Callinger, Hanuvbre-Gebirge am Lauf des Fedlas, der erste Brabirt des Segments Retoldut.
Der Himmel schien in Flammen zu stehen. Die Bergspitzen schimmerten rot im Licht der aufgehenden Sonne und die Strahlen tasteten sich durch die Täler und Schluchten, über die Spitzen der Tannen hinweg und spiegelten sich in den Gewässern.
Sinamet, die auf einem kleinen Vorsprung abseits eines Trampelpfades stand, blickte auf das Land hinab. Unter sich sah sie ihre Hütte, halb hinter Tannen verborgen, von oben winzig, und den Pfad, der noch tiefer hinab führte, dort, wo der Fedlas breit und strömend durch die Wälder floss. Ihre Augen suchten den Punkt, von dem sie wusste, dass sich jenes Dorf dort verbarg, zu dem sie aufbrechen musste. Doch die Bäume waren von hier zu dicht und völlig gleich, wie sie sich stellte, sie konnte kein einziges Haus erblicken, als wollte der Wald selbst sie vor ihr verbergen.
Ihr Magen knurrte. Sinamet ignorierte es. Sie war es gewöhnt, zu fasten, auch wenn ihr dies im Frühjahr stets schwerer viel als zu anderen Zeiten. Auch waren die drei Tage, die sie in Einsamkeit gefastet und gebetet hatte, um den Willen der Götter zu erkunden und sie zugleich wegen des Erlöschens der Fackel um Gnade anzuflehen, vorbei. Es bedeutete zugleich, dass nun der Moment gekommen war, in dem das Treffen gewisser Entscheidungen unausweichlich war. Die Gebete hatten sie über die Gedanken des Abschieds hinweggetragen, doch nun kehrten sie mit aller Wucht zurück. Sinamet konnte spüren, wie die Angst nach ihr griff. Als sie nach der missglückten Zeremonie den Berg hinaufgestiegen war, hatte sie sich vorgenommen, nicht zu weinen, doch jetzt, wo der Abschied von der geliebten Heimat so greifbar war, rannen doch Tränen über ihre Wangen. Nun war es schlimmer als die Segmentjahre zuvor. Sinamet konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie nicht zurückkehren würde. Ihre Hand umklammerte die erloschene Fackel, welche sie aufgrund des Rituals in all der Zeit nicht losgelassen hatte. Alle Zeichen deuteten darauf hin, dass etwas geschehen würde. Etwas, was Sinamet nicht erfassen, nicht begreifen konnte. Etwas Dunkles, das ihre Wirklichkeit und ihr Leben verändern würde. Dass sie dies nicht wollte, war irrelevant. Es würde geschehen, völlig egal, wie viel Angst sie hatte.
Und weil dem so war, begab sie sich auch an den Abstieg.
Sie ging langsam, den Blick, sofern ihr Weg es nicht anders verlangte, auf ihre Hütte gerichtet. Sie saugte den Anblick in sich auf, jedes einzelne Detail. Dieses unscheinbare Gebäude wurde ihr Fixpunkt, ihr Ziel, ihr Halt. Dieser Ort. Ein Sinnbild für alles, was sie sich in den letzten Segmentjahren aufgebaut hatte.
Es schien ein friedlicher Morgen zu sein. Vögel zwitscherten, der Tau glitzerte im Licht der ersten Sonnenstrahlen und Kaninchen hoppelten davon, als Sinamet unter den Bäumen entlang schritt. Aber sie, die Panti, sah die dunklen Schatten, bemerkte, wie wenig das Licht der Sonne durch die Astkronen hindurchdrang.
Gestört wurde der Anblick auch von Lurrved, der plötzlich vor ihr stand. Die Arme vor der Brust verschränkt lehnte er an einer Tanne und blickte ihr entgegen. Wenn er sich nicht bewegt hätte, so wäre er ihr nicht aufgefallen.
Er räusperte sich. »Wovor fürchtest du dich?«
Nach drei Tagen der Stille war es ungewohnt, wieder eine Stimme zu hören. Und dennoch war sie überrascht, zu merken, dass sie sich über sein Erscheinen freute. Fast war es, als ob er die Angst davonjagte. Nur fast.
Er trat zu ihr und blieb dicht vor ihr stehen. Sein Blick wanderte von ihrem Gesicht bis zu der Fackel, die sie noch immer in der Hand hielt. Seit drei Tagen.
»Haben sie geantwortet?«
Sie hatte nicht viel darüber gesprochen, weshalb sie auf den Gipfel gestiegen war und Lurrved hatte ihr Schweigen darüber stillschweigend akzeptiert. Doch erkannt hatte er trotzdem vieles.
Stumm schüttelte sie den Kopf. Die Götter hatten geschwiegen, wohl um ihren Missfallen erkenntlich werden zu lassen. Lurrved war der Erste, der nun zu ihr sprach. Niemand sonst erwartete sie an diesem klaren, kalten Frühlingsmorgen. Petsahed und die anderen waren zum Dorf zurückgekehrt, damit die Nachricht rechtzeitig zu den Bewohnern, welche das Licht dringender denn je benötigten, gelangte.
»Weshalb hat dieses Ereignis so viel Bedeutung für dich? Es war nur eine Fackel.« Er wirkte keineswegs kritisierend, nur neugierig.
»Du verstehst es nicht.« Nachdem sie drei Tage lang kaum gesprochen hatte, kamen die Laute nur stockend über ihre Lippen. Sie griff nach dem Wasserbeutel, den sie bei sich hatte und benetzte ihre Lippen. Darauf verstaute sie ihn wieder.
»Nein«, gab er zu, »das tue ich nicht.« Und dennoch legte er ihr die Hand auf den Oberarm. Der Druck, den er dabei ausübte, war fest. Für den Moment hatte sie das Gefühl, dass es nur seine Berührung war, die sie daran hinderte, zusammenzubrechen. Seine Präsenz war überwältigend. In all seinem Sein strahlte er eine tiefe, innere Ruhe aus, die andere nicht erst von ihrer Größe überzeugen musste, sondern einfach war.
»Ich habe eine Ziege gefunden.«
Für einen Moment schloss Sinamet die Augen. In ihr schrie die Angst auf. War dies das Zeichen der Götter, das sie in den drei Tagen zuvor trotz aller Gebete nicht erreicht hatte?
»Zeig sie mir.«
Mit einem kurzen Seitenblick ließ Lurrved sie los, dann führte er sie ohne ein weiteres Wort bis zu der Quelle, aus der sie ihn vor wenigen Tagen gezogen hatte. Und dort, halb im Schilf, halb im Wasser lag eine tote weiße Ziege. Es war eines der Jungtiere aus dem letzten Frühjahr. Ein ungeduldiges und aufmüpfiges Tier, das häufiger als alle anderen ihren Gemüsegarten geplündert hatte. Nun war es tot.
Eilig wischte Sinamet die Tränen fort, die ihr nun wieder über die Wangen rannen. Sie wollte nicht, dass Lurrved ihre Schwäche sah.
Er sagte nichts, sondern half ihr, den steifen Körper aus dem Wasser und ins Gras zu ziehen, bevor er wiederum stumm dastand und sie beobachtete.
Auf der Suche nach der Todesursache drehte Sinamet die Ziege um. Bis auf ein paar Kratzer und kleinere Verletzungen konnte sie jedoch keine Bissspuren oder sonstige Wunden finden, welche den Tod der Ziege verursacht hatten. Aber es hatten sich auch keine Aasfresser an dem Tier zu schaffen gemacht, was sie zutiefst erstaunte und besorgte. War sie ertrunken? Lange tot sein konnte sie noch nicht.
»Ich verstehe nicht, weshalb du weinst«, meinte Lurrved plötzlich. »Du hast die Tiere unversorgt draußen gelassen und mir verboten, mich um sie zu kümmern.«
Sinamet sah nicht von ihrer Arbeit auf. »Ich musste es tun«, murmelte sie. »Die Götter hatten die Macht, sich um meine Tiere zu kümmern. Dass sie sich entschieden haben, eine junge, weiße Ziege sterben zu lassen, ist ein Zeichen.«
»Und es bedeutet Unglück«, schlussfolgerte Lurrved, ohne eine Wertung erkennbar werden zu lassen.
Sie schwiegen wieder, während Sinamet mit der Hand durch das Fell der Ziege fuhr und leise rituelle Worte murmelte, um dieses Zeichen der Götter zu würdigen.
»Erfüllt es dich hier zu sein?«, fragte ihr Gesprächspartner plötzlich.
Sinamet antwortete nicht. Mittlerweile hatte sie verstanden, dass er sich wenig um passende oder unpassende Momente scherte, was dennoch nicht bedeutete, dass die Fragen weniger schmerzhaft waren. Gerade jetzt, wo sie spürte, wie die Last der Verantwortung sie schier erdrückte. Eine weiße Gans. Eine junge, weiße Ziege. Sie beide waren Vorzeichen, doch was bedeuteten sie gemeinsam? Was war der Weg, den Sinamet zu gehen hatte, um die Aufgabe zu erfüllen, die ihr gegeben war? Vor sich sah sie nur Dunkelheit.
»Erfüllt es dich?«, wiederholte er.
Sinamet, die einsah, dass sie die Todesursache nicht herausfinden würde, wandte sich von der Ziege ab. Sie blickte zu ihm auf. Tränen rannen der alten Panti aus den Augenwinkeln.
»Nein«, flüsterte sie. In ihrem tiefsten Inneren empfand sie eine Leere, welche nichts länger als nur einen Moment überbrücken konnte. Sobald sie alleine war, griff dieses Gefühl erneut nach ihr. Sie hatte gehofft, hier ihren Frieden zu finden, aber in kalten, langen Wintermonaten gab es wenig Ablenkung und stattdessen viel Zeit zum Nachdenken. Und das Nachdenken schadete ihr, denn brachte es Gedanken zurück, die sie lieber vergessen hätte.
»Sinamet, was du hier tust, ist sehr wichtig«, meinte er sanft, »diese Menschen brauchen jemanden, der sich um sie kümmert.«
»Aber?«, hakte sie mit leicht zusammengekniffenen Augen nach.
»Du könntest noch so viel mehr tun. Du hast so viel ungenutztes Potenzial, so viel Wissen, dass du hier niemals anwenden kannst. Und manchmal, manchmal macht mich das traurig.« Er deutete auf die tote Ziege. »Und über deinen Schmerz sprichst du nicht.«
»Du verstehst es nicht«, wiederholte sie, wohl wissend, dass dies eine armselige Entschuldigung war, um sich nicht weiter mit dem eigenen Schmerz auseinandersetzen zu müssen.
»Dann hilf mir dabei! Weshalb berührt dich der Tod dieser Ziege so, obwohl du ihn bewusst zugelassen hast?« Er wirkte nicht fordernd. Es war mehr eine Bitte, gesprochen aus Verzweiflung und Sorge. Sie verstand, dass es ihm nicht um die Bedeutung dieses Rituals ging, sondern um die Frage, was dies mit ihr machte. Diese ehrliche Sorge war es, was sie ein wenig teilen ließ.
»Es ist ein Zeichen, Lurrved. Ein Zeichen der Götter.« Sie stockte, immer noch das Bild der erlöschenden Fackel und das Flüstern derjenigen, die sich auf sie verlassen hatten, im Gedächtnis. »Etwas Dunkles bewegt sich auf uns zu. Die Flamme ist erloschen, ein junges Tier stirbt ohne sichtbare Todesursachen an einer heiligen Quelle und zugleich senden unsere Götter einen Boten.«
Er hatte interessiert gewirkt, doch beim letzten Satz zuckte er zusammen und runzelte die Stirn.
»Nein«, widersprach er überraschenderweise, »deine Götter haben mich nicht gesandt.«
Vorsichtig hob Sinamet sich die Ziege auf die Schultern. »Wir alle wissen nicht, wie sie uns nutzen, Lurrved. Du und ich, wir alle sind ein Teil ihres Plans.«
»Ich nicht«, erwiderte er. Zum ersten Mal erkannte sie so etwas wie Abneigung und Zorn, die ihn bewegte. Zuvor war es hauptsächlich Unverständnis für ihre Rituale gewesen, jetzt schien er ihre Götter fast zu verabscheuen.
Sinamet erschauderte und sie fragte sich, ob er nicht doch ein Dämon war, der sich zuvor geschickt getarnt hatte. Aber nein! Die Gans hatte ihr gezeigt, dass sie ihm trauen konnte. Die Wege der Götter waren unergründlich. Vielleicht prüften sie Sinamet durch den Unglauben ihres eigenen Gesandten?
»Du wirst lernen, sie zu verstehen. Mit der Zeit.« Sinamet setzte sich in Bewegung. Der Rückweg zu ihrer Hütte schien ihr beschwerlicher als gewöhnlich zu sein, nicht nur aufgrund der Last, die sie auf ihren Schultern trug.
Dort angekommen bemerkte sie, dass Lurrved die letzten drei Tage nicht untätig geblieben war. Er hatte das Dach neu eingedeckt und sowie sie die Hütte betrat, sah sie, dass er auch gepackt hatte.
»Du hast gesagt, dass du bald aufbrichst«, meinte er, als er ihrem Blick folgte.
»Ja«, antwortete sie. Die tote Ziege legte sie neben dem Gepäck ab. Ursprünglich hatte sie erst später aufbrechen wollen, doch die Vorzeichen geboten Eile. Nur den Ritus hatte sie erfüllen wollen, um vielleicht das Unheil ein wenig abwenden zu können. Das Gepäck schien vernünftig gepackt zu sein. Einzig und allein die rituellen Gegenstände und Kräuter, die sie benötigte, fehlten. Sinamet ging an Lurrved vorbei, nahm ihr Messer von ihrem Gürtel und schnitt Kräuterbüschel von der Decke, die sie sorgfältig in Beuteln verpackte. Doch brauchte dies nur wenig Zeit. Dann gab es nichts mehr zu tun. Erneut standen sie sich gegenüber und starrten sich an.
»Du fürchtest dich«, durchbrach er die Stille. Dieses Mal war es keine Frage.
»Ja«, gab sie unumwunden zu, »ich mache mir Sorgen wegen dem, was auf uns zukommt.«
»Und weil du in deine Heimat zurückkehrst.«
Die Tatsache, wie gut er ihre Gedanken und Gefühle las, konnte beängstigend sein.
»Auch das.«
»Was ist es, dass dich deine Heimat fürchten lässt?«
»Erinnerungen«, antwortete Sinamet. Sie nahm den Beutel hoch, den er ihr gepackt hatte, und kontrollierte den Inhalt, um irgendetwas zu tun. »Aber ich bin bisher jedes Segmentjahr hingegangen und auch jedes Segmentjahr zurückgekehrt.«
Lurrved deutete auf die Ziege, deren toten Augen gen Himmel starrten. Sie war noch nicht lange tot, aber bald würde sie beginnen zu stinken. »Soeben war es noch eine Zukunft und jetzt ist schon der Tod Vergangenheit. Vieles geschieht unerwartet. Was wird von deinem Leben bleiben, wenn du gehst, Panti Sinamet?«
Die Themen, die er einbrachte, schienen nur auf den ersten Blick hin zusammenhangslos zu sein. Meist führte er die verschiedenen Themen so geschickt zusammen, dass es Sinamet nicht bemerkte, nur um sie zu einer bestimmten Schlussfolgerung zu führen. Daran gewöhnen würde sie sich wohl nie. Dieses Mal jedoch glaubte sie, zu wissen, worauf er hinauswollte.
»Erinnerungen.« Das war es doch, auf das er hinauswollte, oder? Etwas ratlos blickte Sinamet auf die Ziege hinab. Sie wusste, dass sie diese mit zum Dorf nehmen musste. Aber wie sollte sie das Tier transportieren? Ob es sich lohnte, eine Art Trage zu bauen, die sie hinter sich ziehen konnte? Aber wie sollte sie die Steigung überwinden?
»Vielleicht bist auch du die Einzige, die sich an die Personen aus deiner Vergangenheit erinnern kann«, meinte Lurrved nun. Er lächelte.
Sinamet nicht.
»Wenn etwas Dunkles kommt, wie du sagst, Sinamet, ist es da nicht wichtig, dass ihr euch einig seid? Wichtig, dass du dich nicht versteckst, sondern deine Position in dieser Welt einnimmst?«
»Was verstehst du denn schon von meiner Position?«, fauchte sie. Es missfiel ihr, dass er, dieser Fremde, alles, was sie sich in den letzten Segmentjahren aufgebaut hatte, einfach kritisierte. Auch hatte sie nicht das Gefühl, dass er ihre Ängste wirklich wahrnahm und verstand, weshalb diese Omen so schrecklich für ihr Volk waren.
»Ich weiß nicht genau, für was dieser Begriff »Mared« steht, den du in der Nacht ausgerufen hast«, antwortete er, »aber ich weiß, dass die Zukunft schon bald zur Vergangenheit werden wird und dass du nicht wirklich glücklich hier bist, weil du mit deiner Vergangenheit nie wirklich hast abschließen können.«
Manchmal erschienen ihr seine Worte, wie die Sprüche der alten Riten zu sein, hinter denen sich so viel alte Weisheit verbarg, dass man diese kaum erkennen konnte. Sinamet erschauerte. Sie spürte, wie die Zeit verrann. In ihren Träumen war sie häufig jung, ohne Schmerzen oder Altersbeschwerden. Und dann, wenn sie erwachte, merkte sie, wie alt sie bereits geworden war. Wie sollte sie diese Zeichen richtig deuten, wo es doch die Jungen waren, denen die Welt mittlerweile gehörte?
»Ich muss die Ziegen einfangen, Lurrved.«
Sie wandte ihr Gesicht ab, damit er nicht bemerkte, dass sie weinte.
»Ich helfe dir.« Mit einem raschen Schritt war er an der Tür, nahm ihren Wanderstab, der dort lehnte und reichte ihn ihr. Ihre Tränen kommentierte er nicht, auch wenn sie in seinem Blick eine tiefe Traurigkeit und Sorge las, die sie rührte.
Sie traten wieder hinaus in das Tageslicht, das Sinamet nun so viel dunkler zu sein schien.
Als sie die Ziegen eingefangen hatten, brachen sie auf. Die Fackel des Winterfeuers in der Hand verschloss Sinamet die Tür ihrer Hütte. Es fiel es ihr schwer, diesen Ort der Ruhe zu verlassen. Vielleicht würde Schalwa zwischendurch nach dem Rechten sehen, wenn sie ihn darum bat. Die Frage, ob Lurrved sie begleitete, stellte sich für Sinamet kaum. Er kam einfach mit und ihr war bewusst, dass sie ihn brauchte, mehr als zuvor. Vielleicht weil er die Hintergründe ihrer Ängste nicht verstand und sie dementsprechend anders beurteilte.
Lurrved beobachtete ihren Abschied still, ohne sich darin einzumischen.
»Bereit?«, fragte er sie, sowie sie sich abwandte.
Sie nickte, auch wenn es eine Lüge war.
Für diesen Moment war sie nicht bereit, sie musste es nur sein.
Schweigend begaben sie sich auf den Weg ins Tal.
Sie erreichten das Dorf am Ufer des Fedlas gegen Mittag, als die Sonne hoch am Himmel stand. Umgeben war es von einer kleinen Palisade, welche mehr dazu diente Wildtiere abzuhalten denn menschliche Angreifer. Sinamet, die dies zuvor kaum wahrgenommen hatte, beunruhigte dies nun. Wenn das Dorf angegriffen werden würde, könnte es sich kaum zu Wehr setzen. Die Weiden mit ihren ausladenden Ästen, die nun Blüten schmückten, boten hervorragende Verstecke, sodass man sich dem Dorf bis auf eine geringe Entfernung unbemerkt nähern konnte. Das Gras der Wiesen, auf denen die ersten Blumen farbige Akzente inmitten strahlenden Grüns setzten, war hoch genug, dass Angreifer sich kriechend vorwärtsbewegen konnten. Die gewaltigen Wälder, in die das Dorf eingebettet war, erschienen ihr nun düster. Die Menschen, die Schaf- und Ziegenherden unter das Dach der Bäume trieben, wirkten winzig im Vergleich zu den gewaltigen Riesen. Sinamet wurde bewusst, wie leichtsinnig es gewesen war, zu glauben, dass sie hier sicher waren. Aber auch eine höhere Palisade würde sie kaum vor dem schützen können, was ihnen bevorstand. Schon bald würde etwas geschehen. Sinamet wusste es.
Sie musste sich bemühen, ihre Ziegen zusammenzuhalten, welche zu diesem oder jenen Leckerbissen strömen wollten, oder ihre Artgenossen entdeckt hatten. Das lenkte sie ab, sodass nicht mehr Zeit blieb, in ihren Gedanken zu versinken. Wortlos half Lurrved ihr dabei.
»Panti! Panti!« Sie war nicht überrascht, dass Schalwa ihr vom Dorf entgegenrannte. Rasch bremste er seine Geschwindigkeit ab, um die Ziegen nicht zu verschrecken.
»He!« Er trat er zu einer dunklen Ziege, welche sich vom Rest entfernt hatte und trieb sie gekonnt zu den anderen zurück. Die Tiere kannten und akzeptierten den Jungen.
»Warten sie, Schalwa?«, fragte sie ihn, obwohl sie genau sehen konnte, dass sich im Eingang der Palisade eine größere Ansammlung gebildet hatte.
Er nickte. »Ja, Panti. Sie warten.« Sein Blick fiel auf die tote Ziege, welche Lurrved trug. Er sagte nichts.
»Gut.« Die Finger, die sich um die erloschene Fackel geschlossen hatten, waren leicht verschwitzt.
Schalwa trat hinter ihr, wo er Lurrved half, die Ziegen zusammenzuhalten. Sinamet dagegen schritt auf das Dorf zu.
Dort standen Männer, Frauen und Kinder. Nicht nur aus diesem, sondern auch aus den drei umliegenden Ortschaften, für welche Sinamet als Freypanti verantwortlich war, waren sie gekommen. Nicht ihretwegen. Nein, weil das Licht erloschen war.
Schweigend wichen sie zur Seite und bildeten eine Gasse, welche durch das Dorf führte. Ihre Gesichter waren verschlossen, ihre Blicke angsterfüllt. Totes Laub bedeckte den Boden und die Gesichter der Anwesenden waren mit schwarzen Malereien überzogen.
»Dufech«, wisperten die Menschen, »Dunkelheit.«
Sinamet hielt die Fackel, welche drei Tage zuvor erloschen war, in den Händen. Sie trug sie bis zu dem Baum, der inmitten der Siedlung wuchs. Es war eine gewaltige Birke. Davor stand ein kleiner Unterstand, der mit Blumenketten und Farben verziert war. Zwei Kinder, die noch nicht die Prüfung eines Erwachsenen abgelegt hatten, wachten dort.
»Panti.« Sie hoben die Speere zum Gruß.
»Wächter dieses Dorfes aus dem Stamm Nithel hört meine Worte!«
»Wir hören, Panti«, riefen diese und alle, die sich hinter Sinamet versammelt hatten. Sinamet winkte Lurrved zu sich, der auf ihr Zeichen die tote Ziege zu ihren Füßen ablegte. Ein Raunen ging durch die Menge.
»Wir sind verflucht!«, schrie jemand. »Eine Strafe der Götter!«
Als Sinamet den Blick über die Menge schweifen ließ, verstummte die Stimme.
»Volk! Ein junges Tier wurde getötet in der Zeit, als die Herde unbewacht war. Ein Tier, welches sein Leben noch vor sich hatte und auf Schutz angewiesen war. Eine düstere Zeit steht uns bevor! Die Götter haben sich entschieden, uns das neue Jahr mit Dunkelheit beginnen zu lassen. Vergesst die Warnung nicht, dass etwas Junges, Unschuldiges vernichtet werden soll und haltet Wache ob der Dinge, die da kommen werden.«
»Wir halten Wache«, erschall die Antwort. Kinder, Frauen und Männer vereinten ihre Stimmen in einer Aussage, die Sinamet als sehr düster wahrnahm. Sie fühlte sich an einen kleinen Trupp von Soldaten erinnert, der zurückgeblieben war, um den Rückzug gegen eine Übermacht zu decken. Ein Todeskommando. Die alte Frau schüttelte die Bilder ab, die sich ihr aufdrängten. Es wird nicht geschehen, ermutigte sie sich selbst, ich lasse es nicht zu.
»So soll es sein«, entgegnete Sinamet leise. Sie fühlte sich erschöpft. Mit jedem Segmentjahr ein Stück mehr.
Auf einmal war Petsahed an ihrer Seite. Mit einem Nicken erteilte sie ihm die Erlaubnis zu reden. Gemeinsam mit ihm wandten sie sich zu dem versammelten Volk um.
»Volk!« Er hob die Arme. Das Lächeln, welches ihn für gewöhnlich auszeichnete, wenn er zu seinem Volk sprach, war verschwunden. »Ihr habt die Worte der Panti gehört und wisst, was der Wille der Götter nun verlangt. Die Flamme muss zu der Mündung des Fedlas gebracht werden, wo der Segen dieses Landes entspringt. Jemand, der seinen Namen noch nicht erworben hat. Ihr wisst, was zu tun ist.«
Die Menge zerstreute sich. Zurück blieben Jungen und Mädchen im Alter von sechs bis dreizehn, die sich in einer Reihe aufstellten. Sie waren noch keine vollwertigen Stammesmitglieder und besaßen nicht das Recht, in der Versammlung zu sprechen.
Kurz darauf wurde ein weißes Pony herangeführt, das gegenüber der Kinder platziert wurde. Sinamet war es, die das Halfter löste und dem Tier einige Worte ins Ohr flüsterte. Das Tier würde den Willen der Götter offenbaren, so wie es schon oft zuvor geschehen war. Sinamet schloss die Augen, aber sie hörte das Wispern der Beobachter, welche die Bewegungen des Ponys aufgeregt kommentierten. Ein Seufzen ging durch die Menge.
Sinamet öffnete die Augen. Das Pony stand vor einem Jungen, der diesem durch die Mähne fuhr. Schalwa. Kummervoll entgegnete sie den Blick, den das Kind ihr zuwarf. Soeben war es noch eine Zukunft und jetzt ist schon der Tod Vergangenheit. Lurrveds Worte, erst vor wenigen Stunden ausgesprochen. Stand auch dies Schalwa bevor? Hatte sie ihn auf eine Todesmission entsandt? Er wirkte nicht ängstlich. Die Gefahren, welche der weite Weg bedeutete, waren ihm nicht bewusst. Nun wünschte sie sich, dass sie selbst an seiner statt gehen konnte. Doch war Sinamet kein Mitglied dieses Stammes, weshalb ihr diese Möglichkeit verwehrt war. Schützt ihn, flehte sie zu den Göttern, doch sie blieben ihr eine Antwort schuldig.
»So soll es sein«, rief Sinamet. Ihre Hände umklammerten die Fackel. »Weil es das vierte Segment ist, sollen ihn vier Männer begleiten. Diese werden durch Petsahet ausgewählt.« Nun wandte sie sich direkt an Schalwa. Die anderen Kinder waren von ihm abgerückt und in der Menge abgetaucht, sodass er nun alleine da stand. »Ich überreiche dir die Flamme, Schalwa Nithel. Sie ist nun erloschen. Trage sie zu unserer heiligsten Stätte, auf dass sie neu entflammt.«
Mit wenigen Schritten überwand sie die Distanz zu ihm. Die freie Hand legte sie auf den Kopf des Ponys, mit der anderen reichte sie Schalwa die Fackel.
»Wer passt auf dich auf, wenn ich fort bin?«, wisperte Schalwa, doch weil die Menge verstummt war, hörte man seine Worte gut.
Sie achtete nicht darauf, sondern beugte sich zu dem Jungen.
»Mache dir keine Sorgen um mich, Schalwa. Sei für jene da, die schwächer sind als du, helfe denen, die deine Hilfe benötigen.«
Dies war ein Ausschnitt aus den traditionellen Worten, welche eine Panti sprach, wenn sie in ihr Amt berufen wurde. Allen war damit bewusst, dass Sinamet Schalwa als einen möglichen Kandidaten für ihre Nachfolge ins Gespräch gebracht hatte – entgegen der Tatsache, dass Freypanti nur selten Nachfolger wählten. Wenn Schalwa diese gefährliche Reise denn überstand.
Hinter ihr ergriff Petsahed das Wort, um die Bestimmungen von Schalwas Auftrag zu erläutern. Sinamet beachtete es kaum. Alles, was für sie in diesem Moment zählte, war das Lächeln eines kleinen Jungen, der so viel stärker war als sie selbst.
Sinamet und Lurrved brachen noch an demselben Tag aus dem Dorf auf, in dem eine düstere und bedrückte Atmosphäre vorherrschte. Sinamet und Lurrved, derweil die Dörfler am Ufer standen und ihnen nachwinkten. Petsahed selbst hatte ihnen sein Kajak geliehen, mit welchem sie dem Lauf des Fedlas folgen würden. Dieser mündete in die Bucht von Liris, wo die Insel lag, auf der Sinamet geboren und aufgewachsen war. Es würde eine wochenlange Reise sein und Sinamet war froh, dass sie dieses Mal nicht alleine reiste.
»Du passt doch auf sie auf?« Schalwa beugte sich vom Ufer zu ihnen hinüber. Mit einer Hand hielt er sich dabei am Ast einer Weide fest. Es fehlte nicht viel, und er würde ins Wasser fallen.
»Das werde ich«, versprach Lurrved erneut mit einer Ernsthaftigkeit, in der er so vieles tat.
»Und du passt auf dich auf, Schalwa«, ermahnte Sinamet ihn und bedeutete ihm, sich wieder auf festen Grund zu begeben. Nicht sie war es, um die sie sich Sorgen machte. Der Junge würde morgen aufbrechen, so hatte Petsahed es festgelegt, um dem Ritus zu entsprechen. Sinamet hätte sich gewünscht, dass sie zumindest einen Teil der Reise gemeinsam hätten zurücklegen müssen. Doch derweil Sinamet zur östlichen Küste zog, führte Schalwas Weg ihn nach Westen, tiefer in das Hedöraneg-Gebirge hinein bis zu dem heiligsten Ort ihres Volkes, der hoch über den Klippen des Meeres thronte. Es war eine dünn besiedelte Gegend und der Krieg, der in den Kernlanden und im Norden Callingers tobte, war dort nur ein ferner Gedanke, aber umso größer waren die Gefahren, die durch Raubtiere, die Kälte und Steinlawinen hervorgerufen wurden. Sie sorgte sich um Schalwa, diesen kleinen Jungen, der ihr in den letzten drei Segmentjahren ein treuer Begleiter gewesen war.
Grinsend sprang das Kind zurück. Nun stand es unter der Weide und winkte ihnen zu.
»Auf Wiedersehen«, rief Sinamet. Oh ihr Götter, bitte schützt ihn!
Petsahed warf ihr das Seil vom Bug zu, welches sie vor sich ins Boot legte. Mit dem Paddel stieß sie sich vom Ufer ab, bis sie in der Mitte des Flusses waren. Die Strömung trug sie rasch davon. Es dauerte nicht lange, bis das Dorf hinter einer Biegung verschwand und sich vor ihnen eine fast unberührte und ungezähmte Wildnis erstreckte. Hoch ragten die Berge zu beiden Seiten auf, davor breiteten sich dunkle Wälder aus, zwischen denen Felsen wie die verlorenen Spielzeuge eines Riesen hervorschauten.
Und irgendwo dahinter lag Sinamets Heimat.
Sie tauchte das Paddel ins Wasser. Weiter.
Hinter ihr summte Lurrved ein Lied.
In ihren Gedanken entstand ein Text dazu.
Färbt der Mond sich rot, so werden seine Tränen weiß und wir unsere Heimat finden.
Bald.