habe einen Auftrag für dich.« Schlagartig wich ihr Lächeln und ihr Gesicht nahm einen ernsthaften Ausdruck an.
»Ich schicke dich an meiner statt zum Taffis Dufvir unseres Stammes. Du wirst die Ehre der Familie und des Königshauses vertreten.«
»Vater.« Sie starrte ihn an. Verwundert, überrascht. Sie hatte sofort verstanden, was dies bedeutete. »Die Stammesführer werden es niemals akzeptieren.«
»Sie werden es«, widersprach er, auch wenn sie beide wussten, dass er die Problematik damit vereinfachte, »Du bist meine Tochter. Und mein Wille ist es, dass der Thron nach meinem Tod an dich übergeht.«
Er sah den Zweifel auf ihrem Gesicht.
»Wieso nicht?«, forderte er sie heraus, »es gab mehrere Königinnen, nicht wahr? Sie regierten …«
»Ihre Männer regierten für sie, Vater.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »So berichten es die Lieder der Panti. Sie ermöglichten ihren Männern den Thron, der ihnen von ihrem Vater vermacht worden war, um selbst nur am Rand in Erscheinung zu treten.«
»Dann«, flüsterte er und nahm ihr schmales Gesicht in seine beiden Hände, »werden wir das eben ändern.«
Kurz öffnete sie den Mund, als ob sie etwas sagen wollte, dann schloss sie ihn wieder.
Und Schirewel nickte.
Wenig später kehrte Schedmasal zu dem Boten zurück, der noch immer in der Halle wartete. Seine Tochter ließ er bei seiner schlafenden Frau zurück. Instinktiv hatte er gespürt, dass auch seine Tochter still von ihr Abschied nehmen wollte und gewusst, dass sie diese Zeit für sich selbst brauchte. Noch immer widerstrebte es ihm, Schirewel in den Süden zu ihrem Stamm zu entsenden. Sie war soeben erst von der schwierigsten Aufgabe zurückgekommen, die ein junger Mann und eine junge Frau in seinem Volk bestehen konnte. Sie sollte das Recht darauf haben, nun ihre Jugend genießen zu können. Aber seine Ehefrau lag wie stets richtig: Sie war die Letzte, die geblieben war. Er brauchte sie. Und so musste er sie, unwissend wie sie war, in den Sumpf aus Intrigen und Lügen hinabstoßen. Er bedauerte es jetzt schon.
Doch nun schob er all seine Gedanken an seine Tochter beiseite, wurde von dem liebevollen Vater zu dem König, der wusste, was getan werden musste.
Dann betrat er die Halle.
Der Bote saß noch immer am Tisch, der reichlich gedeckt war und hörte einem von Schedmasals Flötenspielern zu, der sein Kunstwerk meisterhaft beherrschte. Wie alle Musiker war er blind.
»Ah, König Schedmasal!« Der Mann winkte ihm zu. »Schön, dass Ihr Euch auch endlich mal zeigt.«
Schedmasal blieb ihm gegenüber stehen. »Ihr könnt der Volksversammlung die Nachricht überbringen, dass ich zu ihnen kommen werde, damit wir die Usurpatorin gemeinsam und ein und für alle mal aus dem Land vertreiben.«
»Wir werden sehen.« Der junge Mann stand auf, griff nach seinem Kelch und leerte ihn in einem Zug. »Beeilt Euch lieber. Man kann von der Volksversammlung nicht behaupten, geduldig zu sein.«
Er winkte nach einem der Diener. »Wärst du so gut, mein Pferd holen zu lassen?«
Schedmasal, der sich in seiner eigenen Halle ignoriert fühlte, räusperte sich.
»Ihr könnt hier nächtigen. Die Wege sind des Nachts gefährlich.«
Der Bote drehte sich zu ihm um. »Ich verzichte dankend. Aber vielleicht solltet Ihr sie sichern, anstatt einen sinnlosen Krieg zu führen?«
»Ich denke nicht, dass Ihr Euch darüber ein Urteil erlauben könnt«, entgegnete Schedmasal leise. Der Flötenspieler war, wie er nun bemerkte, verstummt.
Sein Gesprächspartner seufzte. »Nein wahrlich, das kann ich nicht. Bitte verzeiht meine Anmaßung.«
Der König neigte den Kopf. »Überbringt der Versammlung meine Grüße.«
»Habt Dank für Eure Gastfreundschaft.«
Der Bote sank in eine Verbeugung und huschte, nachdem Schedmsasal ihm ein kurzes Zeichen gegeben hatte, aus der Tür. Draußen wieherte ein Pferd.
Schedmasal wurde aus diesem Mann nicht klug. Zuvor war er ihm nur arrogant und hochmütig vorgekommen, jetzt jedoch hatte etwas … Intrigantes in seinen Worten gelegen, als spiele er ein Spiel, dessen Regeln der König nicht kannte.
Nun, vermutlich würde er den jungen Mann nie wiedersehen, deshalb war es irrelevant.
Er winkte zwei andere der Diener heran. »Ruft die Ratsmitglieder zusammen.«
»Sofort, mein König.« Die jungen Männer verneigten sich und eilten davon, um seine Befehle auszuführen.
Schedmasal ließ sich auf den Platz sinken, auf dem soeben noch der Bote gesessen hatte.
»Spiel«, befahl er dem Flötenspieler, der zu einem melancholischen Lied ansetzte, das für gewöhnlich von zwei Sängern begleitet wurde, welche die Geschichte eines jungen Stammesfürsten und seiner Liebsten erzählten. Der Mann erntete Ruhm und Ehre in einem fernen Krieg, doch musste er feststellen, dass die Geliebte während seiner Abreise gestorben war.
Für den jungen Stammesfürsten war der Tod der Frau unerwartet gewesen. Schedmasal dagegen erwartete ihn.
Und das machte die Abreise nur noch schwerer.
Er goss sich etwas von dem dickflüssigen Bier in den vor ihm stehenden Krug ein und trank.
»In drei Tagen werde ich zur Volksversammlung aufbrechen«, eröffnete Schedmasal den versammelten Männern. All die Ratgeber und Generäle waren gekommen, auch wenn manch einer so aussah, als wäre er soeben aus dem Schlaf oder dem Suff gerissen worden. Die wenigsten von ihnen waren nüchtern. Schedmasal ebenso wenig, auch wenn es ihm gelang, das zu überspielen. Nun galt es, voller Zuversicht voranzugehen.
»Ich werde über die Männer verhandeln, die sie mir zur Verfügung stellen werden. Nabich?«
Der General blickte auf. Seine Augen funkelten vor Vorfreude.
»Ich werde Eure Truppen sammeln, Majestät«, verkündete er.
Schedmasal musste über die Weitsicht des Mannes schmunzeln. Auf Nabich, das wusste er, konnte er sich verlassen.
»Führt sie an den Tedrek und befestigt die Furt von Semelnar. Wir werden uns dort sammeln.« Im Frühjahr war der Tedrek ein reißender und gefährlicher Strom. Es gab nur wenige Orte, an denen ein Heer ihn zu dieser Zeit überqueren konnte.
»Wie viel Männer soll ich für den Schutz Tsarems zurücklassen, Majestät?«
Schedmasal zögerte. Er wusste, dass er Tsarem nicht verlieren konnte. Ein König, der seine Hauptstadt und den heiligen Baum seines Hauses nicht schützen konnte, verlor zugleich seine Ehre. Aber er hatte wenig Männer und brauchte jeden einzigen von ihnen im Norden.
»Die Garnison soll hierbleiben. Der Rest der Männer soll sich bei Semelnar sammeln.« Schedela hatte keine Schiffe. Solange er den Tedrak hielt, der sie und ihn trennte, war seine Hauptstadt sicher.
»Gimmos?«
Der Sohn eines Stammesfürsten schreckte auf. Er wirkte verschlafen, jedoch vergleichsweise nüchtern.
»Majestät?«
Schedmasal sah ihm fest in die Augen.
»Euch obliegt der Schutz meiner Tochter Schirewel. Führt sie sicher zu der Heimat ihrer Vorfahren, damit sie an meiner statt meine Familie vertreten kann.« Der junge Mann mochte eitel und hochmütig sein, doch war er ein hervorragender Schwertkämpfer und neigte zu Eifer, wenn man ihm denn etwas zutraute. Außerdem hatte Schedmasal so eine Ausrede, ihn nicht als einen der unteren Heerführer benennen zu müssen.
Wie er es erhofft hatte, sah Gimmos dies als eine Ehre an. »Es wird mir eine Freude sein.«
Das Lächeln auf seinem Gesicht gefiel dem König nicht. Ich hoffe für dich, dass du meine Tochter in Frieden lässt, dachte er, sprach es jedoch nicht aus.
»Lejass«, sprach der König nun den weisen Gelehrten an, der ihm schon mit so manch klugem Rat gedient hatte.
»Ich überlasse Euch in meiner Abwesenheit die Verwaltung Tsarems. Sorgt dafür, dass die Aussaat stattfindet und die Herden genug Futter haben und schickt Boten zu den Festungen des Südens. Sie sollen ihre Truppen an der Mündung des Fedlas sammeln. Ihr seid für ihre Versorgung verantwortlich.«
»Jawohl.« Er nickte, sodass die Knochenstücke in seinem Bart klackerten.
Zufrieden blickte Schedmasal in die Runde. Er wusste, dass es weiterhin noch viel zu tun gab, doch hatte er das Gefühl, auf einem guten Weg zu sein. Den ganzen, langen verdammten Winter hatte er mit Warten verbracht. Jetzt jedoch würde er bald wieder auf dem Rücken eines Pferdes sitzen, die Waffe in der Hand halten und dem inneren Drang seiner Seele nachgeben. Wäre da nur nicht die Frau in ihrem Bett …
»Meine Herren.« Schedmasal stützte die Hände auf den Tisch. »Wenn ich von der Volksversammlung zurückkehre, reiten wir in den Krieg.«