Iderra, das Segment Ulaaruk, der achte Tag vor Traapur
Lächelnd beobachtete Cherew, wie Schirewel mit entschlossenem Gesichtsausdruck ihren Speer aus dem Sand aufhob.
»Sei lieber nicht so vorlaut, heute besiege ich dich!«, kündigte die Enkelin des Königs an.
Ihr Zwillingsbruder Joresch grinste nur und ließ den seinen durch seine Finger tanzen. Das Holz wirbelte durch die Luft und die Spitze glänzte in der Nachmittagssonne.
Cherew hatte hinter Schedmasal gestanden, als man diesem seine beiden Säuglinge das erste Mal in den Arm gelegt hatte. Damals hatten sie friedlich nebeneinander geschlummert, jetzt maßen sie sich miteinander und gegeneinander im Kampf.
Und an diesem Tag stand er erneut hinter ihrem Vater, während die Kinder herangewachsen waren. Neun Segmentjahre waren die beiden mittlerweile. Die Zeit war so schnell vergangen.
»Was meinst du, Cherew?« Schedmasal beobachtete die Geschehnisse auf dem Platz aufmerksam und verfolgte jede Bewegung seiner beiden Kinder, die nun ihre Plätze einnahmen. »Wer wird diesen Kampf gewinnen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete er, »sie kämpfen beide gut auf ihre eigene Art.«
Das war die Wahrheit, doch innerlich hoffte er auf einen Sieg Joreschs. Auch wenn Cherew es niemals zugeben würde, so war er doch sein Liebling. Vielleicht weil er das Gefühl hatte, sich selbst in dem Kind zu erkennen.
»Du bist der Anführer meiner Leibwache«, meinte der Sohn des Königs, »wenn jemand erkennt, welche Kampffähigkeiten jemand hat, dann bist du es.«
»Es ist abhängig von vielen Faktoren«, gab Cherew zu bedenken, »aber heute wird Joresch gewinnen, sofern er sich gegen ihre ersten Angriffe zu verteidigen weiß. Schirewel ist gereizt und will einen schnellen Sieg, das wird sie unaufmerksam und offensiv kämpfen lassen.«
Schedmasal stützte die Arme in die Hüften. »Ich werde mit Nabich reden. Die Kinder müssen lernen, auf Arten zu kämpfen, die ihnen nicht behagen. Joresch soll mehr offensiv kämpfen, Schirewel sich mehr zurücknehmen. Dann lernen sie auch, sich gegen diese Art des Angriffs zu verteidigen.«
Bestätigend nickte der Leibwächter. »Ihr habt Recht.«
Er war dankbar für die Kampferfahrung des Thronerben. Ein guter Soldat und ein aufmerksamer Beobachter zu sein – es gab weitaus schlechtere Ausgangsvoraussetzungen, um den Thron zu besteigen.
Und dabei schien es Cherew noch gar nicht so lange her zu sein, dass sich Schedmasal mit seiner Schwester auf eben jenem Platz gemessen hatte, wo nun seine Kinder fochten. Und nun war der Junge von einst erwachsen, ebenso wie die Frau, die auf der anderen Seite des Platzes stand. Schedela war umringt von einer Gruppe junger Männer. Junge Stammesfürsten, die Söhne von Stammesfürsten und erfolgreiche Krieger – all jene, die sich momentan ihrer Gunst erfreuten.
Schon lange hatte Cherew sie nicht mehr kämpfen gesehen, auch wenn er sicher war, dass sie sich sehr wohl zu verteidigen wusste. Nein, Schedela ließ für sich kämpfen. Sie zog die Männer an, ließ sie um sich werben, ohne je einen von ihnen zu erwählen.
Es war eine ganz andere Macht, als ihr Zwillingsbruder sie ausübte.
Und Cherew missfiel das. Es war schwer, jemanden zu beschützen, wenn er sich ständig mit neuen Menschen in engster Nähe umgab. Er war für die Sicherheit der Tochter des Königs verantwortlich und das war wahrlich keine leichte Aufgabe.
So unterhielt sie sich auch jetzt angeregt mit einem Mann, der Cherew unbekannt war.
»Direch«, winkte er einen seiner Soldaten heran.
»Herr.« Der Mann eilte zu ihm.
Cherew nickte zu dem Mann neben Schedela. »Wer ist das neben der Prinzessin?«
»Ich weiß es nicht genau«, antwortete Direch, »Petsavir meinte, dass er gestern Abend aus dem Norden gekommen ist.«
»Und wann gedachte Petsavir, mir dass mitzuteilen?«, knurrte er. »Deine Ablösung kommt in einer halben Stunde?«
»Ja.«
»Danach richtest du Petsavir aus, dass ich ihn sehen möchte. Sofort.« Er hatte einmal über ein Vergehen des Unteroffiziers hinweggesehen. Eine zweite Unachtsamkeit würde er nicht durchgehen lassen. Es konnte nicht sein, dass er nicht über Personen in Schedelas nächster Nähe informiert blieb. Cherew konnte sich keinen Fehler erlauben. Ein Einziger mochte den Tod einer Person bedeuten, für die er verantwortlich war.
Es waren unruhige Zeiten. Erst vor ein paar Tagen war er gebeten worden, die Wachen der Königsfamilie zu verdoppeln.
»Sehr wohl, Herr.«
Cherew bedeutete ihm, seinen Platz am Rande des Innenhofes wieder einzunehmen. Aufmerksam ließ er seinen Blick über den Ort schweifen.
Inmitten des Sandes balgten Schirewel und Joresch miteinander. Sie beide hatten ihre Waffen verloren. Für einen Augenblick sah es so aus, als ob Joresch seine Schwester am Boden festhalten konnte. Keuchend lag das Mädchen auf dem Rücken, das Haar zerzaust, die Kleidung verschmutzt, und starrte ihren Bruder zornig an.
Doch noch bevor dieser das Wort »Gewonnen« über die Lippen bringen konnte, hustete er Sand und Schirewel sprang wieder auf die Füße.
Unwillkürlich musste der Leibwächter lächeln.
»Cherew«, vernahm er in diesem Moment eine wohlbekannte Stimme.
»Herrin Schedela.« Er drehte sich um und blickte in die Augen der Frau, der er einst ihren ersten Speer ausgewählt hatte. Am heutigen Tag sah sie wunderschön aus. Das dunkelgrüne Wollkleid betonte ihre schlanke Statur und die mit Goldfäden bestickten Säume hoben sich gegen ihre helle Haut ab. Ihr rotblondes Haar hatte sie zu einer Hochsteckfrisur hochgebunden, in die Blumen geflochten waren. Wann war sie nur erwachsen geworden?
»Ich kenne diesen Blick.« Ihre Augen funkelten fröhlich. »Es ist fast derselbe Blick, den du aufgesetzt hattest, als du mich aus dem Wald hierher zurückgebracht hattest.« Sie hatte Unrecht. Damals hatte er sich selbst gehasst, weil er es nicht hatte verhindern können, dass ein kleines Mädchen seinem Schutz hatte entfliehen können. »Was sorgt dich jetzt?«
Die Gruppe von jungen Männern war ihr bis hierhin gefolgt. In etwas Abstand zu ihnen warteten sie und taten so, als ob sie die Worte nicht gehört hatten, oder lächelten belustigt. Der Cherew unbekannte Mann tat nichts dergleichen. Er starrte nur Schedela an.
Sie schien seinem Blick gefolgt zu sein. »Oh.« Sie lachte auf. Viele hätten es für unbeschwert gehalten. Cherew konnte sie nicht täuschen. Die Leichtigkeit war schon vor Segmenten aus ihrer Haltung und ihrem Gesicht verschwunden. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Dann will ich deinem Gram Abhilfe schaffen.«
»Jalldred?«
Der fremde Mann lächelte erfreut, trat zu ihnen und nickte Cherew knapp zu. Wie alle von Schedelas Favoriten, sah er gut aus und verschwendete zu viel Zeit an sein Aussehen. Das hellblonde Haar war sorgfältig gescheitelt und reichte bis zu seinen Schultern. Und die für gewöhnlich schlichte und praktikable Kleidung eines Soldaten ließ er mit allen möglichen Verzierungen oder Einfärbungen außergewöhnlich wirken. Einzig der Dolch in seinem Gürtel wirkte simpel.
»Cherew. Zu deiner Beruhigung will ich dir Jalldred aus dem Stamm Mehiron vorstellen. Er ist gestern eingetroffen und vollkommen harmlos, wie er dir sicherlich gerne versichert.«
»Ich bin harmlos«, stimmte Jalldred ihr ernst zu, »zu denen, die ich meine Freunde nenne.«
Ein Tag und schon sind sie alle in dich verliebt, dachte Cherew. Oh ja, Schedela war gefährlich.
In diesem Augenblick gellte ein Schrei über den Hof.
Cherews Hand umklammerte seinen Speer und ließ ihn vorwärts wirbeln. Zuerst dachte er, es wäre eines der Kinder, doch diese hatten genauso überrascht in ihrem Tun angehalten wie der Rest der hier Versammelten. Schirewel hatte sogar ihren Speer fallengelassen, den sie zuvor wohl zurückerobert hatte. Joresch dagegen umklammerte den seinen umso fester.
Der Schrei kam von einer Frau, einer Dienerin, die auf den Hof gestürzt war. Ihre Frisur hatte sich aufgelöst und ihr Gesicht war verweint.
Mitten auf dem Platz, wo die Zwillingskinder Schedmasals gekämpft hatten, blieb sie zitternd stehen.
»Der König«, keuchte sie, »ist tot.«
Irgendwie hatte Cherews Erinnerung das Gesicht von Schedelas damaligem Favoriten mit dem Tod des Königs verknüpft. Und jetzt, wo er diesem Mann erneut gegenüberstand, empfand er erneut die damalige Verzweiflung, die Sorge um die Zukunft des Landes und um die beiden Zwillingspaare, die er zu schützen verpflichtet gewesen war. Der Tod des Königs war nicht seine Schuld gewesen. Jekar war damals schwer erkrankt gewesen und dennoch war mit seinem Tod die Einheit innerhalb der Familie und des Königreiches auseinandergefallen.
Hattest du nicht geschworen, all das hinter dir zu lassen, spottete die Stimme in seinem Inneren. Und jetzt sieh dich an. Wieder stehst du an dem Punkt, von dem du dich vor neun Jahren abgewandt hast.
»Pelayan«, stellte Cherew sich selbst vor. Der Name von Pujabaats oberstem Verwalter aus Kemuliaan war der erste Name, der ihm eingefallen war. Er wusste nicht, ob sich Jalldred auch an ihn erinnerte. Sie hatten nur diese paar Worte ausgetauscht und er war nur ein Leibwächter gewesen, niemand, mit dem sich der Sohn eines Stammesfürsten länger beschäftigte. Er hatte nie mehr von Jalldred gehört, doch anscheinend war dieser Schedela treu geblieben und hatte sie bis hierher nach Iderra begleitet.
»Kannst du laufen?« Besorgt musterte Jalldred ihn.
»Natürlich«, knurrte Cherew. Er warf einen letzten Blick auf die halbnackte Frau, deren verdrehter Körper auf dem Boden der Gasse lag. Es war Zeit, dass sie fort von hier kamen.
Der einstige Leibwächter von zwei Königen biss die Zähne zusammen und setzte einen Fuß vor den anderen. Sein Bein schmerzte. Das Pochen zog sich durch seinen ganzen Körper und ließ ihn erbeben und erzittern. Bereits nach einer geringen Strecke war Cherews Hemd schweißdurchtränkt.
Komm schon, feuerte er sich selbst an, du hast die Hunde damals überlebt. Das überstehst du auch.
Wirklich, säuselte die Stimme, oder haben die Hunde dich nicht vielmehr überstanden? Sie verfolgen dich in deinen Träumen und bis hierhin.
Die Hunde. Cherew stieß einen Fluch aus und zwang sich, die Geschwindigkeit zu steigern.
Jalldred, der sehr wohl bemerken musste, wie es ihm ging, sagte dazu nichts. Sie beeilten sich bloß, das Viertel der Iderri hinter sich zu lassen.
Immerhin lenkten die Schmerzen und die Flucht ihn erfolgreich von seinen inneren Qualen ab. Später, später würde er um die nun endgültig verlorene Heimat trauern können. Jetzt blieb nur der Weg nach vorne.
Zu ihrem Glück war das Viertel der Iderri nicht groß und kaum jemand schenkte ihnen größere Beachtung. Die meisten Bewohner schliefen bereits. Ein kleiner Junge tapste ihnen aus einer offenen Haustür kurzzeitig hinterher, wurde aber bald von einem älteren Mädchen wieder eingefangen. Hunde kläfften sie an, als sie an dicht aneinander gedrängten Häusern vorbeiliefen. Eine alte Frau drohte ihnen zornig mit einem Kräutermesser in der Hand, nachdem Jalldred einen Holzstapel umgerissen hatte. Kurz darauf lief er fast eine weitaus jüngere Frau über den Haufen, die ihnen in der Gasse entgegenkam. Diese lachte jedoch nur und rief ihnen einen anzüglichen Kommentar hinterher.
Schließlich erreichten sie das Ende des Viertels und tauchten in die heterogenere Menge jenseits der Iderri ein. Die Sprache von Cherews Heimat wurde von den Dutzenden anderer Sprachen der Weltstadt Iderra davongerissen. Bald vernahm Cherew kein einziges Wort mehr davon.
»Ich glaube, wir sind in Sicherheit.« Keuchend stützte Jalldred sich an einer Wand ab. Er verzog das Gesicht.
Cherew war zu erschöpft, um etwas zu erwidern. Auch er suchte Halt an einer Hauswand und verlagerte sein Gewicht auf sein unverletztes Bein, um sein anderes zu schonen.
»Wohin musst du?«, fragte der Puidan ihn.
»In Richtung der Pyramiden«, stieß er hervor.
»Dann können wir zusammen gehen.«
Cherew nickte nur. Zu mehr war er nicht mehr in der Lage.
Bist du wirklich so alt geworden?, spottete die Stimme, du kannst nicht mehr kämpfen, nicht mehr rennen … Und wie glaubst du, kannst du deinem Herrn dann dienen?
»Lass uns einfach normal wirken.« Er richtete sich wieder auf, nicht willens seiner losen Bekanntschaft noch mehr zu zeigen, wie schwach er eigentlich war.
Gemächlich schritten sie also durch die Straßen Iderras.
»Du bist nicht von hier«, versuchte Cherew, Informationen zu erhalten. »Woher kommst du?«
»Von einer kleinen Insel im Norden.« Jalldred zuckte mit den Schultern. »Weder ist sie reich an Bewohnern noch an Rohstoffen. Nur an endlosen Wäldern gibt es mehr als wie brauchen. Iderra ist tausendfach schöner.«
Lügner. Callinger war der schönste Schatz, den Cherew hatte. Die Erinnerung an die einstige Heimat und der Traum, eines Tages zurückkehren zu können, war der dünne Faden, der ihn vor der Selbstaufgabe hielt – das und sein Stolz.
»Wieso bist du dann hier?«, erkundigte er sich weiter und schluckte im letzten Moment einen Aufschrei hinunter, als sein Fuß in einer Lache, die hoffentlich nur Wasser enthielt, wegrutschte. Aber er konnte sich fangen.
»Von Zeit zu Zeit muss man etwas Neues sehen. Ihr habt Reichtümer und unermessliche Schätze, von denen mein Volk noch nie gehört hat. Mit dem richtigen Geschäft kann ich hier stinkreich werden.«
Natürlich, Dummkopf. Was hast du erwartet? Dass er von seiner verbannten Königin berichtet?
Und doch hatte Cherew eben das erhofft. Es half ja nichts. Egal, wie sehr er sich bemühte, die Erinnerung an das Mädchen, welches er nach Tagen der Sorge in einer verlassenen Hütte im Wald gefunden hatte, war so viel stärker und seine Entscheidung, einfach alles hinter sich zu lassen, scheiterte in demselben Moment. Er konnte es noch so viel versuchen, jener Teil in ihm, der wissen wollte, wie es seinem einstigen kleinen Mädchen ging, schrie lauter. Aber er konnte Jalldred kaum fragen. Und so litt Cherew stumm.
Und was soll dir diese Information bringen? Du kannst nicht zurück. Niemals. Du hast den Hof nicht umsonst verlassen. Du bist nicht grundlos aus Callinger geflohen.
»Und woher seid Ihr?«, stellte Jalldred natürlich die Gegenfrage.
»Kerajaan«, antwortete Cherew, der annahm, dass sich sein Gegenüber nicht sonderlich viel mit den Völkern Lendris auskannte. Die Einwohner Callingers hatten sich noch nie sonderlich viel für die Geschehnisse auf dem Kontinent interessiert. Was natürlich die Frage aufwarf, weshalb Schedela sich ausgerechnet hier in Iderra aufhielt.
Du versuchst es ja schon wieder, säuselte die Stimme, warum gibst du nicht einfach auf?
»Aber es spielt keine Rolle. Ich gehe dorthin, wo mein Herr mich hin befiehlt.«
»Sklaverei ist etwas Abscheuliches«, murmelte Jalldred, »es ist unehrenhaft. Wir haben keine Sklaven.«
Das stimmte nicht ganz. Sie mochten nicht als Sklaven bezeichnet werden, doch waren Kriegsgefangene und Menschen, die ihre Ehre verloren hatten, nicht viel besser gestellt. Ungerechtigkeit gab es hier und dort. Aber Cherew wollte sich nicht beklagen. Er hatte seine Ehre verloren und es war nur recht, dass er jetzt durch seine Sklavendasein zur Rechenschaft gezogen wurde. Es war eine Strafe seiner Götter, davon war er überzeugt. Sie hatten ihn verlassen, ihm ihren Schutz entzogen – nachdem er eben das provoziert hatte.
»Es gibt genug abscheuliche Dinge auf der Welt und es wird sie immer geben«, erwiderte er auf Jalldreds Aussage. »Das ist der Lauf der Dinge.«
Er überlegte, ob es eine Möglichkeit gab, dem anderen Informationen über Schedela abzuschwatzen. Sicherlich stand er weiterhin im engen Kontakt zu ihr. Es konnte doch kein Zufall sein, dass er ausgerechnet jetzt auftauchte!
Vorsichtig versuchte er, das Gespräch in eine bestimmte Richtung zu lenken, sprach über die Moden in Kerajaan und den Einfluss der verschiedenste Kulturen auf die Wirtschaft Iderras. Zu seiner Enttäuschung erzählte Garek kaum etwas, sondern antwortete nur vage auf seine Fragen. Von beiden Themengebieten schien er keine Ahnung zu haben – oder es interessierte ihn schlichtweg nicht.
Schließlich lockte er Jalldred mit dem Thema von Kampftechniken aus der Reserve und ließ sich von dem Jungen alles über die traditionelle Kampfweise Callingers berichten.
»Und bei euch kämpfen Frauen ebenfalls?«
Sein Gesprächspartner zuckte mit den Schultern. »Sie können eine Waffe halten, oder? Alles andere ist nebensächlich.«
»So eine müssten wir auch in den Arenen sehen«, schwärmte Cherew, »das Publikum würde ausflippen und mein Herr mich belohnen. Sind noch mehr von Eurem Volk in der Gegend?«
Für einen Augenblick dachte Cherew, er hätte die Mauer Jalldreds durchbrochen und die Verbindung zu Schedela gefunden. Denn sein Gesprächspartner zögerte. Doch dann verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck, seine Schritte beschleunigten sich und der Leibwächter spürte, wie er sich zurückzog.
»Ich weiß nicht«, brummte er abweisend. Cherew wusste, dass er misstrauisch war. In Zukunft würde er aufmerksamer sein und sicherlich fragte er sich bereits jetzt, was ein kerejaanischer Sklave im Viertel der Iderri verloren hatte.
Mittlerweile hatten sie das Zentrum Iderras erreicht. Die Straßen waren belebter, die Geräuschkulisse lauter und die Beobachter zahlreicher. Trotz der späten Stunde kam die Stadt hier nicht zur Ruhe.
Ebenso wenig wie Cherew. Sie wollen dich nicht, sang die Stimme zum wiederholten Mal in seinem Kopf. Und sie hatte ja recht. Er wusste nicht, wohin mit ihm. Ein Sklave, mehr war er doch nicht. All die Gedanken darüber, hier eine Heimat zu finden – vorbei. Wieder einmal hatte er versagt und eben das hatte er auch verdient.
In seiner Kindheit hatte Cherew einen am Flügel verletzten Vogel gefunden und seinem Onkel das Versprechen abgerungen, ihn gesund pflegen zu dürfen. Schließlich hatte er den Käfig geöffnet, doch der Vogel, der jetzt wieder fliegen konnte, hatte sich nicht gerührt, obgleich draußen die Freiheit wartete. Und ähnlich empfand Cherew. Es war leichter, sich auf den sicheren Käfig Pujabaats zu verlassen, denn auf die unstetige Freiheit, die einen weder versorgte noch schützte.
»Ich muss hier.« Plötzlich war Jalldred stehen geblieben. Er deutete auf eine schmalere Gasse, die, wie Cherew wusste, auf einen großen Platz mündete. »Wenn du dich das nächste Mal von einem Mädchen abstechen lässt, rette ich dich nicht.«
»Verständlich und danke.«
Jalldred nickte ihm knapp zu, dann war er fort. Cherew überlegte, ob er ihm folgen sollte, doch rasch verwarf er die Idee. Dafür war er viel zu langsam mit seinen verletztem Bein. Und irgendwie glaubte er, dass er den Puidan leicht wiederfinden würde. Es gab nicht viele von ihnen hier in Iderra.
Doch zuerst hatte er noch eine Verabredung.
In der Botschaft seines Herrn hatte gestanden, dass er sich im Garten der Künste mit dem Informanten treffen sollte. Ein noch halbwegs zurechnungsfähiger Passant wies ihm die richtige Richtung.
Und so befand sich Cherew nur wenige Minuten später in einer bewundernswerten Oase inmitten der Stadt. Hinter ihm ragten die Pyramiden der Akademien auf, das Gold der Dächer blitzte zwischen den grünen Blättern der Bäume empor, die hier trotz der Trockenheit sprossen. Kieswege führten durch den Garten, der in verschiedene Themengebiete aufgeteilt zu sein schien. Vielleicht stammten auch die Pflanzen aus verschiedenen Teilen des Kontinents?
Cherew war es gleichgültig. Vorsichtig schritt er durch den menschenleeren Garten, aufmerksam ob möglicher Beobachter.
Da. Hinter einer menschengroßen Steinfigur rührte sich etwas.
Seine Hand fuhr an seine Seite, doch natürlich fanden seine Finger den Griff einer Waffe nicht. Stattdessen sank er in eine Abwehrhaltung, wobei sein Bein schmerzend protestierte. Er konnte sich auch mit den Fäusten noch gut genug verteidigen.
»Wer ist da?«, fragte er misstrauisch.
Ein Mann trat aus dem Schatten hervor. Er trug eine knielange schmutzige Hose, wie sie auch die Arbeiter bevorzugten, und ein kurzärmliges Hemd, das nicht weniger mitgenommen wirkte. Müde und erschöpft schlurfte er näher heran. Nein. Vielmehr war das die Wirkung, die er hervorzurufen versuchte. Cherew erkannte durchaus, dass dieser Mann eine Rolle spielte. Er kannte nur das Stück noch nicht, aber er wusste, dass auch er selbst ein Teil davon war.
Nun, wo er näher war, bemerkte Cherew weitere Details, die ein Bild erschaffen sollten, das nicht der Wahrheit entsprach. Der Mann trug eine Perücke, die ihm sicherlich nicht aufgefallen wäre, hätte er nicht nach den ersten Widersprüchen noch genauer hingeschaut. Sicherlich war auch sein Bart falsch. Doch auch so erkannte Cherew genug. Der Mann war eindeutig ein Iderraner, vielleicht Vierzig und bewegte sich falsch für einen Arbeiter oder auch einen Soldaten. Letzteres beruhigte ihn. Dennoch hatte sein Schritt etwas Leichtes, Tänzerisches, wie er sich bemühte, die Blumen der Beete auf seinem Weg zu Cherew nicht zu zerstören.
»Pujabaat schickt mich«, erklärte Cherew.
Der andere blieb stehen und starrte ihn ausdruckslos an. Was war denn jetzt? Ah. »Stimmt Ihr Yetareems Theorie der …« Was war noch einmal der Rest des Codeworts gewesen? Warum nur mussten die Begrifflichkeiten der Kerajaaner immer so kompliziert sein? »Dieser Theorie jedenfalls, stimmt Ihr der zu?«
Sein Gegenüber musterte ihn skeptisch. »Angesichts der Tatsache, dass Pujabaat mir ausgerechnet einen Sklaven schickt, denke ich, nicht.«
Cherew verschränkte die Arme vor der Brust, ohne das Gesicht zu verziehen. »Dann weißt du ja, weshalb ich hier bin.«
Er nickte. Der Kies knirschte leise, sowie er das Gewicht verlagerte. Der Fremde war nervös. Gut. »Es ist also soweit.« Er sprach Kerajaanisch in der rhythmischen Sprechart der Iderraner. Es war eine ungewohnte Kombination, aber verständlich. »Richte ihm aus, dass alles bereit ist. Ich habe jemanden in der Nähe der Königin positionieren können und bestechliche Wachen in der Leibgarde des Königs ausfindig gemacht. Ich bin sicher, dass wir mit einem fingierten Vorwurf sogar den Hauptmann loswerden und einen unserer Männer dort positionieren können.«
Hattest du nicht gehofft, den Intrigen mit deiner Flucht aus Tsarem endgültig entwischt zu sein? Sieh dich an. Schon wieder bist du eine Figur inmitten des tödlichen Spiels der Mächtigen.
Cherew verstand nicht völlig, um was es hier ging, aber er wusste, dass Pujabaat ein gefährliches Spiel spielte. Und er sollte ihn währenddessen beschützen. Verdammt. Es war so viel leichter gewesen, die ganze Königsfamilie Callingers zu schützen, als einen einzigen Kerajaaner. Die Puidan forderten wenigstens offen heraus. Gift galt in seiner Heimat als verpönt, während er hier auch dergleichen bedenken musste.
Cherew räusperte sich. »Ich soll ausrichten, dass du dich bereit halten sollst, bis weitere Anweisungen folgen. Es soll keine offene Aktion gestartet werden. Sammle Informationen über den König, seine Familie und die Adeligen der Stadt und alle Aktivitäten, die auf eine Gefahr für den verehrten Botschafter hindeuten. In Zukunft wendest du dich mit all deinen Berichten direkt an mich.«
»Sagt ihm, dass ich weitere Informationen über den Auftrag habe, den er mir vor fünf Segmentjahren gab.« Seine stechenden Augen musterten ihn. »Und darüber berichte ich nur ihm.«
Aber auch Cherew wusste, wie man verhandelte.
»Bist du sicher, dass du die wertvolle Zeit des Botschafters mit Dingen belasten möchtest, die er vielleicht gar nicht wissen will?«, fragte er und drängte sich zu einem Lächeln. Ihm widerstrebte diese Art des Kampfes. Er zog die Waffen den Worten vor.
Der Ausdruck im Gesicht des Spions veränderte sich, wurde dunkler und abweisender, sowie das inmitten des Mondlichtes erkennbar war. »Vor fünf Jahren hat er mir höchstselbst diesen Auftrag gegeben. Da wird er sicherlich auch das Ergebnis persönlich wissen wollen.« Interessant. Dabei war Pujabaat erst vor kurzem zum offiziellen Botschafter Kerajaans in Iderra ernannt worden. Doch schien er in die iderranische Politik weitaus mehr involviert zu sein, als Cherew gedacht hatte. Was für ein Auftrag war es also, den dieser Mann von ihm erhalten hatte? Er war sich nicht sicher, ob er diesbezüglich nachfragen sollte. Von einem weiteren Auftrag des Spions hatte nichts in seiner Anweisung gestanden. Hier ging es um Geheimnisse, von denen er sicherlich nichts wissen durfte. Also sollten diese Informationen wohl tatsächlich direkt an Pujabaat gehen.
Doch noch war er nicht zur Resignation bereit.
»Sprechen wir schon von Ergebnissen? Waren es nicht soeben noch Informationen?«
»Ich werde mich von einem Sklaven nicht so behandeln lassen«, donnerte der Mann. Ah. Und schon hatte Cherew ihn dort, wo er ihn haben wollte. Der Zorn machte ihn unvorsichtig. Und zornige Männer plauderten viel zu schnell Dinge aus, bei denen sie das besser nicht tun sollten.
»Sei vorsichtig«, warnte der Leibwächter und neuerdings Spion Pujabaats ihn, »die Zeit eines Botschafters ist sehr viel knapper bemessen, als die eines reichen und mächtigen Adeligen, und ich bin eine der Personen, die regelmäßig Zutritt dazu hat.« Er musste dem Mann ja nicht auf die Nase binden, dass es als Leibwächter seine Aufgabe war, sich ständig in der Anwesenheit des Botschafters zu befinden.
»Weshalb …«
»... du dich mit deinen Informationen nicht an jemand anderen wenden solltest? Nun, weil wir das haben, was du willst.« Um das zu erraten, brauchte es nicht viel. Immerhin würde ein Iderraner sonst kaum für eine großflächig verhasste Invasionsmacht spionieren. »Außerdem sind wir nun einmal das mächtigste Land auf dem Kontinent, also entkommst du uns nur schwerlich.«
Der Kopf seines Gegenübers sank herab und dieses Mal nicht aufgrund von gespielter Müdigkeit. Er resignierte.
»Er hat mir die Stelle an der kerajaanischen Universität versprochen«, murmelte er, »und Einsicht in die Forschungen Fereahs‹«
Cherew hatte keine Ahnung, wer Fereahs war und er hatte nicht vor, diesen Mann danach zu fragen. Aber nun hatte er das Gefühl, diese Person ein wenig besser einzuordnen können. Ein Wissenschaftler, aber kein sonderlich idealistischer, sondern vielmehr ehrgeizig.
»Der Botschafter belohnt Treue mit Treue, denn er ist ein ehrenhafter Mann«, erlöste er den Spion. Die Augen eines toten Mädchens starrten ihn in seinen Gedanken an. Ehrenhaft, fragte sie vorwurfsvoll, nachdem er dich mich hat töten lassen?
»Ich werde meine Forschungen intensivieren«, versprach der Mann, »ich habe gute neue Ansätze und einige Quellen, die ich noch auswerten muss.«
Cherew wusste, wann er in einem Kampf zurückweichen musste, um zu verhindern, dass der Gegner seine letzten Reserven mobilisierte.
»In der nächsten Woche berichtest du Pujabaat über deine Fortschritte«, ging er auf ihn zu.
Sein Gegenüber nickte. »Einverstanden.«
»Gut, …« Fragend blickte Cherew ihn an.
»Garek«, murmelte der Wissenschaftler.
Schlussendlich war er erstaunlich schnell eingebrochen, überlegte Cherew. Nichts, worüber er sich beschweren würde. Er seufzte leise. Zu gerne würde er sich mit diesem Mann duellieren, es war viel einfacher als jedes einzelne Wortgefecht.
»Cherew«, gab auch er seinen Namen preis. »Frag nach mir, wenn du etwas benötigst.«
»Das werde ich.«
Der Mann in der falschen Verkleidung wandte sich um. Mit federnden Schritten, die nicht zu seinem Äußeren passen wollten, verschwand er in der Finsternis.
Cherew blieb zurück. Und zum wiederholten Mal fragte er sich, in was für einen Wahnsinn er hier geraten war.