Fingerübung, Stichwort: «Wundertüte»
Ein kurzer Ausschnitt aus dem entstehenden Manuskript der Jugendbuchreihe «Das Kuratorium des Verfalls» (Buch 1:Kapitel 15, -Nicht ohne Holzpflock und zwei Müsliriegel-)
Finn griff bereits nach dem Riegel, da schlug schon der zweite Stein gegen das runde Giebelfenster.
«Pscht!» Erbost zischend schob er seinen Kopf in die Nachtluft. Ein weiterer Kiesel traf das Dach links von ihm.
«Hey!», rief er Chris und Mick leise zu, die unter ihm in der Seitengasse bereits nach weiteren Steinchen suchten. Zwei Köpfe fuhren hoch.
«Finn, na endlich! Hast du die Zeit vergessen?», rief Chris vorwurfsvoll.
«Pack deine Sachen und komm endlich runter. Kneifen gilt nicht!», ergänzte Mick.
«Wartet kurz», flüsterte Finn, «und seid leise. Wenn ihr meine Eltern weckt, komme ich hier nicht raus.»
Kurz darauf öffnete sich das vergitterte Seitenfenster im Erdgeschoss des Krämerladens.
«Willst du dich jetzt durch die Stäbe quetschen wie ein Gummimensch?», witzelte Mick, als in der dunklen Fensteröffnung ein bebrilltes Gesicht erschien. Er lachte als einziger über seinen eigenen Scherz.
«Nicht ganz. Aber noch kann ich uns Sachen aus dem Laden besorgen. Also, was habt ihr dabei? Oder eher, was habt ihr vergessen einzupacken?»
«Kannst mir zwei Müsliriegel holen?», wollte Mick prompt wissen.
«Spinnst du?», zischte Chris, «du kannst doch jetzt nicht ernsthaft an Essen denken.»
Mick boxte nach Chris Schulter, schlug aber diesmal daneben. Er klang zerknirscht, als er flüsterte: «Ich hab heute Abend nichts bekommen.»
«Ok, dann gib mir das Geld dafür. Ich leg´s in die Kasse», sagte Finn.
«Ernsthaft, jetzt?», Mick sah seinen Freund entgeistert an.
«Klar. Oder denkst du, ich bestehle meine Eltern?», erwiderte dieser scharf.
Mick grub in seinen Taschen, holte die geforderten Münzen hervor.
«Sonst noch was?», wollte Finn wissen.
Chris gähnte, als er seinen Rucksack absetzte. «Also ich hab meine Taschenlampe dabei, eine große Flasche Cola, Bens altes Klappmesser und zwei Päckchen Streichhölzer.» Dann zuckte seine Hand zurück. «Auh! Und unten im Rucksack ist noch meine Angelschnur mit ein paar Haken.»
Beide blickten Mick an, der glücklich auf seinem Riegel kaute.
«Ach jo, Moment. Lasst mich doch mal aufessen», maulte er und sah dann zu Finn: «Habt ihr eigentlich noch diese Wundertüten? Ich meine die Großen, die mit den Actionfiguren und dem Rätselheft?»
Finn blickte verzweifelt zu Chris und beide schüttelten nur die Köpfe.
Doch Mick blieb hartnäckig: «Habt ihr, oder nicht?»
«Was hast du denn jetzt im Rucksack?», wollte Chris wissen.
Mick zerknüllte die leere Verpackung des Riegels und öffnete seine Tasche. «Also, ich hab natürlich auch ne Taschenlampe dabei. Außerdem meine Steinschleuder, einen Holzpflock und einen Taschenspiegel. Das ist beides wichtig, wenn wir es mit Vampiren zu tun bekommen.» Er blickte vielsagend hoch. «Dann noch eins von Omas Wollknäul. Nur zur Sicherheit, wenn wir in einen Irrgarten geraten, so wie der Geisterjäger Wyard im Labyrinth des...»
«Mick!», zischten seine Freunde genervt.
«Is ja gut ihr Banausen! Aber ich hab auch noch an Pflaster gedacht». Er zog einen zerknüllten Klumpen undefinierbaren Etwas hervor und zeigte ihn seinen Freunden stolz. «Gegen Werwölfe hab ich außerdem meine Silberkette umgehängt und natürlich ist das Taschenmesser immer dabei.»
Mick öffnete ein Seitenfach und schob den zweiten Müsliriegel hinein. «Hier ist auch noch Knete drin», verkündete er dann verblüfft, «und eine alte Dose Deo.»
Chris schüttelte nur wieder den Kopf.
«Knoblauch!», flüsterte Mick plötzlich aufgeregt, «hat jemand von euch an Knoblauch gedacht?»
Doch die anderen ignorierten seine Worte.
«Ich denke, damit sind wir soweit ausgerüstet. Den ganzen Rest habe ich nämlich eingepackt», sagte Finn. «Jetzt müsst ihr mir nur noch helfen, hier raus zu kommen.»
Chris blickte seinen Freund fragend durch die Gitter an. Mick dagegen rüttelte an den Stäben: «Keine Chance, ich bin nicht Hulk.»
«Mein Vater hat vorne ein neues Schloss an der Tür», erklärte Finn, «ich komm da nicht raus.»
«Und jetzt?», wollte Chris wissen.
«Ihr müsst die Leiter aus dem Schuppen holen. Ich klettere oben aus meinem Zimmer.»
Damit schloss Finn das Fenster und verschwand im Dunkel des Ladens.
Chris und Mick hatten die riesige Leiter kaum angelegt, da erschein Finns Kopf am kleinen Giebelfenster, zwei Stockwerke weiter oben.
«Könnt ihr die Tasche fangen?», fragte er. Bevor ihm jemand antworten konnten, kam ein dunkler Schatten auf die zwei Jungen zugerast. Mick schaffte es gerade noch rechtzeitig, zurückzuspringen und die Hände auszustrecken, bevor die Tasche auf dem Boden aufschlug.
«Uff!», grunzte er, «warum nimmst du Steine mit?», und stellte die Sporttasche keuchend zur Seite.
Doch Finn war damit beschäftigt, sich mit einem riesigen Trecking-Rucksack beladen rückwärts aus dem Fenster zu winden. Chris sprang vor und hielt die wackelnde Leiter, als Finn langsam mit dem Abstieg begann.
Der schmächtige Junge hatte die Hälfte der Strecke abwärts geschafft, da zerriss ein grässlicher, langgezogener Schrei die Nacht. Chris zuckte zusammen. Er ließ die Leiter vor Schreck los, die wild zu wackeln begann.
«Hey!», rief Finn hinunter, «Festhalten!»
Chris trat wieder vor und bewahrte seinen Freund vor dem Absturz.
«Das war nur eine Tytonidae», flüsterte Finn keuchend, «eine Schleiereule. Die gibt es hier überall.»
Chris schüttelte sich. «Klang verdammt gruselig.»
Finn rückte seinen riesigen Rucksack zurecht. «Ich hab hier noch ein paar wichtige Sachen eingepackt. Draht, Funkgeräte, einen Erste-Hilfe-Kasten, reißfeste Kordel und ein paar weitere Kleinigkeiten.»
«Und ein ziemlich langes Kletterseil», ergänzte Mick aus dem Hintergrund.
«Ja, das auch.» Finn blickte in die Runde. «Außer dem Seil sind noch zwei große Packungen Ersatzbatterien in der Sporttasche. Oder habt ihr daran gedacht?»
Die anderen verneinten.
«Seht ihr. Und dafür darf Mick jetzt die Tasche tragen. Er ist schließlich der Stärkste von uns.»
Ohne Widerrede oder nervige Bemerkung griff sich Mick die Tasche und schwang sie über seine Schulter. Chris und Finn räumten die Leiter wieder in den Schuppen.
«Können wir los?», wollte Mick anschließend von ihnen wissen. Alle drei blickten sich erwartungsvoll an. Die Aufregung leuchtete in ihren Augen.
«Auf geht´s», sagte Chris und ging los. Die anderen folgten ihm langsam die dunkle Straße entlang.