Meschvaj, der dritte Helam des Segments Retoldut
Schedmasal hatte sechs Segmentjahre gezählt, als er und seine Schwester ihren Vater zum ersten Mal zum Sitz der Volksversammlung nach Meschvaj begleitet hatten. Jekar hatte sie der Versammlung vorstellen wollen, nachdem seine beiden Kinder nur einen Monat zuvor bei dem großen Fest Kamitja als minderwertige Mitglieder in ihren Stamm aufgenommen worden waren, weil sie ihren Wert für die Gemeinschaft durch das Mithelfen bei der Ernte bewiesen hatten.
Erst Segmentjahre später, als sein eigener Sohn Joresch dieser Probe gegenüberstand, hatte Schedmasal verstanden, dass König Jekar sich um das Nichtbestehen seines einzigen Sohnes mehr gesorgt hatte, als er es ihm gegenüber damals zugegeben hatte. Seine Sorge hatte Schedmasal dennoch gespürt.
Er war ein schwächlicher Junge gewesen, klein und häufig kränklich, der weinte, wenn er ein Tier sterben sah. Und schwache Kinder wurden nicht in den Stamm aufgenommen. Niemand wollte jemanden aufziehen, der nicht seinen Teil zur Gemeinschaft beitragen konnte. Für den Nachwuchs eines Königs galt das besonders.
Seine Schwester Schedela war vor ihm vor die Panti getreten und hatte stolz den Hasen vorgezeigt, den sie mit ihrer Schleuder erlegt hatte. Selbst heute noch erinnerte Schedmasal sich an ihr selbstüberzeugtes Lächeln, nachdem der weise Panti sie als die Stärke des Volkes in schwerster Zeit bezeichnet hatte.
Schedmasal hatte keinen Hasen gehabt, nur eine Hand voll Getreide, und die Panti hatten die Stirn gerunzelt.
»Welche Gabe bringst du den Göttern, mein Junge? Welches Geschenk bringst du denen, die dich in ihrer Mitte aufnehmen sollen?«, hatten sie gefragt und ihn ernst angesehen, während Schedmasals Vater als stummer Schatten hinter ihnen aufgeragt war.
Er hatte seine Hände geöffnet, ihnen das Getreide gezeigt und gesprochen: »Ich bringe dem Stamm Samen. Noch Jahre wird es von denen ernten können.«
Die Panti direkt vor ihm hatte gelächelt, dann hatten sie sich umgewandt und den heiligen Baum umringt, den Mittelpunkt ihres Stammes, den Wahrer aller Namen jener, die ein Teil von ihm waren. Schedmasal hatte gewusst, dass es Kinder gab, die sie ablehnten, weil sie ihre wahren Namen nicht in der Rinde entdeckten, so wie sie Kinder ablehnten, da ihnen die Fähigkeiten oder die Kraft dazu fehlte.
Daran hatte er denken müssen, während die Panti die heiligen Gesänge rezitierten, die Blätter der mächtigen Kastanie herabregneten und der Baum in einer ihm unverständlichen Sprache sang.
Es hatte lange gedauert, sehr viel länger als bei seiner Schwester, bis sie sich wieder ihm zugewandt hatten. Für ihn hatten sie keine Worte der Ermutigung bereitgehalten, sondern nur Rätsel, deren Sinn sich ihm bis heute nicht erschloss.
»Die Götter haben uns deinen Namen genannt«, hatten die weisen Männer und Frauen im Einklang miteinander gesprochen, »und es ist ein guter Name, sofern du würdig bist, ihn dir zu verdienen.« Nun ergriff die Panti in der Mitte das Wort. »Sie haben uns gesagt, dass sie in dich einen Teil des Geistes desjenigen gegeben haben, der sich Hawerezod nannte. Mit deinem Leben wirst du dem Volk Streit schenken, aber mit deinem Tod Versöhnung.«
Sie hatten die Köpfe gesenkt und der ganze Stamm hatte gesprochen: »So lautet der Götter Spruch.«
Damit war Schedmasal vorläufig in den Stamm aufgenommen worden, bis er sich in seiner Jugend mit der ersten Jagd die endgültige Aufnahme und damit auch seinen Götternamen verdient hatte.
Auf der Reise zu jenem abgelegenen Ort, an dem die Volksversammlung zusammen kam, hatte sein Vater seinen Kindern von dem König Haverhed erzählt, den er als den größten bisherigen Herrscher bezeichnet hatte, obgleich er aus einer anderen Dynastie und einem anderen Stamm kam.
»Viele sehen ihn als Versager«, hatte Jekar gemeint, »weil er seine Herrschaft nicht auf militärischer Macht aufbaute.«
»Worauf dann?«, hatte Schedela verächtlich gefragt. »Jeder König braucht Soldaten. Ein König ohne Soldaten wird ermordet.«
Ihr Vater hatte gelacht. »Sicherlich liegst du damit richtig. Aber auf der Macht von Soldaten kannst du keinen stabilen Staat errichten.«
»Wie hat Haverhed es dann gemacht, Vater?«, hatte Schedmasal wissen wollen.
Die Antwort ihres Vaters hatte in einer Münze für jeden von ihnen und den Worten »Auf einer einheitlichen Währung« gemündet.
Und jetzt, wo Schedmasal den Pfad hinaufstieg, der nach Meschvaj führte, war es eben diese Münze, die er zwischen seinen Fingern rieb. Als Jugendlicher hatte er gesehen, wie sein Vater mit seinen Versuchen, erneut eine einheitliche Währung einzuführen, gescheitert war. Damals hatte er geschworen, das innerhalb von seiner eigenen Regentschaft zu vollbringen. Nun, im neunten Segmentjahr seiner Herrschaft war er davon weit entfernt.
Wie er sich wünschte, dass sein Vater nun wie einst neben ihm gehen würde. Sicherlich wüsste er, was zu tun wäre. Aber Schedmasal war alleine. Es gab nur ihn. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie die Menschen ihn wohl nach seinem Tod beurteilen würden. Würde er als Mahnung oder als Vorbild für die Heranwachsenden genannt werden? Er wusste es nicht.
Schirewel fiel ihm ein. Es war immer sein Ziel gewesen, seine beiden Zwillingskinder gemeinsam zur Stammesversammlung zu geleiten, nachdem sie sich ihren Götternamen erworben hatten, um sie aller Welt als seine möglichen Nachfolger zu präsentieren. Geblieben war ihm nur die Tochter, die sich nun alleine auf den Weg gemacht hatte, um Aufgaben zu übernehmen, die eigentlich die seinen gewesen wären. Sobald er sie wiedersah, nahm der König sich vor, würde er ihr sagen, wie stolz er auf sie war.
Schedmasal richtete den Blick nach vorne. Der Aufstieg nach Meschvaj war kein leichter. Der Pfad, der sich durch das Gebirge schlängelte, war eng und schmal, die Felswände ragten hoch hinauf und die Abhänge fielen steil hinab. Schon damals, als ein Kind, das kaum etwas von der Welt verstand, hatte er sich gefragt, ob die Volksversammlung nicht aufgesucht werden wollte, wenn sie sich soweit abseits der Menschen versteckte. Erst mit der Zeit hatte er verstanden, dass es nicht die Volksversammlung, sondern die Götter selbst waren, die sich diesen Ort auserkoren hatten. Für Schedmasals Volk gab es keinen heiligeren Ort als Meschvaj. Aus der Quelle inmitten des Gebirges entsprang der Fedlas, die Lebensader Mittelcallingers, und die sie umgebenen Ruinen stammten aus einer Zeit, von der nicht einmal die Panti wussten. Und da die Götter hier waren, musste die wichtigste Institution des Volkes eben zu ihnen kommen.
Der Großteil von Schedmasals Begleitern und die Pferde waren weiter unten bei den menschlichen Wächtern verblieben. Allein vier Männer begleiteten den König und sie alle hatten ihre Waffen abgelegt. Man kam nicht bewaffnet nach Meschvaj, denn sie alle standen gleichermaßen unter dem Schutz der Götter. Leben und Tod an dieser Stelle in die eigenen Hände zu nehmen, galt als schwere Sünde.
Nun wachten über ihnen nur die steinernen Augen Meschvajs. Gesichter schälten sich um sie herum aus dem Stein der Felswände, die Züge halb verschmolzen, halb erkennbar. Undeutliche Schemen, deren Herkunft nicht bekannt war, weshalb die Panti sie als die Augen der Götter interpretiert hatten. Schedmasal empfand sie als unheimlich. Es waren tote Augen, ohne jede Rührung gegenüber jenen, die an ihnen vorbeischritten. Man musste genauer hingehen, wollte man das Leben entdecken, dass sich in ihrer Mitte befand. Zarte Schösslinge suchten sich ihren Weg zwischen den Augen hindurch und Blumen bekränzten steinerde Köpfe, als wolle der Frühling den Alten der Vergangenheit ihre Ehre zurückgeben.
Für Schedmasal verkörperte diese Jahreszeit eben das: Hoffnung. Und die Blumen waren ihm Zeichen, dass es auch inmitten der Dunkelheit Hoffnung gab.
Erst in Meschvaj selbst erwarteten ihn lebendige Augen von Personen, die forderten, die verlangten und ihm mit Erwartungen gegenübertraten.
Die Volksversammlung traf sich unter offenem Himmel über den Klippen unter der gewaltigen Fichte, den heiligen Baum des Volkes. Die lauten Stimmen wurden schon aus der Ferne zu Schedmasal getragen, während er durch die verfallen wirkende Siedlung lief. Dieser Eindruck täuschte. Meschvaj war ein alter Ort, dessen Geschichte selbst die weisesten der Panti nicht mehr kannten, doch mit der Zeit hatte man die Wege wiederhergestellt und aus den meisten der verlassenen Bauten erneut ein Zuhause gemacht. Die Häuser waren aus Stein errichtet, was ungewöhnlich war. Doch als die Volksversammlung diesen Ort für sich beansprucht hatte, waren die Besonderheiten dieses Ortes als Wille der Götter und Zeichen für die Bedeutung der Versammlung gedeutet worden.
Deshalb hatte man den Charakter der alten Ruinen beibehalten und nur das erneuert, was zum Erfüllen der Bedürfnisse der Volksversammlung benötigt wurde, während sie in Meschvaj ihrem Volk diente.
Jetzt wirkte die Stadt selbst verlassen. Sicherlich waren irgendwo Diener und Wachen, doch zeigten sie sich Schedmasal und seinen Begleitern nicht. Und schließlich war es die Versammlung, welche den König interessierte.
Er wandte sich zu seinen Begleitern um. Es waren seine treusten Männer.
»Gebt mir das Zeichen.«
»Wie du wünscht.« Weder förmliche Anreden noch Ehrenbezeichnungen hatten einen Platz auf den heiligen Klippen, denn vor den Göttern waren sie alle gleich. Dennoch war es ungewohnt, so vertraulich angesprochen zu werden.
Der König, der hier keiner war, nahm die Kette aus Kastanien entgegen, die ihm gereicht wurde. Es war Brauch, dass jeder, der vor die Volksversammlung trat, etwas von seinem Heimatstamm mit sich brachte. Der heilige Baum, um den Schedmasals Stamm sich scharte, war die Kastanie, weshalb er sich für diese Gabe entschieden hatte.
Der heilige Baum des gesamten Volkes wurzelte hier in Meschvaj. Die Fichte thronte über den Klippen. Wie ein einziges Mahnmal krallte sie sich in die Erde dieser von Pflanzen nur dünn besiedelten Gegend und erwehrte sich der Einflüsse der Natur. Um diese Fichte hatte sich die Versammlung gebildet. Männer und Frauen saßen inmitten von Gras und Frühlingsblumen und redeten aufeinander ein. Die Diskussion war im vollen Gange, doch verstummte sie, als Schedmasal sich näherte und erkannt wurde.
Diejenigen, die gesessen haben, erhoben sich ehrerbietend. Köpfe wurden geneigt und Segenssprüche ausgebracht. Eine Farce. Hinter ihren lächelnden Gesichtern wurden schon jetzt Pläne geschmiedet, wie er zu Fall gebracht werden konnte.
Schedmasal bedeutete seinen Männern, dass sie warten sollten, dann trat er mit seiner Gabe in den Händen näher an die Versammelten heran.
»Volksversammlung, als einer aus eurer Mitte trete ich vor euch, um zusammenzubringen, was zusammengehört.« Einige Blicke wurden gewechselt. Schedmasal hatte die traditionellen Worte gesprochen, die ein neu entsandtes Mitglied der Versammlung sprach.
»Hat dieser seinen Götternamen erworben?«, fragten sie die rituellen Worte, welche hier erwartet wurden.
»Dieser hat seinen Götternamen vor zwanzig Segmentjahren zur Ehre des Volkes erworben«, antwortete Schedmasal. Mit gesenktem Kopf trat er in ihren Kreis, ging ohne sie zu beachten, zwischen ihnen hindurch bis zu der Fichte. Die mächtigen grünen Äste waren behangen von den Gaben vergangener Zeiten … Geflochtene und mit Knochenstücken oder Perlen verzierte Bänder klirrten im Wind, der vom Meer zu ihnen hinauf stieg. Zerbrochene Scherben am Stamm des Baumes zeugten von vergossenen Opfern für die Götter, und das Gras glänzte feucht.
Schedmasal hängte den Kranz aus Kastanien an einen kräftigen Ast. Das Braun verschwand fast zwischen dem dichten Grün der Zweige. Erste Fichtenzapfen drängten sich in einem blassen Rosa zwischen ihnen hindurch. Sie waren früh in diesem Jahr, der Frühling hatte für die heilige Fichte vorzeitig begonnen, als wolle der Baum selbst ein Mahnmal gegen das drohende Unheil setzen.
Leise sprach er ein Gebet, um die Götter um ihren Segen zu bitten, so wie sie auch die heilige Fichte erhalten hatte. Schaden konnte es nicht.
Erst dann drehte er sich zu der Versammlung um. Männer und Frauen musterten ihn.
»So trete zwischen uns, Schedmasal aus dem Stamm Nawellon, aus dem Geschlecht der Nawill und Sohn von Jekar, der den Namen Mihanet trug.« Enarod, einer der einflussreichsten Vertreter der Versammlung hatte die Stimme erhoben. »Und sei uns Willkommen.«
Er breitete die Hände aus und als ob sie seinem Zeichen gehorchten, setzten sich jene Vertreter, die zuvor aufgestanden waren, wieder zwischen den Blumen der Wiese hin.
Es gab keine Stühle oder Sitzgelegenheiten für die Versammelten. Der Tradition nach mussten sie auf dem Boden sitzen, unbewaffnet und wehrlos, um so die Wahrheiten und Weisheiten der Götter besser vernehmen zu können. Schedmasal blieb stehen.
Vorsichtig ließ er die Augen über die Mitglieder der Versammlung gleiten. Er hatte nicht vergessen, dass sie es gewesen waren, die nach ihm gesandt hatten.
Den Begriff der Volksversammlung hatte er schon immer als unglücklich gewählt betrachtet. Es kam nicht das Volk zusammen, sondern nur Vertreter der einzelnen Stämme. Jeder Stamm entsandte drei ständige Vertreter, zumeist waren diese einflussreiche Persönlichkeiten und in der ein oder anderen Form mit dem jeweiligen Fürsten verwandt. Theoretisch waren die einzelnen Stämme gleichberechtigt, doch faktisch entspannen sich Bündnisse um die Gesandten der größten und einflussreichsten Stämme. Damit wurde Politik für das ganze Volk letztendlich nur zu einem Hebel der Stammespolitik.
Ebenfalls war die Größe der Versammlung fluktuierend, da auch die Anzahl der existenten Stämme nicht konstant war. Somit verschoben sich die Machtverhältnisse innerhalb der Versammlung ständig, was es schwer machte, ein Königreich auf dieser Macht zu erbauen.
Dennoch musste Schedmasal es versuchen.
»Fürst Amram ist tot, sagst du?«
Der Unglauben auf den Gesichtern der drei Vertreter des Stammes Thramon zeigte, dass ihnen die Botschaft der jüngsten Niederlage bisher nicht zu Ohren gekommen war.
Auch der Rest der Volksversammlung schien zu Schedmasals Glück noch nicht davon gehört zu haben.
Entschlossen nickte er. »Es ist wahr. Die Usurpatorin bewegt sich nach Süden und traf bei Perek auf die Truppen des verehrten Amram, der heldenhaft kämpfte, doch der Masse der Angreifer nur wenig entgegensetzen konnte.« Das war eine großzügige Umschreibung der Tatsache, dass Amram ein Narr gewesen war, dessen Untergang der eigenen Dummheit verschuldet gewesen war.
»Gibt es weitere Neuigkeiten, wer Amrams Schwert aufgenommen und sich der Feindin entgegengestellt hat?«
Der Mann, welcher das Wort ergriffen hatte, trug den Namen Masahhed. Er war ein Vetter des sinnlos gefallenen jungen Stammesfürsten gewesen.
»Es gibt keine«, beantwortete Schedmasal die Frage, »weil wir es sind, die das Schwert und die Verteidigung unseres Volkes in die Hand nehmen müssen.«
Anklagend hob Masahhed die Hand. »Unseres Volkes? Sind es nicht Menschen unseres Volkes, die sich um die Banner der Usurpatorin scharren?« Er deutete auf keine bestimmte Person, denn jeder wusste, wen er meinte. Es gab einige Geheimnisse innerhalb der Volksversammlung, der Schedmasal gerne auf die Schliche gekommen wäre, doch die Schedela unterstützenden Fürsten zählten nicht dazu. Ihre Vertreter saßen unter jenen, die Schedmasals Anspruch unterstützten und neben denen, die sich für keine Seite entschieden hatten oder die Bündnisse rasch wechselten. Und eben aus diesem Grund gab es die Volksversammlung. Sie war der Ort, an dem Feinde sich gegenüberstehen und miteinander trinken konnten, ohne zu befürchten, getötet zu werden; an dem Bündnisse geschmiedet worden und Entscheidungen für das Wohl oder den Untergang des Landes getroffen wurden.
Und somit war Masahheds Anklage nicht mehr als die Inszenierung eines Protests und damit einer Positionierung für die Sache des Königs. Und das war gut, denn der Stamm Thramon war einer der wichtigsten Stämme im Norden.
»Jetzt ist es unsere Aufgabe, ihr vereint gegenüberzutreten, auf dass erneut Frieden und Wohlstand ein ständiger Gast an unseren Tischen sein können und wir uns jenen Herausforderungen zuwenden können, deren Lösung unser Volk braucht.«
Enarod schnaubte. »Die Lügen tropfen von deinen Lippen, Schedmasal. In dieser Hinsicht bist du ganz deines Vaters Sohn.«
»Wir sollten dem König Respekt entgegenbringen«, widersprach Masahhed. Auch das deutete darauf hin, dass er sich weiterhin der Seite des Königs anschloss. »Nicht er war es, der dieses leidigen Konflikt begann, sondern die Usurpatorin, die …«
»... bis heute nicht der Volksversammlung vorgeführt worden ist«, ergänzte Ritaschet, das älteste Mitglied der Stammesversammlung. Sie gehörte dem Stamm Castoman an, der mittlerweile eine Inselgruppe in der Mitte der Bucht Laris besiedelte. Zu früheren Zeiten war dieser einer der bedeutendsten Stämme ganz Callingers gewesen, entstammte doch der allererste König aus ihren Reihen. Mit dem Untergang seines Geschlechts hatte auch sein Stamm an Bedeutung verloren. Dessen ungeachtet war die Frau aufgrund ihrer Erfahrung eine der einflussreichsten Personen der Volksversammlung. »Und das sollte unser erklärtes Ziel bleiben. Schedela muss sich vor uns verantworten. Es sind die Götter, die ein Urteil über sie fällen werden.« Sie hielt kurz inne. »Wie über jeden von uns.«
Ritaschet hatte eben das ausgesprochen, was Schedmasal auch dachte. Vor der Volksversammlung würde Schedela verurteilt werden und vor Göttern und Menschen ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Eine Strafe wegen des Todes eines kleinen Jungen. Joresch war erst neun gewesen und seinem Vater so grausam entrissen worden - von niemand geringerem als der eigenen Tante, die sich so eines Rivalen auf den Thron hatte entledigen wollen. Sie war schon immer machtbewusst gewesen und bereits als Kind hatte sie versucht, ihre eigenen Meinungen um jeden Preis durchzusetzen. Bis heute wusste Schedmasal nicht, wo der Leichnam seines einzigen Sohnes war. Es hatte keine öffentliche Trauer und kein Grab gegeben. Nur stille Tränen in der Dunkelheit und das Klirren der Waffen und den Ruf zu den Fahnen am Tag. Schedmasal hoffte, dass seine Schwester ihm hier vor Göttern und Menschen das Versteck der Knochen seines Jungen verriet, damit er ihn endlich begraben konnte. Den Gedanken, dass Joresch aufgrund einer mangelnden Grabbeilegung nicht bei den Göttern aufgenommen werden konnte, ertrug er nicht.
»Und man sollte meinen, dass neun Segmentjahre an Zeit dafür ausreichen.« Enarod hatte sich nie gesetzt und somit waren er und Schedmasal die Einzigen, die standen. Sein Gegenüber war in demselben Alter wie der König und sie sahen sich sogar ähnlich mit dem schulterlangen rotbraunen Haar, den blassblauen Augen und der hochgeschossenen und etwas staksig wirkenden Statur. Vielleicht kam die Ähnlichkeit von der entfernten Verwandtschaft über eine Schwester von Schedmasals Urgroßvater, die auch zu Enarods Vorfahren gehörte.
Spöttisch musterte Schedmasal ihn. »Vielleicht meint unser so besorgter Enarod ja, dass es einfacher gewesen wäre, Mörder nach der Usurpatorin zu schicken, anstatt sie der Gerechtigkeit selbst zu unterziehen.« Irgendwo hinter ihm lachte jemand leise.
Enarods Gesicht verfinsterte sich. Der plötzliche Tod seines älteren Bruders, woraufhin Enarod dessen Platz in der Volksversammlung eingenommen hatte, war nicht vergessen.
»Soweit ich mich erinnere, ist es bei uns immer der Stärkste, der regiert. Ich bin sicherlich nicht der Einzige, der sich fragt, ob ein neun Segmentjahre andauernder Krieg ohne nennenswerte Ergebnisse ein Zeichen von Schwäche ist.«
Das Lachen verstummte schlagartig. Stattdessen nickte eine größere Anzahl der Personen, die direkt hinter Enarod saß, anerkennend. Schedmasal erkannte die Vertreter von mittelgroßen Stämmen aus Süd- und Mittelcallinger. Es schien, als ob sie den forschen Enarod als ihren Sprecher auserkoren hatten.
»Niemand hier folgt einem schwachen König.«
»Wie gut, dass wir keinen schwachen König haben.« Metsahhed war aufgestanden. Er hatte Mut, das musste man ihm lassen. Schedmasal hoffte nur, dass es nicht derselbe dumme Mut war, der seinen Vetter in den Abgrund gestürzt hatte.
»Welche Ehre hast du hinzugetan, Metsahhed?« Jemand, Schedmasal hatte nicht erkannt wer, hatte aus der Menge heraus gesprochen. Es war eine Frage, die den Protest des jungen Abgesandten im Keim erstickte. Metsahhed war erst seit einem halben Segmentjahr in der Volksversammlung, es gab wenig, was er hier für das Volk bereits erreicht hatte.
Ohne ein weiteres Wort setzte er sich. Wieder ertönte leises Gelächter.
Diese Blöße konnte Schedmasal sich nicht geben. »Ich frage mich«, meinte er, ohne etwas von seiner inneren Unruhe zu zeigen, »welche Ehre wir hinzugetan haben.«
Gemurmel erklang.
Der König hob die Stimme ein wenig. »Ja, ich habe eine Verpflichtung gegenüber meinem Volk, als ich den Thron meines Vaters bestieg, doch ebenso hat diese Versammlung eine Verpflichtung gegenüber denen eingenommen, die sie entsandten. Und wenn ich uns betrachte, frage ich mich tatsächlich, welche Ehre wir hinzugetan haben und ob mein Scheitern nicht vielmehr als unser Scheitern zu bezeichnen ist.«
So direkt hatte Schedmasal die Volksversammlung noch nie konfrontiert, doch er empfand, dass es nun an der Zeit dafür war. Die Drohung, ihm das Vertrauen zu entziehen, stand im Raum und wenn sein bisheriger Umgang mit der Versammlung das nicht verhindert hatte, brauchte es vielleicht eine Kursänderung. Es war riskant.
»Vielleicht hast du Recht. Vielleicht ist es unser Scheitern, weiter auf einen König zu hoffen, der sein Volk nicht kontrollieren kann.« Es ärgerte ihn, dass Enarod die Debatte so sehr führte. Wo waren die anderen einflussreichen Stimmen der Vergangenheit? Warum mischte sich niemand sonst ein? Oder stand die Mehrheit so sehr hinter dem Bruder eines Stammesfürsten?
Aber nein, das glaubte Schedmasal nicht. Hinter Enarod standen die Stämme Süd- und Mittelcallingers, diejenigen, die von Schedelas Invasion am Wenigsten betroffen waren. Es waren die nordcallingischen Stämme, deren Siedlungsgebiete von ihr überrannt wurden und die am ehesten ein Interesse an einem Sieg über sie haben durften. Warum also schwiegen sie?
»Nein.« Ritaschet erhob sich. Alter und harte Arbeit hatten sie gebeugt, doch noch immer war sie eine große und eindrucksvolle Frau. »Unser Zögern ist es, das den Verlust der Kontrolle erst möglich gemacht hat.« Die beiden anderen Vertreter des Stammes Castoman, links und rechts zu ihr sitzend, nickten zustimmend, bevor auch sie aufstanden. Es schien eine einheitliche Linie unter ihnen zu sein. Das war erstaunlich. Bisher hatte der Stamm Castoman sich aus dem Konflikt für und wider einer Unterstützung des Königs herausgehalten. Weder hatten sie Truppen für Schedmasal noch Schedela entsandt - soweit es ihm bekannt war.
»Bring den Jungen her.« Der jüngere Abgesandte des Stammes Castoman nickte und verließ die Versammlung, ohne zu zögern.
»Welche Zeugen bringst du jetzt wieder vor, Ritaschet?«, rief jemand.
Die Frau antwortete nicht. Stumm stand sie inmitten der Versammlung, den Blick auf den heiligen Baum des Volkes gerichtet.
Selbst Schedmasal wusste nicht, wie er diese Wandlung einordnen sollte. Was plante die alte Frau? Sie war die Schwester eines Stammesfürsten gewesen und die Tante des jetzigen, eine Machtpolitikerin durch und durch.
In diesem Moment kehrte der Abgesandte zurück. An seiner Seite lief ein Junge, vielleicht zehn oder elf Segmentjahre alt, der in den Händen eine erloschene Fackel hielt.
Schedmasal spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Dass eine Fackel erlosch, geschah immer wieder mal, doch ein gutes Zeichen war es nie.
Sobald der Junge sie erreichte, schob Ritaschet ihn vor sich.
»Du stehst vor der Volksversammlung, Junge. Sag deinen Namen.«
»Ich heiße Schalwa«, erklärte das Kind mit fester Stimme, »und bin aus dem Stamm Nithel.«
Die Vertreter des Stammes Nithel gaben erstaunte Laune von sich. Erkennbar wussten sie nichts davon. Der Stamm Nithel war ein unbedeutender Gebirgsstamm Mittelcallingers und hatten sich Enarods Position angeschlossen.
Eben dieser ergriff nun wieder das Wort.
»Hat dieser seinen Götternamen erworben?«, fragte er.
Es war eine sinnlose Frage. Schalwa war ein Kind. Seinen Götternamen würde er frühestens in fünf Segmentjahren erwerben können.
»Dieser wurde seines Götternamens für würdig erklärt«, antwortete das Kind nach einer kurzen Pause. Es war eine gute Antwort, sodass Schedmasal sich fragte, ob Ritaschet sie im beigebracht hatte. Nichtsdestotrotz - es änderte nichts daran, dass er nicht berechtigt war, hier zu sprechen. Er hätte noch nicht einmal vor die Versammlung treten sollen.
»Du wurdest geschickt, die Fackel deines Dorfes neu zu entzünden?« Es war Brauch, die erloschenen Fackeln des Winterfeuers in Meschvaj erneut entflammen zu lassen. Nicht direkt hier, sondern in der Nähe an der Quelle des Fedlas, die etwas unterhalb von ihnen aus dem Fels hervortrat.
Auf Schedmasals Frage nickte er.
»Dann erfülle deine Aufgabe, Schalwa, und kehre zurück in dein Dorf.« Die Aussage kam ausgerechnet von einem der Vertreter von Schalwas eigenem Stamm.
»Aber ich soll noch eine Botschaft meiner Panti überbringen«, widersprach der Junge. Der König hob über den Mut des Kindes eine Braue. Nicht viele würden es wagen, am heiligsten Ort des Volkes den heiligen Vertretern zu widersprechen.
»Wie ist der Name deiner Panti, Schalwa?«, wollte ein Vertreter des Stammes Nithel - er hieß Perrod, wenn Schedmasal sich richtig erinnerte - wissen.
»Sinamet.«
Schedmasal zuckte zusammen. Lange war es her, dass man diesen Namen in seiner Gegenwart zuletzt ausgesprochen hatte. Mit Joresch‘ Tod hatte er auch diese Frau aus seinen Erinnerungen verbannt. Sie trug eine Mitschuld an seinem Unglück. Doch war sie eine Panti, eine Dienerin der Götter, weshalb er sie für das Geschehene nie hatte zur Rechenschaft ziehen können. Richtig, jetzt erinnerte er sich daran, wie ihm berichtet worden war, dass sie nun im Stamm Nithel diente.
Müde rieb er sich die Stirn. »Ich plädiere dafür, den Jungen sprechen zu lassen«, verkündete er. Sinamet war nur eine Dorfpanti. Wenn sie einen Boten entsandte, musste es einen gewichtigen Grund dafür geben. Und was könnte wichtiger sein als der Kampf gegen seine Schwester? »Er hat sich nichts zu Schulden kommen lassen und niemand kann bestreiten, welche Ehre er durch seine Reise bis zu uns seinem Stamm hinzugetan hat.«
Nach einigen Debatten schloss die Versammlung sich seiner Position an.
»Also gut, Schalwa«, begann Schedmasal, »erzähle uns die Worte deiner Panti.«
Der Junge entgegnete seinen Blick sicher und zeigte dabei keinerlei Scheu. Er nickte.
»Ihre Worte waren: Sag ihnen, dass der Mond sich rot färben wird, er weiße Tränen weinen wird und sie ihre Heimat finden werden.«
Stille. Sie war beängstigender als jedes Geschrei. Beunruhigte Blicke wurden gewechselt. Dann setzte ein leises Wispern ein. Angst. Sorge. Es waren nur Worte, doch hinter ihnen stand eine Botschaft, die deutlicher nicht sein könnte. Denn Geschichten, in den dunkelsten Nächten des Jahres am Lagerfeuer erzählt, schienen Wirklichkeit zu werden.
»Wir haben es immer befürchtet«, rief jemand aus der Masse.
»Es ist nicht der erste Hinweis auf eine Dunkelheit, die über uns kommt«, bedachte eine Vertreterin von Schedmasals eigenem Stamm. »Es gab Träume, Vorzeichen.«
»Wir müssen das prüfen«, forderte Enarod in einem Versuch, die Kontrolle zurückzuerlangen, doch selbst er konnte dieser Aussage nichts entgegensetzen.
Immer mehr Mitglieder der Stammesversammlung berichteten ungeachtet der jeweiligen Bündnisse von Erlebnissen und Geschehnissen, die auf jenes Dunkle hinwiesen, welchem ein Junge namens Schalwa erstmalig einen Namen gegeben hatte. Die gebildeten Parteien und Interessensblöcke zerfielen angesichts einer gemeinsamen Angst, die jeden einzelnen von ihnen betraf. Und inmitten dieses Scherbenmeers stand Schedmasal und wusste, dass er die Einzelnen als Ganzes zusammenfügen und in eine gemeinsame Richtung lenken musste..
Aus den Augenwinkeln nahm Schedmasal Ritaschets triumphierenden Blick wahr. Sinamet entstammte dem Stamm Castoman. Vielleicht war es diese Verbindung, weshalb Ritaschet den Jungen vor die Versammlung gebracht hatte?
Sie ergriff das Wort. Die laute Stimme übertönte selbst der lautstarke Meinungsaustauch, der soeben ausgebrochen war. »Der Stamm Castoman stellt sich hinter Schedmasal und bestätigt dessen Anspruch vor Göttern und Menschen«, verkündete sie, »eine schwere Zeit steht uns bevor, denn es ist unsere Vergangenheit selbst, die sich gegen uns erhebt. In einer solchen Zeit dürfen wir unser Volk nicht durch einen Thronwechsel in Chaos stürzen. Wir brauchen Einheit.«
Es ertönte kein Widerspruch inmitten der Menge, die so plötzlich im Schweigen versunken war, wie sie damit begonnen hatte. Nun, daran zweifelte Schedmasal nicht, würden sie ihm ihre Truppen zur Verfügung stellen. Mit einem einzigen Streich hatte Ritaschet die Einheit der Volksversammlung und damit die bröckelnde Macht des Königs wiederhergestellt. Er fragte sich, was sie dafür im Gegenzug verlangte.
Der Mond färbt sich rot.
Er weint weiße Tränen.
Und sie finden ihre Heimat.
Schedmasal hatte immer geglaubt, dass er jenes Chaos, welches die Panti bei seiner vorläufigen Aufnahme in den Stamm für die Zeit seiner Regentschaft vorausgesagt hatten, den Konflikt mit seiner Schwester umfasste.
Nun war er sich dessen nicht mehr sicher.
Und das ängstigte ihn.
Er blickte zu der heiligen Fichte und flehte die Götter an, dass sie seinem Volk einen Frühling voller Leben schenkten und keinen erneuten Winter des Krieges und des Leides.
Aber die Götter waren grausam und unzuverlässig, niemand wusste, welches Spiel sie spielten.
Und irgendwo warfen sie eine Münze.
Zwischen Winter und Frühling.
Zwischen Tod und Leben.