Callinger, Hanuvbre-Gebirge am Lauf des Fedlas, der erste Liusna des Segments Retoldut.
Gemeinsam trugen Sinamet und Schalwa den bewusstlosen Fremden in ihre Hütte. Dazu holten sie eine Trage, die sie leichter zu zweit fortbewegen konnten. Dennoch war das kurze Stück schweißtreibend.
»Wohin willst du ihn legen?«, keuchte Schalwa. Der Junge schleppte das hintere Ende und ließ die Trage halb über den Boden schleifen, womit Sinamet die Hauptlast trug.
»Auf die Liege.«
Sinamet lebte alleine in ihrer Hütte, aber sie besaß eine aufklappbare Liege für unerwartete Gäste oder Verwundete, auch wenn sie diese nur in Ausnahmefällen bei sich pflegte.
Schalwa antwortete nichts. Stattdessen stieß er einen leisen Seufzer aus, sowie sie die Hütte erreichten. Leider war Sinamets einschiffige Lehmhütte langgestreckt, sodass ihnen trotzdem ein Stück bis zum Eingang blieb.
Immer wieder musste Sinamet darauf achten, dass sie nicht über die äußeren, schräg vorstehenden Pfosten der Hütte stolperte. Schnee, Kiesel und vom Dach abgefallenes Ried knirschte leise unter ihren Füßen.
Kurz vor dem laubenartigen Vorbau in der Mitte der Längsseite ließ Schalwa die Trage los. Eifrig sprang er vor und öffnete den Eingang. Zu ihrem Glück hatte Sinamet daran gedacht, den Fremden auf der Trage anzubinden. So keuchte sie nur und stolperte zurück, da sie fast das Gleichgewicht verloren hätte.
Schalwa, der nichts davon gemerkt hatte, kam wieder zu ihr und half ihr, die Trage hineinzubringen.
Die Hütte selbst bestand aus nur einem Raum, allerdings hatte Sinamet auf der rechten Seite ihren Schlafbereich durch einen Vorhang abgetrennt. Dieser schützte besser vor Kälte. Auf der linken Seite gab es eine offene Feuerstelle.
Gesammelte Kräuter hingen in Bündeln von den Dachbalken, daneben waren ihre Vorräte in kleineren Beuteln verstaut, damit die Ratten diese nicht erreichen konnten. Für frische Nahrungsmittel hatte sie außerhalb der Hütte einen kleinen Keller gegraben, der während der Regenfälle des Frühlings regelmäßig überflutet wurde.
»Hierhin.« Neben der Feuerstelle legten sie den Fremden mitsamt der Trage auf den Boden. Schalwa, der die Hände aneinander rieb, trat von ihm zurück.
»Was wirst du mit ihm tun?«
Sinamet hatte sich schon abgewandt, um die Liege zu holen.
»Er ist ein Patient«, erwiderte sie leise, derweil sie das verschnürte Paket zu dem Mann trug. »Ich werde ihn pflegen, so wie immer.«
Eben dies redete sie sich, nun wo sie wieder im Trockenen war, ein. Etwas hatte sich verändert, etwas Unbegreifliches. Doch das Einzige, was Sinamet darüber wusste, war, dass sie es eben nicht verstand. In der Krankheit dieses Mannes lag dagegen eine einfache Tatsache, die sie akzeptieren konnte. Sie musste nur die richtigen Möglichkeiten finden, um ihm zu helfen.
Zuerst begann sie, die Liege auszuklappen. Sie bestand aus einem Holzgerüst, auf dass ein Bärenfell gespannt war. Wenn er schwerer verletzt sein würde, hätte sie ihn in ihrem eigenen Bett schlafen lassen.
»Du musst mir helfen, Schalwa.« Sie dankte den Göttern für diesen Jungen! Gemeinsam vermochten sie es, nachdem sie ihn von der Trage losgebunden hatte, den Fremden auf die Liege zu hieven. So lag er da. Die Augen geschlossen, den Körper leicht zur Seite geneigt, derweil die Brust sich regelmäßig hob und senkte. Sinamet berührte mit der Hand seine Stirn. Zu große Hitze oder Kälte der Haut bedeutete, dass er schlechten Einflüssen ausgesetzt war. Zu ihrer Erleichterung war dies nicht der Fall.
»Vielleicht liegt es an der Quelle«, schlug Schalwa vor, der ihre Hilflosigkeit zu spüren schien.
Die Quelle! Vielleicht war dem tatsächlich so. Niemand außer den Panti betrat eine heilige Quelle, um in ihr zu baden. Vielleicht waren die Götter zornig deswegen? Aber warum hatten sie Sinamet dann gesagt, dass sie ihn retten sollte? Sie verstand es nicht.
»Danke.« Sie legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. »Für alles.«
Schalwa errötete. »Ich tue meine Pflicht. Ich diene dir, Panti.«
»Und das tust du mehr als nur gut. Deine Eltern können stolz auf dich sein.« Sinamets Hütte besaß keine Fenster, doch durch die Löcher im Dach, durch welche der Rauch abziehen konnte, fiel helles Mondlicht.
»Du bleibst heute Nacht hier«, beschloss sie besorgt, »es ist zu dunkel. Morgen gehst du nach Hause.« Das war schon ein paarmal vorgekommen. Schalwas Eltern würden Bescheid wissen.
Ein Lächeln glitt über Schalwas Gesicht. »Ich werde auf dich aufpassen, Panti.«
Sinamet runzelte die Stirn. Wenn schon dieser Junge so besorgt war, wie würden erst die einflussreichen Führer der umliegenden Dorfgemeinschaften reagieren? Und andere Panti? Wie sollte sie ihnen ihre Entscheidung begreiflich machen? In vier Denias begann das große Fest Taffis Dufvir, was bedeutete, dass sie in wenigstens zwei Denias zu ihrem Stamm aufbrechen musste. Was würde dann mit dem Fremden geschehen?
»Dein Tee!« Schalwa riss sie aus ihren Gedanken. Sie blickte zu ihm, wie er sich über die Feuerstelle beugte, wo ein Kessel an einem Gestell hing. »Ich habe ihn vergessen.« Schon hockte er sich vor die Glut und schichtete das Holz neu auf, um die Flammen wieder anzufachen. Wärme.
Sinamet seufzte. Es war müßig, sich über all diese Dinge Gedanken zu machen. Erst die Zeit würde ihr zeigen, was der Wahrheit entsprach. So war es nur verschwendet.
Stattdessen zog Sinamet sich die Reste ihrer nassen Klamotten aus und wählte aus ihrer Truhe frische, warme Kleidung, die sie anzog. Es störte sie nicht, dass Schalwa ihr dabei zusehen konnte. Er war nur ein Kind.
Jetzt fühlte sie sich wohl genug, um näher auf ihren Patienten einzugehen.
Auch ihn zog sie aus, um ihn auf Verletzungen zu untersuchen und ihn der nassen Kleidung zu entledigen. Er trug eine knöchellange Hose, ein hüftlanges Obergewand mit Gürtel, darüber einen kurzen Mantel. Alles war von guter, wenn auch einfacher Qualität. Angesichts seines Aussehens hatte sie nicht erwartet, dass er Kleidung trug, welche für ihr Volk so typisch war.
Mehr als einige Hautabschürfungen und unbedeutende Kratzer fand Sinamet nicht. Weil sie keine Männerkleidung in seiner Größe besaß, hüllte sie ihn in eines ihrer weiteren Kleider, das ihn immerhin wärmen würde. Die einzige Hose, die sie besaß, passte ihm. Schalwa hänge die nasse Kleidung neben ihrer eigenen vor das Feuer. Bald stank es im gesamten Raum nach nasser Wolle.
Sinamet ignorierte es. Sie war den Göttern mehr als dankbar, dass sie noch lebte. Wenn der Preis lautete, diesen Mann zu retten, so wollte sie es tun.
Aus den Bündeln von der Decke wählte sie intensiv riechende Kräuter aus, die sie ihm vor die Nase hielt. Er rührte sich nicht. Ebenso wenig, als sie diese vor ihm verbrannte oder versuchte, ihm Wasser einzuflößen. Es rann aus seinen Mundwinkeln und benetzte die Kleidung, die sie ihm soeben angezogen hatte. Mit einem Seufzen sah sie ein, dass sie nichts tun konnte, außer ihn schlafen zu lassen. Vielleicht befand er sich immer noch in einer Schockstarre, wo er doch so lange im kalten Wasser gelegen hatte. Oder die Geister der Quelle hatten ihn wirklich bestraft. Was es auch war – Sinamet wusste nicht, wie sie ihm weiterhelfen konnte.
Stattdessen bereitete sie sich und Schalwa ein einfaches Mahl aus Hirsebrei. Bald war ihr Vorrat aufgebraucht. Es war gut, dass die Dorfbewohner sie mit Nahrung beschenkt hatten, sowie sie diese besucht hatte. Dazu tranken sie Tee.
Nach dem Essen ging der Junge hinaus. Er würde im Ziegenstall nächtigen, so wie er es zuvor getan hatte. Manchmal fragte sie sich, ob er die Tiere mehr mochte als die Gegenwart von Menschen. Im Dorf hatte man ihn für seltsam gehalten, bis Sinamet ihn ausgewählt hatte, ihr zu Hand zu gehen. Seitdem wurde er respektiert und nicht länger verspottet. Er war ein guter Junge.
Auch Sinamet legte sich ins Bett, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Fremde immer noch schlief und das Feuer bald ausgehen würde.
Bald fielen ihr die Augen zu.
Was für ein merkwürdiger Tag.
In ihren Träumen war Sinamet daheim. An jenem Ort, wo sie geboren und aufgewachsen war. Ein Kind, glücklich spielend und nicht verstehend, wie grausam diese Welt doch war. Da war ihr Vater, der sie mit sich auf das Wasser nahm und ihr, derweil das Boot durch das Schilf trieb, von den Weisheiten der Alten berichtete. Sie hatte diese Ausflüge zugleich geliebt und gehasst, wusste sie doch, dass auf die gemeinsame Zeit stets ein Abschied folgen würde.
Plötzlich war sie erwachsen. Ihr Vater fort und sie alleine. Alleine in dem Boot ihres Lebens, ziellos gleitend auf den Gewässern, die ihr gegenüber so gleichgültig waren. Ihre Heimatinsel tauchte inmitten des Schilfmeeres auf. Zwischen den Schatten der langen Stangen schälte sie sich hervor, welche das Boot auf seiner Fahrt beiseite drängte und zerbrach. Ein einsamer mit Steinen übersäter Strand, über dem sich Bäume im Wind wiegten. Selbst wenn sie es gewollt hätte, so wäre es ihr unmöglich, dorthin zu gelangen. Die Strömungen trieben sie fort und der Blick auf ihren Geburtsort wurde ihr verschlossen. Wieder war sie alleine inmitten von hohem Schilf, unter einem grauen Himmel.
Plötzlich brachen Vögel vor ihr aus dem Dickicht. Strahlend weiß schraubten sich die Gänse an ihr vorbei in den Himmel, so nah, dass sie nur die Hände auszustrecken brauchte. Die Feder, die sie auffing, verblasste in ihrer Hand und wurde Staub.
Ein Kind schrie. Durch die Lücke, welche die Vögel in das Schilf gerissen hatten, erkannte sie den Jungen.
»Sinamet«, schrie er, die Hände an die Holzplanke geklammert, welche das Einzige war, was ihn über Wasser hielt.
Ihr Herz pochte. »Ich komme«, erwiderte sie. Tränen rannen ihr über die Wangen. Nein, ich lasse das nicht zu! Nicht noch einmal. Sie würde nicht erneut einen kleinen Jungen verlieren.
»Sinamet!« Erneut dieser verzweifelte, tief gehende Schrei, der sie nach einem im Boot liegenden Paddel greifen ließ. Sie tauchte das Blatt ins Wasser, hörte, wie das Schilf knackte und zerbrach. Die Stangen vor ihr waren so hart, so unbarmherzig, wie sie vor ihr im Wasser standen, als wären sie eine Mauer, deren einziges Ziel es war, ihr Durchkommen zu verhindern.
»Masal! Halte durch!« Sie nahm das Paddel und schlug auf das Dickicht vor ihr ein. Knack.
Masals Stimme war so schwach, wie er nach ihr rief. Sie arbeitete schneller, schlug eine Bresche in das Schilf und tauchte das Paddel wieder ins Wasser. Das Hindernis glitt beiseite und gab den Blick auf eine natürliche Wasserschneise frei. Im Wasser trieb ein Brett. Und der Junge war fort.
Sinamet öffnete die Augen. Ihr Herz raste, das Haar klebte ihr schweißnass im Nacken. Noch immer tanzten die Bilder des soeben Erlebten vor ihrem inneren Auge. Masal. Wieder einmal. Sie konnte ihn nicht retten. Jede verdammte Nacht nicht. Seit neun Segmentjahren.
Sie war dankbar für die Dunkelheit, die das meiste ihrer Umgebung verschleierte. Sie selbst hatte Sinamet nie gefürchtet. Nur die Träume.
Ein leichter Windstoß – durch den Zug im Dach verursacht – wirbelte den Vorhang auf, der halb zur Seite gezogen war. Von hier konnte sie die Funken in der Feuerstelle sehen, die noch immer in den Resten der Asche tanzten und einfach nicht vergehen wollten. Deutlich zeichnete sich die Silhouette eines Mannes vor ihrem Funkenspiel ab.
Für einen Augenblick starrte Sinamet nur zu dem Mann, der an ihrer Feuerstelle hockte. Seine Gestalt hob sich nur schemenhaft von den Flammen ab, doch wirkte er insgesamt sehr lebendig. Sinamet fragte sich, ob sie Angst verspürte. Nein. Verunsicherung, ja, aber keine Angst.
Schließlich stand sie auf und ging zu ihm. Sie achtete nicht darauf, dass ihre Füße und ihre Schultern bloß waren. Vielleicht war dies immer noch ein Teil ihres Traumes. Das würde alles einfacher machen.
Sie schritt bis zu der Feuerstelle. Der Mann erhob sich von seiner hockenden Position und stand auf. Er rührte sich nicht, machte keinerlei Anstalten sie anzugreifen, er stand einfach nur da. Verletzungen oder Schwäche waren ihm nicht anzumerken.
»Wer bist du?«, fragte sie. Wie konnte ein Mann, der zuvor so tot gewirkt hatte, nun so lebendig sein?
»Wer bist du?«, wiederholte er ihre Worte. Trotz derselben Wortwahl klang es nicht nach einer reinen Wiederholung, dazu betonte er das »du« zu sehr. Erstaunlicherweise sprach er ihre Sprache ohne den Hauch eines Akzents. Woher mochte er kommen? Er sah nicht aus wie jemand aus ihrem Volk, dafür waren Haut und Haar zu dunkel. Doch schien er bei genauerer Betrachtung kein Iderri zu sein, wie sie zuerst gedacht hatte.
»Ich bin Sinamet«, antwortete sie, »Panti des Hanuvbre-Gebirges.« Es war eine einfache Wahrheit, welche den meisten Menschen, die sie kannte, alles sagen würde, was sie wissen mussten.
Er neigte den Kopf schief und musterte sie. Vielleicht war er noch verwirrt. Von dem Wasser, dem nahen Erstickungstod. »So komplizierte Begriffe, die so wenig aussagen. Sinamet. Panti. Ist das nicht nur eine Bezeichnung, die du soeben mit einer bestimmten Bedeutung aufgeladen hast? Was sagt ein Begriff aus, dass er deinen ganzen Charakter umfasst und dass du dich durch ihn definieren lässt?«
Verblüfft starrte Sinamet ihn an. Sie war bereits Menschen begegnet, die nach einem Unfall ihre Erinnerungen verloren hatten und in einem der Dörfer gab es einen Alten, der seine eigene Familie nicht mehr erkannte. Doch diese Menschen fragten nach dem wer, wo und wohin. Ihnen genügte es, zu wissen, dass Sinamet eine Panti war, auch wenn sie die Frage nach wenigen Minuten wiederholten. Nicht so dieser Mann.
»Nicht ich«, begann sie, »nicht ich habe die Bedeutung erfunden. Diese Bedeutung gilt in meinem ganzen Volk und deshalb verstehen sie mich.« Sie nannte es nicht »unser« Volk. Das hätte sich seltsam angefühlt. Er war so fremd.
Er trat einen Schritt auf sie zu. »Ah, du sprichst von Konvention. Die Konvention einer Gruppe, dasselbe Lautbild – Panti - für ein bestimmtes, damit verknüpftes Konzept zu verwenden.«
»Es…« Sie hatte es nicht erwartet, hatte nicht kommen sehen, dass er so zu ihr sprach. Er war ein Fremder, der doch über so vertraute Dinge redete und sie an ihren Meister-Panti erinnerte. Wie konnte es sein, dass sie sich auf einmal über Semiotik unterhielten? Hier, an einem der einsamsten Orte des Landes. Es war eine Wissenschaft, die in ihren Anfängen in Tsarem diskutiert worden war, als Sinamet dort gedient hatte. All dies hatte sie zurückgelassen, nur um jetzt davon eingeholt zu werden. Sie war nicht grundlos gegangen.
Dennoch konnte sie es nicht unterlassen, zu antworten. »Ja. In diesem Fall ein arbiträres Konzept, das aufgrund der Konvention dennoch alle verstehen.«
Er lächelte. »Ein willkürliches Lautbild für ein Konzept. Aber was bedeutet es, wenn eine Panti diesen Erwartungen – der Konvention - nicht mehr entspricht. Ist sie dann keine Panti mehr?«
Sinamet runzelte die Stirn. Es war erschreckend, wie schnell es Gedanken in ihr gab, die sich nach vorne drängten. Da war etwas in ihr, das sich über dieses Gespräch freute. Es sollte nicht sein. Vergangenheit.
»Natürlich«, entgegnete sie, »man verliert die Stellung einer Panti nicht aufgrund einer einzigen Fehlentscheidung.« Sie war dankbar für diese Tatsache. Wer wäre sie ohne dieses Amt? Nur eine alte Frau, die vor der Vergangenheit floh.
»Das heißt, du glaubst, dass dies ein einmaliger Ausrutscher war, der nicht ihrer wahren Identität entspricht und keine Bedeutung für den Begriff einer »Panti« hat?«
»Es hat einen persönlichen Einfluss auf die jeweilige Panti, ja, aber nicht auf die begriffliche Ebene einer Panti als solche.«
»Was bedeutet, dass die persönliche Erwartungshaltung, wenn jemand den Begriff einer Panti hört, sich nicht ändert, weshalb sie als universell gelten kann. Aber was ist nun, wenn jemand eine schlechte Erfahrung mit einer Panti gemacht hat, weil diese beispielsweise seinen Bruder getötet hat, und deshalb den Begriff »Panti« mit etwas Negativen konnotiert?« Er mochte die Sprache ihres Volkes hervorragend sprechen, aber mehr als alles andere offenbarte diese Aussage, wie wenig er es kannte.
Zorn erwachte in Sinamet. Wer war dieser Mann, dass er in ihre Welt einbrach und ihre Ehre – alles, was ihr etwas bedeutete - mit Füßen trat? Zuvor hatte er so verständnisvoll für die Fragen der Welt gewirkt.
»Niemals würde eine Panti jemanden töten«, zischte sie. Es war eine ultimative Wahrheit. Die Panti vollführten den Willen der Götter. So war es immer gewesen und so würde es immer sein.
Und wieder tat er nicht mehr, als zu lächeln. Wie konnte er nur so ruhig, so unberührt wirken? »Vielleicht ist dem so«, ruderte er zurück, »ich bin gewiss, dass du dies viel besser weißt, als ich selbst. Und ich stimme dir zu. Eine Panti, die eine Fehlentscheidung getroffen hat, bleibt eine Panti.« Erleichterung siegte über den Zorn und Sinamet fühlte Triumph in sich aufsteigen. Dieses Wortduell hatte sie - wiederum öffnete er den Mund und instinktiv ahnte sie, dass der eigentliche Angriff erst jetzt folgte.
»Wieso glaubst du also, dass du jemals aufgehört hast, eine Mared zu sein?«
Sie stolperte zurück. Ihr Herz raste.
Zwei weinende Säuglinge.
Zwei lachende Kinder an ihrer Hand.
Eine in die Dunkelheit fliehende Alte.
Mit Tränen in den Augen blickte Sinamet zu ihm auf.
»Wer bist du?«, flüsterte sie.