☣Last Kids Standing☣: Kapitel 22
Hinter dem alten Schafstall, genau an der Grenze zur Heide, hatte jemand eine längliche Grube ausgehoben. Eine Stahlplatte, die zur Abdeckung gedacht zu sein schien, war beiseitegeschoben worden. Drei große Steine daneben dienten wahrscheinlich als zusätzliche Beschwerung. Über dem grabähnlichen Loch stand Johann und hielt etwas mit beiden Händen. Der große, lederne Gegenstand sah in Shauns Augen verdächtig nach einem Sattel aus.
"Der ... fummelt noch immer ... an mir rum", drang Diamond Claws Klage schwach in seine Gedanken.
"Keine Sorge", teilte er ihr grimmig mit, "das hört gleich auf."
Hinter Shaun bogen Mooni und ihr gewaltiger Tausendfüßler um die Ecke. Johanns Kopf zuckte hoch. Der fiese Ausdruck in seinem Gesicht verwandelte sich schlagartig in Entsetzen, als er die drei Neuankömmlinge erkannte. Er ließ den Sattel ins Loch fallen, wandte sich um und verschwand fluchend um die Ecke.
"Scheint so, als wollte er jetzt doch keinen Kuss mehr von mir haben", sagte Mooni.
"Ich hätte ihm höchstens einen Pferdekuss verpasst", knurrte Shaun.
Er trat vor, blickte in das Loch und erschrak. Verschnürt wie ein Paket lag seine Libelle darin. Selbst die Beine des eleganten und stolzen Tieres waren mit Stahlseilen umwickelt worden. Auch die Wände der Grube hatte man zusätzlich mit Stahlplatten verkleidet. Ein massives Gefängnis, das nur dazu gedacht war, Diamond Claw einzusperren.
"Wir müssen sie da sofort rausholen", keuchte Shaun.
"Dann hilf mir mal hiermit", Mooni war bereits in die Hocke gegangen und zerrte an einem Stahltau, das aus der Grube ragte.
Er trat neben sie und griff zu. Gemeinsam gelang es ihnen, das Ende so weit herauszuziehen, dass Keith es mit zwei Beinen greifen konnte. Sofort begann der riesige Tausendfüßler mit seiner Arbeit. Langsam hob sich das verschnürte Bündel aus dem Loch.
Shauns Herz schmerzte bei dem Anblick, zumal er gerade keinerlei mentale Signale von ihr empfang. Irgendetwas stimmte da überhaupt nicht.
"Sei bloß vorsichtig", ermahnte er Keith.
Dieser stemmte seine Beine fest in die Erde und schritt langsam rückwärts.
Sobald Diamond Claw auf dem lehmigen Boden lag, stürzte Shaun zu ihr. Mit fliegenden Händen begann er, an den Seilen und Tauen zu nesteln. Diamond Claw regte sich noch immer nicht. War sie etwa tot? Nein, er konnte sie Atmen sehen. Keith sah ihm kurz zu, dann verschwand das imposante Tier raschelnd zwischen den angrenzenden Pflanzen. Mooni gesellte sich zu Shaun und half ihm, die Libelle zu befreien.
Kaum waren die letzten Fesseln gelöst, als Mooni keuchend herumfuhr.
Drei riesige Spinnen bogen um die Schuppenecke. Shaun erstarrte und sein Magen ballte sich zusammen. Schon wieder diese mörderischen Krabbelviecher. Dann erkannte er jedoch einen Unterschied zu den menschenfangenden Monstern aus dem Safaripark. Diese Exemplare hier waren lediglich langbeinige Weberknechte. Jene harmlosen Tierchen, die früher sogar daheim in ihrer Speisekammer gelebt hatten, da sein Vater das Fensterchen darin nie geschlossen hatte.
Diese Weberknechte hier waren jedoch ein ganz klein wenig größer als die immer etwas ungelenk und zittrig wirkenden Tierchen damals. Groß genug jedenfalls, um drei Räubern gesattelt und gezäumt als Reittiere zu dienen.
"Naaa, was wird das denn?", verlangte der Anführer Ronny zu erfahren.
Er schob sich den Hut in den Nacken und zog an seiner Zigarre. Lässig stützte er sich mit einer Hand auf das Lasso an seinem Sattel. Wenn es nicht so verdammt ernst gewesen wäre, Shaun hätte bei diesem Anblick laut aufgelacht. Der Kerl musste vor der Katastrophe eindeutig zu viele Western gesehen haben. Vermutlich besaß er auch ein Bücherregal mit Originalausgaben sämtlicher Karl May Romane. Mit stechenden Augen fixierte er die Kinder.
"Ich glaube, diese unartigen Kiddis wollen abhauen", bemerkte der kleine Glatzkopf neben ihm. Axel, wie sich Shaun erinnerte.
"Und sie klauen meine Libelle", maulte jemand hinter den drei Reitern - Johann.
"Deine Libelle?", empörte sich Shaun. "Ist Diamond Claw jetzt schon DEINE Libelle?"
"Hey hey! Jungs, macht mal halblang! Das muss so nicht enden", rief Mooni. "Ihr könnt uns jetzt einfach unsere Sachen wiedergeben und euch dann gepflegt verpissen."
Der bärtige Ingo zog eine Pistole unter dem schmuddeligen Hemd hervor. "Was hat das kleine Miststück gerade gesagt?"
Ronny warf seinem Kumpel einen missbilligenden Seitenblick zu und schüttelte leicht den Kopf. "Ich glaube, hier liegt nur ein kleines Missverständnis vor", erklärte der Anführer breit grinsend. "Unsere Gäste haben ..." Er verstummte, als Diamond Claw sich regte.
Alle Köpfe wandten sich der Libelle zu.
Johann trat aufgeregt zwischen die Reiter: "Was quatscht ihr noch mit denen? Fesselt sie endlich wieder. Und beeilt euch bloß, denn das Betäubungsmittel bei dem Flugtier lässt nach."
Mooni stemmte die Hände in die Hüften. Wütend funkelte sie die vier Männer an. "Wagt es euch ja nicht, mich noch einmal anzufassen. Dem Ersten, der näher kommt, reiße ich eigenhändig seinen stinkenden Kopf ab und werfe ihn die diese Grube!"
Ronny zog erneut an seiner Zigarre und kicherte. "Welch ein Liebreiz. Diese junge Dame trägt wahrlich die Sonne im Herzen."
Mooni schäumte: "Ihr strunzdämlichen Affenfurunkel. Bei eurem Anblick scheint mir die Sonne höchstens aus dem Arsch!"
Die drei Räuber lachten laut auf.
Da teilte sich das Heidekraut neben Mooni. Es raschelte, als Keith gemächlich hervorglitt und sich hinter seiner Reiterin aufbaute.
Das Lachen verstummte. Ronny fiel die Zigarre aus dem Mundwinkel. Wie ein Miniaturmeteorit landete sie im Sattel, genau zwischen seinen Beinen. Er schien es nicht einmal zu bemerken, ungläubig starrte er auf den Tausendfüßler. Und nicht nur er war über den gewaltigen Neuankömmling verblüfft. Ingos Pistole klapperte zu Boden. Dem glatzköpfigen Axel schlug der Unterkiefer fast gegen den Adamsapfel. Lediglich Johann schien als einziger der Bande gefasster. Er hatte Keith bereits in Sennestadt kennengelernt und ihn auch eben schon gesehen. Offensichtlich hatte er seine Mitverschwörer nicht eingeweiht, oder sie hatten ihm schlicht nicht geglaubt. Selbst schuld, dachte Shaun. Wer nicht hören will, muss halt mal versohlt werden.
"Also, was ist jetzt?", verlangte Mooni von den Männern zu erfahren. "Bekommen wir nun endlich unsere Sachen zurück? Oder sollen wir euch an die Spinnen verfüttern und uns dann das Gepäck selbst holen?"
In Shauns Kopf erklang eine leise Stimme: "Vorsicht, Johann!"
Shauns Blick zuckte zu dem Kerl in der Lederjacke. Und wirklich, unbemerkt von allen hatte er sich langsam auf die Knie sinken lassen und nach der Pistole gegriffen. Die Warnung der Libelle war zu spät gekommen. Johann lachte auf und trat vor. Er richtete die Waffe auf Mooni.
"Wenn dein Riesenwurm auch nur zuckt, erschieße ich dich, du Zicke!"
Shaun knurrte, reckte sich und starrte Johann mit mörderischem Funkeln in den Augen an: "Dann erwürge ich dich eigenhändig, Arschloch!"
Der Mann schwenke die Pistole von Mooni zu Diamond Claw: "Und danach erschieße ich diese dämliche Libelle. Sie ist den ganzen Ärger echt nicht wert. Wenn ich sie nicht haben kann, dann soll sie niemand ..."
In diesem Augenblick geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.
Ronny kreischte plötzlich wie ein kleines Mädchen und begann wild mit den Händen zwischen seinen Beinen zu hantieren. Eine Rauchwolke stieg dort auf. Durch sein hektisches Zappeln löste sich das Lasso an seinem Sattel.
Johann dagegen zuckte bei dem spitzen Aufschrei zusammen. Sein Zeigefinger krümmte sich und ein Schuss erklang. Dieser krachte jedoch harmlos in den halb zusammengestürzten Schuppen.
Die drei Reitspinnen wiederum erschraken beim lauten Knall. Sie sprangen hoch, wandten sich um und flüchteten kopflos in die Heide. Samt ihrer Reiter, die sich fluchend an die Sattelhörner klammerten. Wie wilde Cowboys wirkten sie nun gerade nicht mehr.
Johann starrte ihnen verwirrt hinterher. Unvermittelt wurde er von den Beinen gerissen, als sich die Lassoschlaufe ruckartig um seinen Fuß zusammenzog und er mitgeschliffen wurde.
Shaun sah dem ganzen Spektakel entgeistert zu.
Mooni begann dröhnend zu lachen. Sie hob den Stinkefinger und brüllte hinter Johann her: "Verpiss dich bloß, dämlicher Arschkeks!"
Zur Antwort erklangen einige Schmerzensschreie und Flüche, die jedoch schnell leiser wurden.
Shauns Herz vollführte einen kleinen Hüpfer. Es tat so gut, wieder dieses wunderbare, scheppernde Lachen zu hören.
Er kicherte. "Was bitte ist ein Arschkeks?"
Mooni zuckte grinsend mit den Schultern. "Keine Ahnung. Ist mir gerade eingefallen. Aber lass uns jetzt nach dieser Frau sehen, die sie wie eine Sklavin gehalten haben."
Diamond Claw kratzte mit einer Klaue über den Boden. "Shaun ..."
Der Junge blickte zur Libelle, dann zu Mooni: "Geh du ruhig vor. Ich kümmere mich jetzt erstmal um mein Tier." Er gab seiner Freundin einen Kuss und ließ sich neben Diamond Claw auf die Knie sinken.