☣Last Kids Standing☣: Kapitel 11
Ein Geräusch riss ihn aus seinem grässlichen Traum. Er war gefallen, endlos gefallen – mit Sturmrauschen in den Ohren dem nahenden Tod entgegengestürzt, der ihn unweigerlich am Grund erwarten würde.
Leicht benommen sah Shaun sich um. Dies war nicht der finstere Schutzraum hinter der Stahltür des Getränkemarktes in Bielefeld. Er erkannte durch eine Ritze in der Blätterwand sogar den blauen Himmel. Blau, nicht grün! Es konnte also auch nicht das Häuschen sein, in dem er und Mooni in der Siedlung …
»Hey Bruder, alles frisch? Du hast die Nacht ja mal wieder sowas von fett geschnarcht. Und diesmal sogar ohne einen Tropfen Bier intus. Das muss sich drastisch ändern, sonst penn ich demnächst bei Keith!«
Sein Herz stolperte, er blickte erwartungsfroh zur offenen Tür.
Dort stand sie.
Gegen das grelle Licht erkannte er nur ihren bloßen Schattenriss, doch schon die wehende, blonde Mähne verriet ihm, wen er vor sich hatte.
Mooni trat ein, schloss die Tür schwungvoll mit einem Fuß und trug einen Arm voll Leinenverbände sowie einen verschlossenen Tontiegel zum Tisch in der Ecke. Ihre Augenbraue hob sich, als sie den Liegenden ausgiebig musterte.
»Was is denn?«, begehrte Shaun von ihr wissen.
Er fühlte sich unbehaglich, wenn sie ihn schweigend musterte.
Ein schalkhaftes Funkeln trat in ihre Augen. »Decke runter und rumdrehen! Brauchst auch nicht Husten. Frau Doktor schaut sich nur mal deinen Rücken an.«
Shaun überkam ein Déjà-vu. Es war jetzt knapp eine Woche her, da hatte sie ihm das erste Mal seine Wunden behandelt, in der Siedlung in Gütersloh. Ein paar harmlose Schnittwunden. Nichts, im Vergleich zu den Löchern, die diesmal seinen Rücken zierten. Damals in der Siedlung, als er gedacht hatte, sie beide seien dort in Sicherheit und unter Freun...
»Aua!«
»Stell dich nicht so an wie ein Mädchen.« Sie hatte den eingetrockneten Verband mit einem kräftigen Ruck entfernt.
Nun begann sie, die Wunde mit einem feuchten Lappen zu säubern. »Erzähl mir lieber, wie du auf die total beknackte Idee gekommen bist, allein hoch ins Spinnennest zu klettern.«
Shaun schluckte. Eigentlich hatte er sich ausgemalt, sie als strahlender Held zu retten. Jetzt saß er jedoch hier und sollte sich auch noch für sein Handeln verteidigen. Das Leben war nicht fair. Definitiv.
Er entschied sich für die schlichte Wahrheit: »Ist doch logisch: Ich wollte dich retten.«
Mooni hinter ihm gluckste belustigt: »Na, das ist dir doch fast gelungen. Ich bin jetzt hier und mir geht es übrigens gut, Holzkopf – danke der Nachfrage. Du allerdings musst mehr als nur einen hoffnungslos überforderten Schutzengel haben. Johann sagt, du hast den ganzen Spinnenturm zum Wanken gebracht. Neben dem hirnrissigen Kunststück, sein Flugtier mit Strychnin umzubringen, während ihr gerade ziemlich weit oben in der Luft unterwegs wart.«
Sie strich ihm eine kühlende Paste auf die schmerzenden Stellen. Das Brennen zwischen den Schulterblättern ließ langsam nach.
»Ist doch alles gut gegangen«, stieß er eine lahme Verteidigung hervor. »Erika hatte gesagt, die Spinnen würden ihre Opfer lebendig ins Nest schlepp...«
»Ja ja, ich weiß«, unterbrach sie. »Und übrigens, sie hatte damit recht - irgendwie.«
Er vernahm ein Zittern in ihrer Stimme. Ihm wurde klar, was sie durchgemacht haben musste. Eingewickelt und verschnürt in einen dieser Kokons von Spinnen durch den Urwald verschleppt zu werden, war bestimmt nicht angenehm gewesen. Vielleicht war sie vorher sogar mit einem giftigen Biss gelähmt worden? Hatte sie sich allein befreien können? Er bezweifelte es.
»Aber wie bist du entkommen?«, wollte er wissen.
Sie schwieg, klatsche ihm eine Ladung der stinkenden Paste auf den Rücken. Mit energischen Spachtelstrichen verteilte sie diese über die Wunden. Es brannte wie Feuer.
Warum stellte sie sich jetzt so an? Seine Frage war doch berechtigt. Immerhin hatte er versucht, sie zu retten!
»Haben dich diese Leute hier gerettet?«, fragte er erneut.
»Joh!«, stieß sie rau hervor. »Und nicht nur mich, auch einige andere. Inzwischen ist mir jedoch noch mehr klar geworden.«
Sie griff nach einem Tuch und legte es über die Wunden, bevor sie begann, den Verband um seine Brust zu wickeln.
»Hey«, maulte er, »nicht so fest. Ich bekomm ja kaum noch Luft.«
»Entschuldige, das wollte ich nicht.«
Sie strich ihm mit dem Finger von hinten durchs Haar. »Ich freue mich total, dass du jetzt da bist. Ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet, dich noch einmal lebendig wiederzusehen. Knapp die Hälfte der Leute, die Johann und seine Libellenreiter den Spinnen abjagen, sind bereits tot. Horst war einer davon, musst du wissen.«
Leise fügte sie hinzu: »Und Walter Maschinski ist ein absoluter Idiot. Man müsste die Leute dort in der Siedlung warnen. Noch besser: Evakuieren.«
Ein unangenehmes Schweigen erfüllte die Hütte, als sie den Verband weiter um seine Brust wickelte. Sobald die fertig und alles fest verknotet war, sprang sie auf und warf ihm sein – wieder mal – gewaschenes und erneut geflicktes Shirt an den Kopf.
»Kommst du jetzt, oder was?«
»Nur, wenn du mich nicht mehr ‚Bruder‘ nennst. Du hast mir diesen neuen Namen doch erst verpasst. Also nenn mich doch auch so. Ich komm mir sonst irgendwie komisch vor, wenn wir uns küssen.«
Sie bedachte ihn mit einem schrägen Seitenblick, schwieg aber gnädigerweise. Er zog sich an, schlüpfte in bereitgestellte Lederschuhe. Kaum stand er, griff sie nach seiner Hand und führte ihn aus der Hütte.