Turilt, der vierte Rinuhiit des Segments Retoldut
Alles, was sie sah und hörte, ja selbst die Gerüche erinnerten Sinamet daran, dass sie zuhause war. Mochte sie in letzter Zeit Zuflucht zwischen den steilen Berghängen des Westen Callingers gefunden haben und auch davor vierzig Segmentjahre in Tsarem gelebt haben, so war es doch die sanft geschwungene östliche Küste, an der sie geboren und aufgewachsen war.
Jedes Jahr kehrte sie zu dem Fest Luvvjassed an diesen Ort zurück und jedes Jahr fühlte sie sich merkwürdig und ein wenig unwillkommen. Es gab so viele gute Erinnerungen, die ihr ihre Heimat schenken könnte, doch es schien, als ob die dortigen Menschen sie nur an die schlechten erinnern wollten.
Die Menschen – nicht jedoch die Natur, die sie jetzt umgab, in die sie eintauchte. Der Ort selbst bewertete sie und ihre Ankunft nicht, sondern bewegte und lebte weiterhin gleichgültig in dem Takt, dem die Götter ihm befahlen.
Lurrveds Anwesenheit, der vor ihr im Kajak saß, war es, der dieses Jahr alles anders machte. Sie hatten viel geredet auf der einsamen Reise den Fluss entlang und dennoch hatte Sinamet nicht das Gefühl, ihn zu verstehen. Auf die Fragen, die sie ihm gestellt hatte, Fragen nach seiner Herkunft oder der Art, wie er in die Quelle gelangt hat, antwortete er nicht oder wich ihr aus. Manchmal antwortete er auch mit merkwürdigen Sätzen, wie, dass es noch nicht an der Zeit wäre. Schlussendlich landeten sie bei jeder Frage, die sie ihm stellte, doch immer wieder bei ihr und den Dingen, die sie beschäftigten. Fast hatte sich Sinamet daran gewöhnt. Aber nur fast.
Es war ihr, als ob sie auf einen unaufhaltbaren Klimax zusteuerten, einen Wendepunkt, der sie ins Dunkel ziehen oder ins Licht führen konnte. Ihre Träume waren dafür ein sicheres Zeichen und sie hoffte, dass sie sich in ihrer Heimat mit den anderen Panti beraten konnte.
Das Schilf raschelte, Wasser plätscherte, als sie die Paddel in das dunkle Nass tauchten. Für gewöhnlich hatten sie auf ihrer bisherigen Reise Rast eingeschlagen, sobald die Dämmerung hereinbrach, doch heute hatte Sinamet sich durch das Dunkel nicht schrecken lassen. Hier kannte sie sich aus und fürchtete weder die Untiefen und Strömungen, noch die Tiere, die inmitten der schwimmenden Inseln aus Schilf auf unvorsichtige Beute lauerten.
Licht spendeten der Mond, dessen helles Licht dieses unübersichtliche Labyrinth von kleinen Inseln, hohen Wänden aus Schilf und Wasserläufen, die sich verzweigten und doch wieder ineinander führten, beleuchtete, sowie das blau schimmernde Schilf. Lurrved war von diesem ganz fasziniert – wie die meisten, wenn sie die Bucht Apantok zum ersten Mal erblickten.
Kein Wort hatte er gesagt, nachdem ihr Kajak diesen Ort erreicht hatte. Er saß vor ihr und so konnte Sinamet gut beobachten, wie er sich immer wieder umwandte und fasziniert den bunt leuchtenden Nachtfaltern nachblickte, die ohne Scheu dicht an ihnen vorbeiflatterten. Ansonsten zeigten sich ihnen nur wenige Tiere, was Sinamet erleichterte. Zwar hätte sie Lurrved gerne ein Gelege der großen Reiher gezeigt, die bevorzugt auf kleineren Schilfinseln brüteten, die vom Wind und der Strömung durch die Bucht getrieben wurden und hier oder dort kurzzeitig Halt suchten, bevor die Reise weiterging. Auch Krokodile gab es – auf eine Begegnung konnten sie jedoch gerne verzichten.
Sie sahen die Tiere nicht, doch dafür hörten sie diese. Gespenstisch hallten die klagenden Schreie der Vögel über das dunkel schimmernde Wasser und inmitten des Schilfs quakten Frösche, summten die Mücken und knackten Reptilien.
»Das«, meinte Sinamet leise, »ist meine Heimat.« Das waren die richtigen Worte, die einzigen Worte, die ihr Verhältnis zu diesem Ort treffend beschrieben.
»Ein wundervoller Ort«, antwortete Lurrved in derselben Lautstärke. Hören würde man sie dennoch. Trotz der so massiv aussehenden Wände aus Schilf wurden Laute weit über das Wasser getragen. Durch Apantok bewegte man sich nicht ungehört, sodass Sinamet sich sicher war, dass man sie bereits erwarten würde.
Vorsichtig tauchte sie das Paddel ins Wasser, manövrierte an schwimmenden Inseln aus grazilen und zerbrechlich wirkenden Gräsern und Schilfrohren vorbei, die sich von selbst davon bewegten, als sie das Erzittern der Wasseroberfläche spürten, und mied die Wände aus Schilfrohren, dick wie die Oberschenkel kräftiger Männer, die sich plötzlich aus dem Dunst vor ihnen schälten.
»Wie findest du den Weg?«, wollte ihr Begleiter wissen. Er hatte sein Paddel längs auf den Bootsrahmen gelegt, damit es nirgendwo anstieß. Sie hatte ihn gebeten, mit dem Paddeln aufzuhören, um eine bessere Kontrolle über das Kajak zu haben. Man musste schnell und geschickt manövrieren, wenn man in Apantok ans Ziel finden wollte. Und hier lernte das Kajakfahren jedes Kind in jungem Alter. Eine bessere Art der Fortbewegung gab es hier nicht.
»Ich finde nicht den Weg.« Sinamet lächelte. »Aber Turilt findet uns.« Die Wahrheit war, dass auch die größeren, bewohnten Inseln sich innerhalb der Bucht bewegten. Sicherlich nicht so geschwind wie diejenigen von einer geringeren Größe, aber doch so, dass sie nach einem Segmentjahr nicht mehr an demselben Fleck waren. Ganz Apantok bewegte sich. Ihr Vater hatte immer gesagt, dass das einzig Beständige in Apantok die Unbeständigkeit sei, und bisher hatte Sinamet noch nichts herausgefunden, was das Gegenteil beweisen würde.
Und so war es auch. Plötzlich schälte sich eine Insel aus dem Dunst vor ihnen, ein dumpfer Schatten, der blau schimmerte, inmitten des Wassers. Rufe waren zu vernehmen, Fackeln leuchteten hoch über Sinamets und Lurrveds Köpfen auf.
»Wer kommt da durch das Labyrinth Apantoks zu uns?«, fragte eine Stimme.
Sinamet legte den Kopf in den Nacken.
»Sinamet, Panti und ihr Begleiter Lurrved suchen die Gastfreundschaft Turilts, um das Fest Luvvjassed zu feiern.«
»Seid uns willkommen, Sinamet und Lurrved«, lautete die Antwort.
Sinamet tauchte das Paddel erneut ins Wasser, um ihre Position zu korrigieren, dann bewegte sie das Kajak vorsichtig näher an die Insel heran. Vor der vergleichsweise gewaltigen Masse floh das Schilf des Labyrinths, um nicht zermalmt zu werden, sodass immer eine größere Freifläche um Turilt vorhanden war. Niemand konnte sich unbemerkt nähern.
Auch die Insel selbst bestand aus Schilf, dicke Stämme, ineinander gewunden, sodass sie eine Traglast entwickelten, stark genug, um Menschen, Tiere und Gebäude zu tragen.
Sinamets Augen suchten nach dem Hafen und fanden ihn. Der Eingang war nicht mehr als ein Loch inmitten der Säulen aus Schilf, allein erleuchtet vom eigenen lumineszierendem Licht und dumpfem Mondschein.
»Duck dich«, wies sie Lurrved an, bevor sie das Kajak in das Dunkel der Höhle unterhalb der Insel lenkte.
Auch sie selbst duckte den Kopf. Das Plätschern des Wassers schallte lauter als zuvor über das dunkle Wasser. Es gab kaum Licht hier – zu sehr fürchtete man einen Brand – und Sinamets Augen gewöhnten sich nur langsam an die Finsternis.
Mehrere Boote lagen bereits innerhalb der Höhle. Ausnahmslos waren es Kajaks wie das ihre. Elegant tanzten die schmalen Leiber auf den Wellen, nur die Taue hinderten sie daran, in die Freiheit zu entschlüpfen.
An der Seite der Höhle zog sich ein Steg entlang, errichtet aus Schilf, verstärkt mit Holz und gehärtetem Schlamm. Diesen steuerte Sinamet an, vorsichtig, um nicht gegen eines der anderen Boote zu stoßen. Schließlich gelang es ihr, längsseits anzulegen.
»Du kannst aussteigen«, meinte sie zu Lurrved.
Zögernd leistete dieser ihrer Anweisung Folge und gelangte sicher auf den Steg. Das Wackeln des Bootes glich Sinamet gekonnt wieder aus. Sie reichte ihm ihr Paddel, während sie sich mit der anderen Hand am Rand des Stegs festhielt.
»Halte das Boot nun auf Position und nimm das Tau.«
Erst jetzt stieg auch sie aus und fühlte erneut festen Boden unter den Füßen. Turilt. Heimat.
Mit einem Lächeln auf den Lippen kniete sie sich auf den Steg, um ihr Gepäck zu holen. Als das getan war, band sie das Kajak fest.
Sie nahm den Rucksack auf, den Lurrved ihr gelassen hatte und grinste ihn an.
»Dann wollen wir.«
Gemeinsam stiegen sie die schmale Treppe hinauf, welche von diesem kleinen unterirdischen Hafen an die Oberfläche führte. Es war nicht der Einzige, denn die Inseln Turilts waren von Höhlen durchzogen, die für unterschiedlichste Zwecke genutzt wurden.
Turilt war ein morastiger Ort. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind trug hohe Stiefel, in welche die Nässe nicht eindringen konnte. Man hatte Bohlenwege zwischen den Häusern verlegt, doch nicht selten wurden diese überschwemmt. Aufgrund der Feier hatte man die Wege geschmückt. Ketten von Muscheln umschlangen die Pfähle, sorgfältig in bunten Farben bemalt, die das Leben des Frühlings verkündeten und im Licht der Fackeln hell schimmerten. Auch die Menschen, welche die Wege bevölkerten, hatten sich mit ihren besten Gewändern geschmückt und die Gesichter glänzten vom Fett, mit dem sie eingerieben waren worden. Die Frauen trugen kostbare Gehänge aus Bronze in ihren Haaren und an den Händen der Männer funkelten die Ringe vergangener Generationen.
Als Panti wurde dergleichen von Sinamet nicht erwartet, weshalb sie nur ihren gewöhnlichen Schmuck trug: Den Ohrring einer Panti am rechten Ohr und die Stecker aus Bronze in ihrem Nasenrücken, sowie ihren Halsreif. Mehr benötigte sie nicht. Lurrved dagegen war ein Fremder. Es wäre völlig egal, was er trug – die Menschen würden ihn dennoch anstarren.
Das taten sie auch jetzt. Erwachsene wichen zur Seite, um ihnen Platz zu machen. Ob sie dies aus Ehrerbietung einer Panti oder aus Angst einem Fremden gegenüber taten, vermochte Sinamet nicht zu sagen. Kleine Kinder waren da deutlich eindeutiger. Mit erhobenem Finger deuteten sie auf sie und riefen neugierige Kommentare.
Das Lächeln konnten sie Sinamet damit nicht nehmen. Mit eben diesem wandte sie sich zu Lurrved um.
»Das hier ist meine Heimat.«
»Und bist du glücklich, jetzt, wo du zurückgekehrt bist?«
»Glücklich?« Sinamet zuckte unschlüssig mit den Schultern. »Ja, auf eine gewisse Art schon. Und zugleich bin ich es nicht.«
Es gab so viele andere Dinge, die sie momentan beschäftigten, über die sie nachdenken musste, dass das Glück wie verschwommen wirkte hinter den Lasten des Tages.
»Hör zu. Ich muss mich mit den anderen Panti meines Stammes beraten. Es gibt viele Dinge, die wir absprechen müssen. Zuvor werden wir zur Unterkunft gehen, die ich jedes Jahr bekomme.«
»Beherbergt deine Familie dich nicht?«, fragte Lurrved, während sie zwischen mit Muscheln und Blumen verzierten Hütten entlanggingen, die nicht selten auf Stelzen errichtet waren.
»Als Panti habe ich die Zugehörigkeit zu meiner Familie aufgegeben. Wir Panti bilden nun eine Gemeinschaft, die auch gemeinsam nebeneinander wohnt.« Außerdem wollte sie es bei ihrem Bruder gar nicht erst versuchen. Sicherlich, er würde sie aufnehmen, dazu war er den Gesetzen der Gastfreundschaft nach verpflichtet, doch würde es kein angenehmer Aufenthalt werden. Dann suchte sie doch lieber die Gegenwart von jenen, die ähnlich seltsam und merkwürdig wie sie selbst waren: Panti.
Die Panti hatten eine eigene kleine Siedlung, etwas abseits des größeren Hauptortes. Die Hütten waren kreisförmig um eine Feuerstelle angeordnet, deren Flammen sich hell gegen den Nachthimmel abhoben.
»Sinamet!«
Männer und Frauen begrüßten sie erfreut. Sie alle trugen den Schmuck der Panti und ihre Augen erzählten von Wissen und Erlebtem.
»Du bist spät in diesem Jahr«, meinte Dschinak, eine vom Alter gebeugte Panti, deren Stimme noch immer wie die eines Heerführers hallte.
»Wer ist dein Begleiter?«, fragte Thijnet, ein Panti, der um sie geworben hatte, als sie noch unwissende Kinder gewesen waren, die den Eid der Panti noch nicht verstanden gehabt hatten. Mittlerweile waren sie gute Freunde. Sinamet war froh, ihn zu sehen. Mit einem Blick versuchte sie, ihm zu bedeuten, dass sie ihn sprechen wollte.
»Das ist Lurrved«, stellte sie ihn vor, »die Götter selbst haben ihn zu mir geleitet, um uns von dem zu warnen, was da kommen wird.«
Diese Erklärung wurde widerspruchslos hingenommen. Noch. Die Diskussionen würden später beginnen, wenn weitere Zeichen und Beweise für ihre Worte verlangt würden. Doch damit mochte sie sich noch nicht beschäftigen.
»Was hast du gesehen, Sinamet?« Ranehi war eine aufmerksame Panti. Sinamet ähnlich hatte sie ihrem eigenen Stamm entsagt, um in der Ferne zu dienen. Nun lebte sie in den kalten Ebenen Nordcallingers unter den dortigen Nomadenstämmen. Sinamet glaubte nicht, dass die junge Panti sie mochte.
»Darüber sollten wir reden, wenn alle von uns versammelt sind«, erwiderte sie. Es war besser, ihre Beobachtungen vor allen Panti zu teilen. Nicht jeder hier war ihr wohlgesonnen und es würde üble Nachrede geben, wenn sie ihr Wissen allein mit wenigen teilen würde.
Auch das wurde akzeptiert. Es wurden noch einige Begrüßungsfloskeln und Neuigkeiten ausgetauscht, dann verlief sich der Pulk wieder.
Gemeinsam mit Lurrved ging sie zur Hütte, die ihr wie jedes Jahr zustand. Sie war ähnlich wie ihre eigene Hütte in den fernen Bergen Westcallingers gebaut und aufgeteilt. Eine gute Seele hatte sogar ihre bevorzugten Kräuter an der Decke aufgehängt. Damit zufrieden begann sie, ihre Sachen auszupacken. Lurrved half ihr.
Sie war dankbar für seine Anwesenheit. Sie beruhigte ihre unruhigen Gedanken, die Sorgen, die ihr das Herz schwer machten und seine Fragen lenkten sie von eben jenen ab.
Als sie damit fertig waren, verabschiedete Sinamet sich von Lurrved, um Thijnet zu suchen. Sie hoffte auf seinen Rat und Informationen über das, was ihr im letzten Segmentjahr hier alles entgangen war.
Am Feuer, wo sich eine Gruppe von lachenden und lautstark redenden Panti angesammelt hatte, fand sie ihn nicht, weshalb sie zwischen die Hütten trat.
Dort traf sie nicht auf Thijnet, dafür jedoch auf eine unerwartete Besucherin.
»Sinamet!«
Auf einmal stand sie vor ihr. Ein Mädchen und das Ebenbild Sinamets, als sie selbst ein Kind gewesen war. Der Saum ihres Kleides war bereits jetzt schlammverkrustet und in ihren Haaren hingen noch immer Krümel von den süßen Küchlein, von denen sie wieder zu viele genascht haben würde.
»Dillenat.«
Das Lächeln konnte Sinamet einfach nicht zurückhalten. »Weiß dein Großvater, dass du hier bist?« Als Halbwaise, deren Vater tot und deren Mutter fort war, hatte ihr Großvater sie als Tochter angenommen.
»Ne.« Sie schüttelte den Kopf, bis ihre blonden Locken flogen. »Ich bin ja nicht dumm.«
»Wahrlich, das bist du nicht.«
Die alte Panti ging in die Hocke, sodass sie sich auf Augenhöhe mit dem Mädchen befand.
»Ich habe dir etwas mitgebracht.«
»Wirklich?« Dillenats kleine Augen strahlten vor Vorfreude.
»Aber natürlich.«
Sinamet reichte ihr einen Stein, den sie aus einer Tasche ihrer Hose nahm. Denn sie hatte erwartet, das kleine Mädchen noch im Laufe des ersten Abends zu treffen. Sie verstand nicht wie, doch schien Dillenat immer zu wissen, wann Sinamets Boot im Hafen anlegte. Dillenat war ein besonderes Kind.
»Der sieht ja toll aus.« Ihre Finger fuhren die leuchtend weißen Linien nach, die sich über den ockergelben Stein zogen. »Wie ein Fluss.«
»Ich habe ihn vor Jahren vom Kontinent mitgebracht«, erklärte Sinamet. »Er hat mich daran erinnert, meine Träume nicht aufzugeben und stolz auf das zu sein, was ich erreicht habe.«
Und Dillenat hatte große Träume. Eine Panti wollte sie werden, um der Schwester ihres Großvaters nachzueifern, die sie mehr als jede andere Person bewunderte.
Das Mädchen biss sich nervös auf die Unterlippe. Es war erstaunlich, wie fokussiert sie bereits in ihren jungen Jahren war. Einst war Sinamet wie sie gewesen. Ein Mädchen, das große Träume hegte, bis sie von der Realität und ihrem Vater zertrümmert worden waren. Sie mochte ihre Großnichte nicht vor den Knüppeln schützen können, welche ihr die Erwachsenen in den Weg warfen, doch sie konnte sie lehren, sich diese selbst aus dem Weg zu räumen.
»Das Los der Panti wird im Sommer gezogen werden«, murmelte Dillenat.
»Und es wird alles so geschehen, wie die Götter es vorherbestimmt haben.« Beruhigend legte Sinamet ihr die Hand auf die Schulter. »Habe Vertrauen in dich selbst, Liebes.«
Das Kind nickte, auch wenn Sinamet wusste, dass sie weiterhin zweifelte. Sie wünschte sich, dass sie ihr die Ängste nehmen könnte. Doch durchstehen musste Dillenat sie alleine, um am Ende an ihnen zu wachsen.
»Und nun geh. Es gibt genug vorzubereiten.«
Kurz zögerte Dillenat, dann schlang sie ihre Arme um Sinamet. Die Frau spürte den lebendigen Leib des Kindes, der sich eng an sie presste, als hoffte Dillenat, Schutz zu finden vor der Ungewissheit der Welt. Kurz darauf spürte sie auch ihren warmen Atem an ihrem Ohr. »Er hasst dich«, wisperte sie, »pass auf, Sinamet.«
»Die Götter achten auf mich, Dillenat.«
Sanft schob sie das Mädchen zurück und erhob sich aus der Hocke. Ihre Knochen protestierten bereits jetzt von der unbequemen Haltung.
»Geh jetzt.«
Sie verschränkte die Arme vor dem Körper und beobachtete, wie ihre Großnichte davon lief. Oh, wie sie dieses Kind liebte!
Schließlich fand sie Thijnet doch, an einem Ort, wo sie als Kinder zusammen gespielt hatten. Einst war das Loch inmitten des Bodens eine Höhle gewesen, ein kleiner Hafen, doch die Zeit hatte den Eingang zum Wasser zuwachsen lassen und dem großem Raum den Platz genommen. Nun fiel nur noch von oben Licht in den unterirdischen Tümpel. Um ihn zu erreichen, musste man geschickt klettern können – und Thijnet und Sinamet hatten das beide gekonnt. Im Mondlicht hatten sie gebadet, sich Abenteuer vorgestellt und nach Muscheln getaucht. Nicht selten hatten die scharfkantigen Steine und Schilfgräser ihnen die Haut zerschnitten. Und eines Tages, als sie älter gewesen waren, hatte er sie dort im dunklen Wasser zum ersten Mal geküsst. Es war nur ein Traum gewesen, ein kurzer Moment des Glücks, der nicht sein durfte, weil sie beide zu dieser Zeit bereits den Göttern versprochen gewesen waren. Als die beiden Panti, bei denen sie sich in Ausbildung befanden, davon erfuhren, wurde Sinamet fortgeschickt von ihrer Heimat zu jener Panti, die in den folgenden Segmentjahren für sie verantwortlich gewesen war.
Und nun saß Thijet an dem Rand des Loches, ließ die Beine hinabbaumeln und blickte in die Ferne. Ob auch er an diese eine Nacht denken musste?
Sinamet setzte sich neben ihn.
Er lächelte. »Ich wusste, dass du kommst.«
»Wie könnte ich auch eines unserer Gespräche missen«, erwiderte sie und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
»Weshalb wolltest du mit mir sprechen?« In der Dunkelheit konnte sie seine Züge nur vage erkennen.
»Ich habe Angst«, gab die Panti zu.
Daran, dass er nichts erwiderte, erkannte sie, dass er sie ernst nahm.
»Ich habe Angst, dass uns unsere politische Uneinheit nun zum Verhängnis wird.«
»Weißt du, dass ich deine Beharrlichkeit schon immer bewundert habe? Obwohl er dich verstoßen hat, verteidigst du den König noch immer.«
Sinamet seufzte. »Ich verteidige einen staatlichen Zentralismus, völlig egal, wer jetzt auf dem Thron sitzt.«
»Das ist nicht die Wahrheit und du weißt es auch.«
»Und ja, ich verteidige ebenso Schedmasal. Er ist der legitime König – genauso wie seine Schwester die legitime Königin ist.«
»Noch vor ein paar Denias hätte Netinod dich dafür öffentlich kritisiert«, entgegnete Thijet. Netinod war ihr Stammesfürst, dem sie beide zu beraten verpflichtet waren und ein Verfechter der Stärkung der Stämme gegenüber dem König. In dem Konflikt zwischen den beiden königlichen Geschwistern hatte er keinerlei Position bezogen und ausgenutzt, dass keiner von beiden die Ruhe hatte, zu überprüfen, was ein unbedeutender Stammesfürst im Osten tat.
»Und das hat sich geändert?« Über Stammespolitik war Sinamet zumeist nur unzureichend informiert, dafür lebte sie zu weit entfernt von ihrer Heimat.
»Aber ja. Und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Ritaschet daran einen nicht unerheblichen Einfluss hat.«
»Ritaschet?« Als Kind war die Frau einer ihrer großen Vorbilder gewesen. Ihr Weg, sich als Entsandte ihres Stammes bis in die Volksversammlung zu kämpfen, hatte Sinamet zutiefst beeinflusst, sodass sie ihr hatte nacheifern wollen. Nun saß Ritaschet noch immer in der Versammlung, während Sinamet nie dort gewesen war. So konnten sich Lebenswege ändern.
»Ja, ich weiß nur nicht, wieso sie auf einmal auf deine Linie einschwenkt.«
»Meine Linie?« Sinamet schmunzelte. Ja, die Mehrheit ihres Stammes mochte ihre Meinung nicht teilen, doch selbst Thijnet musste wissen, dass nicht sie es gewesen war, die Ritaschets Meinungsänderung herbeigeführt hatte. »Schau mich nicht so an. Ich habe damit nichts zu tun.« Das war die Wahrheit. Sinamet hatte Ritaschet seit Segmentjahren nicht gesehen. Vielmehr glaubte sie, dass die Abgesandte auch von dem Unheil wusste, dass auf sie zusteuerte.
»Ich denke, sie weiß etwas«, teilte sie Thijnet ihre Gedanken mit, »über das, was geschehen wird.«
Es hatte sie schon immer verwundert, wie plötzlich Thijnet seine Haltung ändern konnte. Der scherzhafte Unterton aus seiner Stimme verschwand und wich einer ernsthaften Besorgnis. Zugleich setzte er sich aufrechter hin, blickte grimmig und ernst drein.
»Was wird geschehen?«
Auf einmal konnte Sinamet nicht mehr in die Finsternis zu ihren Füßen sehen. Wer wusste schon, was dort alles lauerte? Sie zog die Beine hoch, schlang die Arme um ihre Knie und blickte ihren Begleiter nachdenklich an.
»Erinnerst du dich an die Träume, die ich vor neun Segmentjahren hatte, bevor Jo… der Konflikt ausbrach?«
Er schüttelte den Kopf. »Du hast mir erst zwei Segmentjahre später davon berichtet. Ich war damals nicht in Tsarem.«
Richtig. Es war ein anderer Mann gewesen, dem sie ihre Ängste und Gedanken mitgeteilt hatte. War sie tatsächlich schon so alt, dass sie begann, Menschen zu verwechseln und Erinnerungen durcheinander zu bringen? Der andere Mann hatte sie ernst genommen und die Wachen um den König und seine Kinder verstärkt, doch wirklich verstanden hatte er sie nicht. Genützt hatten ihnen auch die erhöhte Wachenanzahl nichts. Heute glaubte Sinamet nicht länger daran, dass irgendjemand hätte verhindern können, was mit Joresch geschehen war. An ihren Schuldgefühlen änderte auch das natürlich nicht.
»Es waren Träume voller Angst und Dunkelheit. Damals dachte ich, es wäre nur eine Warnung vor dem Krieg, den der Verlust unseres Kronprinzen nach sich zog. Heute frage ich mich, ob es nicht um viel mehr geht.«
»Um was?« Sie hatte gehofft, Rat bei ihm zu finden. In Wirklichkeit war er genauso ratlos wie sie selbst.
»Ach, ich weiß es doch auch nicht.« Müde seufzte sie. »Da ist dieses Gefühl, das mich warnt, aber ich kann es nicht erklären oder eindeutig zuordnen. Und diese Träume … Sie wiederholen sich zum erstem Mal seit neun Segmentjahren. Warum frage ich mich?«
Thijnet legte ihr die Hand auf die Schulter. »Dieses Gefühl kann ich bestätigen und ich denke, wir sollten im Kreis der Panti darüber beraten. Es ist sinnlos, nur zu zweit darüber nachzudenken, anstatt Lösungen zu finden.«
Seine Aussage verletzte Sinamet, hatte sie doch das Gefühl, dass es ihr sehr wohl half, mit ihm darüber zu sprechen.
»Ja, wir sollten im Kreis der Panti darüber sprechen«, stimmte sie ihm zu. In diesem Punkt hatte er ja Recht.
Sie schwiegen und Sinamet wusste nicht, wie sie ihm noch besser ausdrücken konnte, wie sehr sie sich tatsächlich über ihre Träume sorgte. Immer sagten alle, dass sie sich kümmern wollten und sie Lösungen finden wollten, doch niemand schien die wirkliche Lösung zu kennen oder sie zu verstehen – niemand außer Lurrved.
»Ich sollte schlafen gehen«, meinte sie schließlich und erhob sich. »Es werden anstrengende Tage.«
»Ohne jeden Zweifel.« Sie reichte ihm ihre Hand und half ihm auf.
Gemeinsam kehrten sie zu der Siedlung der Panti zurück, wobei keiner von ihnen etwas sagte. Angesichts der späten Stunde war noch erstaunlich viel los. Weit schallten Rufe und Gelächter über die Insel, bis in die letzten Ecken des Schilfs leuchteten Fackeln und waberten bunte Lichter.
Die meisten Panti waren auch nicht vernünftiger. Am Lagerfeuer wurden großzügig Krüge mit Bier und Wein geleert, was die Gespräche nicht unbedingt gehaltsvoller werden ließ.
Die Einladungen, sich zu ihnen zu gesellen, lehnten sowohl Sinamet als auch Thijnet ab.
»Gute Nacht.« Mit einem Nicken verabschiedeten sie sich und gingen jeweils zu ihren eigenen Hütten.
Sinamet wollte soeben eintreten, als sie den Mann bemerkte, der an der Wand lehnte. In der Dunkelheit war er kaum mehr als ein Schemen, aber Sinamet brauchte nicht mehr, um zu wissen, wer er war. Eigentlich hatte sie ihn schon viel früher erwartet.
»Lejkar«, begrüßte sie ihn.
»Sinamet.« Seine Stimme hatte sich nicht verändert.
»Möchtest du reinkommen?« Sie deutete auf die Tür.
Er schüttelte abweisend den Kopf. »Ich werde nicht lange bleiben.«
»Schade. Ich hätte gerne gehört, wie es dir im letzten Segmentjahr ergangen ist.«
»Der Klatsch wird dir alles sagen, was du zu wissen brauchst«, knurrte er unwillig, »Ich will dir nur sagen, dass du dich fernhalten sollst von allem, was unserer Familie schaden könne.« Unserer. Immerhin gestand ihr Bruder ihr weiterhin zu, ein Teil seiner Familie zu sein. Manchmal konnte man fast das Gegenteil meinen.
»Ich habe gehört, dass der Fürst seine Politik gegenüber dem Thron verändert hat? Bedeutet das, dass du auch deinen Platz an seiner Seite verloren hat?«
Sie musste nicht im Gesicht ihres Bruders lesen, um zu wissen, wie zornig er war. Die plötzliche Anspannung seines Körpers und ihr Wissen über ihn genügten dazu. Außerdem war es kein Geheimnis, dass ihr Bruder hoffte, Ritaschets Platz als Gesandter in der Volksversammlung einzunehmen, um somit in die Fußstapfen ihrer beiden Vater zu treten. Einst hatte Sinamet dasselbe gewollt, doch im Gegensatz zu ihm war sie mit dem, was sie hatte, glücklich geworden und hatte nicht weiter versucht, nach dem Unmöglichen zu streben. Ob es ihrem Bruder jemals gelingen würde, sich seinen Traum zu erfüllen, stand offen. Zwar war Ritaschet uralt, doch bisher gab es keinerlei Anzeichen, dass sie sterben wollte.
»Du kannst dir gewiss sein, Schwester, dass ich alles tun werde, um den Ruhm unserer Familie zu vergrößern. Im Gegensatz zu manch anderen steht das für mich nämlich an erster Stelle.«
Er war ihrem Vater einfach so ähnlich. Dieselbe radikale Sturheit und Kompromisslosigkeit hatte auch ihn geprägt. Dieser Unterschied hatte eine ohnehin schon schwierige Geschwisterbeziehung zu einer Farce verkommen lassen. Zwischen ihnen bestand keinerlei Zuneigung mehr. Eine gemeinsame Verwandtschaft band sie vielmehr erzwungenermaßen aneinander.
»Ich bin eine Panti und als solche in erster Linie den Göttern verpflichtet«, antwortete sie ruhig. Vielleicht war sie zumindest in diesem Punkt ähnlich kompromisslos. Im Gegensatz zu ihm sah sie mehr als die eigene Familie und hoffte zumindest, dass sie einen guten Teil zum großen Ganzen beitrug.
Mit einem knappen Nicken zeigte er, dass er nicht bereit war, noch mehr mit ihr zu diskutieren.
»Dann sollen die Götter dir zeigen, dass du dich von Dillenat fernhalten sollst«, zischte er stattdessen.
Und was ist, wenn deine Enkelin sich nicht daran hält, dachte Sinamet amüsiert. Ihr Vater hatte bei ihr dasselbe versucht. Sicher, er hatte ihren Traum, ihm in die Volksversammlung nachzufolgen, zerstört, doch mit ihrer Wahl zur Panti war sie seiner Allmacht dennoch entkommen. Er hatte ihren Lebensweg immer missbilligt, hatte jedoch nichts dagegen einwenden können. Als Sinamet Segmentjahre später als vollwertige Panti in ihre Heimat zurückgekehrt war, hatte sie mit ihm auf Augenhöhe diskutiert. Sie wünschte sich, dass ihrer Großnichte dasselbe möglich wäre.
Sinamet lächelte ihren Bruder an. Sie hatte sich immer gefragt, ob es für ihn ein Vorteil oder ein Nachteil war, dass er das Ebenbild ihres Vaters war. Er war einen Kopf größer als sie und auch im Alter hatte sich bei ihm keine Schwarte angesetzt. Sein gestählter und trainierter Körper zeigte stattdessen, wie aktiv er weiterhin war, auch nachdem sein einst hellbraunes Haar sich grau gefärbt hatte und seine Sehstärke zunehmend nachließ. Ja, er hatte versucht, wie ihr Vater zu werden, nur um festzustellen, dass dieses Ziel unmöglich war. Lekjar war nicht mehr als ein schwacher Zwilling desjenigen, der er zu sein versuchte.
»Der Wille der Götter ist auch für mich manchmal unergründlich«, antwortete sie ausweichend. Das Versprechen, ihre Großnichte zu meiden, konnte sie ihm auf Dauer einfach nicht geben.
Er brummelte etwas Unverständliches, bevor er sich abwandte. Nach ein paar Schritten hielt er doch noch einmal um.
»Willkommen daheim, große Schwester.«
Dann war er fort, verschwunden in der Dunkelheit.
Sinamet blieb stehen und starrte auf die Stelle, wo er verschwunden war.
»Oh Lejkar«, murmelte sie traurig, »Was ist nur aus uns geworden?«
In der Ferne hörte sie Gelächter. Kurze Zeit später zog sich ein flammend helles Feuerwerk über den Himmel. Für einen Augenblick war die ganze Umgebung hell erleuchtet.
Nur in Sinamets Inneren war es kalt und dunkel.
Wie hatte sie auch geglaubt, vergessen zu können, dass sie nicht mehr als eine alte Frau war?