CN: INSEKTEN, FREIER FALL, BEINAHES ERTRINKEN
☣Last Kids Standing☣: Kapitel 10
Kopfüber, mit lautem Sturmrauschen in den Ohren und brennenden Schmerzen im Rücken kam Shaun wieder zu sich. Er stürzte senkrecht auf den Wald zu. Panisch riss er die Augen auf, begann mit Armen und Beinen zu rudern. Seine Leinentasche rutsche ihm von der Schulter und versperrte die Sicht. Purzel unter seinem Shirt pfiff schrill. Als er die Tasche zur Seite schob, konnte er bereits die einzelnen Blätter unter sich erkennen. Jeden Augenblick würde er in die Baumkronen krachen.
Das Brummen von Flügeln direkt über ihm wurde lauter, als die Libelle mit dem Schwung eines Zuges in voller Fahrt die Notbremse zog. Ihr Griff in seinem Fleisch verstärkte sich noch. Shaun warf gequält den Kopf in den Nacken und schrie seinem Peiniger den Schmerz entgegen. Der unkontrollierte Absturz ging in einen rasenden Sinkflug über. In höllischem Tempo glitten sie dicht über die Wipfel dahin. Purzel zirpte durchdringend und krallte sich mit allen sieben Füßen ängstlich in seinen Bauch. Zusammen mit dem Schmerz im Rücken fühlte es sich an, als wäre in mehrere Lagen Stacheldraht gewickelt worden. Shaun hob erneut den Kopf, spuckte dem geflügelten Räuber über sich Beleidigungen und Verwünschungen entgegen. Der beißende Wind riss ihm die Worte von den Lippen. Vermutlich besaß dieses Monster nicht einmal Ohren, denn es reagierte in keinster Weise. Die Flügel schlugen weiter in irrem Tempo, der schlanke Leib bog sich im Wind und die Tracheen des Insekts pumpten Sauerstoff in den riesigen Körper. Wie eine Flagge schlug Shaun die Leinentasche immer wieder gegen den Bauch. Die kleine Spinnmilbe unter seinem Shirt stöhnte dumpf bei jedem Aufprall. Ihm kam eine verzweifelte Idee.
Nach einigen Anläufe gelang es, eine von Moonis Brechnusskugeln aus der Tasche zu fischen. Zwar besaß er keine Schleuder, doch er erinnerte sich lebhaft an die Reaktion der Hummel, als Mooni sie mit dieser Munition getroffen hatte.
Gequält drehte er sich im eisenharten Griff des Insekts, hob den Arm und schob die kleine Kugel tief in dessen pumpende Tracheen. Das Tier klapperte zornig mit seinen Beißwerkzeugen, drehte zum ersten Mal den Kopf zu ihm und schnappte drohend nach seinem Arm. Der eiserne Griff in seinem Rücken verstärkte sich weiter, schien ihm die Rippen brechen zu wollen.
Verdammter Mist, dachte Shaun, das war total irre. Er hatte den Arm gerade noch rechtzeitig zurückziehen können. Dann allerdings spitzte er die Ohren. Der Brummton des Flügelschlags wurde unregelmäßig, begann zu stottern. Das Flugtempo verringerte sich. Ihr rasender Flug verwandelte sich in ein Trudeln.
»Jetzt stirbst du mit mir!«, schrie Shaun. Zornig reckte er dem Tier die Hand entgegen.
»Du dämlicher Idiot!«, erscholl die Antwort, »Was hast du getan?«
In diesem Augenblick lichteten sich die Baumkronen und sie wirbelten über einen See. Der Flügelschlag der Libelle setzte aus. Ihr Griff lockerte sich, gab Shaun frei. Sich wild überschlagend stürzte er ab, platschte aufspritzend in die tödliche Säure aus gesammeltem Regenwasser.
Panisch riss er die Augen auf. Vor ihm trudelten einige Luftblasen dem Licht entgegen.
Der Aufprall auf der Wasseroberfläche hatte ihm jegliche Luft aus den Lungen gepresst. Aber er lebte – noch. Anders als der Regen brannte dieses Wasser nicht auf der Haut, verätzte ihm nicht die Augen. Egal, wundern konnte er sich später. Er spürte, wie Purzel unter seiner Kleidung an ihm in die Höhe kroch.
Mit verzweifelten Schwimmbewegungen kämpfte sich Shaun langsam zurück zur Oberfläche. Seine Lungen brannten, zogen sich spasmisch zusammen, sein ganzer Körper drängte nach Atemluft. Krampfhaft presste er die Lippen aufeinander. Wenn er jetzt Wasser schluckte, wäre er verloren.
Mit letzter Kraft durchbrach Shaun die Wasseroberfläche und sog die kühle, frische Luft tief ein. Zwei, drei Atemzüge später verschwanden die bunten Farben aus seiner Sicht. Purzel kletterte über seinen Hals auf seinen Kopf. Das Tierchen schüttelte sich und gab ein blubberndes Schnarren von sich. Auch sie hatte den Absturz überlebt. Was man jedoch nicht über ihren Entführer sagen konnte. Shaun blickte mit Genugtuung über das Wasser. Einige Dutzend Meter vor ihm trieb der leblose Körper der mörderischen Libelle. Der dunkelhaarige Mann, der sich daran klammerte, funkelte Shaun über die Entfernung zornig an.
Purzel pfiff warnend, dann berührte etwas von hinten seine Schulter. Panisch fuhr er herum, erwartete ein weiteres Insekt, das es auf ihn abgesehen hatte. Doch es war lediglich eine lange Stange, die wiederholt gegen ihn stieß. Eine lange Stange mit einem Haken daran. Ein Haken, an dem er sich festhalten konnte. Und am anderen Ende der Stange waren ... Menschen. Dankbar griff er zu. Dort befand sich wahrhaftig ein kleines Boot. Und diese Menschen zogen ihn aus dem Wasser. Nach zwei kräftigen Rucken befand er sich bereits an der Bordwand. Starke Arme hievten ihn in das Boot.
Erschöpft ließ er sich zurückfallen, spuckte entsetzlich salziges Wasser aus. Ein Gesicht schob sich über ihn, beäugte ihn kritisch. Ein bekanntes Gesicht.
Es öffnete den Mund, grinste keck und meinte: »Alte Scheiße! Ich hab schon gedacht, du wolltest dir Kiemen wachsen lassen! Ab sofort nenn ich dich besser Ruderndes Libellenfutter. Und jetzt spuck augenblicklich den restlichen Sennesee aus, sonst gibts Dünnpfiff, alte Naschkatze. Das Wasser ist nämlich giftig.«
»Mrrrnrrr?«, blubberte er salzig hervor und starrte sie verblüfft an. Ihre langen, blonde Haare, die geschwungenen, mandelförmigen Augen. Eine Hand strich ihm zärtlich über die Stirn, dann beugte sich Mooni vor und hauchte ihm einen Kuss auf die nasse Wange. Sie zuckte zurück, als Purzel sie in den Arm zwickte. Dann glitt ihre Hand auch über den feuchten, roten Pelz der Spinnmilbe. Das Tierchen schnurrte zufrieden.
Entgeistert starrte Shaun in ihr Antlitz. Er verstand nicht. Was machte sie hier? Hatte er sie nicht aus dem Spinnennest retten wollen? Wie kam sie mitten auf einem See in ein Boot?
Mooni wich ein Stück zurück, blickte die umstehenden Leute an und lachte dann dröhnend. Shaun konnte nicht anders, er fiel in ihr Lachen ein.
Nachdem sie auch den zweiten Abgestürzten aus dem Salzsee gefischt hatten – sein Name lautete Johann, er war der Libellenreiter gewesen, der Shaun aus der Todesgefahr am Spinnennest geettet hatte – ruderten sie weiter auf den See hinaus. Shaun staunte, als er die Häuser sah, die hier auf riesigen Seerosenblättern schwammen. Es schien sich um eine richtige, kleine Stadt zu handeln, die sich mitten auf dem Wasser befand.
Das Boot legte an einem Kai an. Mooni half dem erschöpften Shaun von Bord und führte ihn wortlos über eine Brücke auf ein weiteres, schwimmendes Blatt und dort weiter in ein kleines Blätterhaus. Purzel ritt dabei die ganze Zeit auf seiner Schulter und beäugte die Umgebung neugierig.
Vorsichtig half Mooni ihm aus der nassen Kleidung, trocknete ihn ab und hüllte ihn eine Decke. Noch immer sprach sie kein Wort.
»Was ist denn?«, brach er schließlich das Schweigen. »Sag endlich was!«
Sie verharrte, blickte ihn entgeistert an und begann zu weinen.
Verblüfft humpelte Shaun zu ihr, schloss sie in die Arme.
»Was hast du? Alles ist gut. Wir sind doch jetzt wieder zusammen. Der Rest ist nebensächlich.«
Da sie noch immer nichts sagte, streichelte er über ihren Rücken und flüsterte ihr ins Ohr: »Und ich habe erst gedacht, du wärst tot. Bis Erika mir gesagt hat ...«
»Ach halt doch endlich den Mund, Holzkopf«, schluchzte sie laut auf.
Ihre Arme umklammerten ihn fest wie Schraubzwingen. Er stöhnte auf, da sie auch die wunden Stellen auf seinem Rücken drückte. Doch was bedeutete schon dieser kleine Schmerz im Vergleich zu der Erleichterung, sie lebendig vor sich zu wissen.
Wortlos standen die beiden dort, wiegten sich weinend und lachend und küssend in den Armen. Sie waren wieder vereint. Auch wenn Shaun keine Ahnung hatte, wie so etwas möglich war.