☣Last Kids Standing☣: Kapitel 23
Als Räuberhöhle diente ein einfaches, aus roten Ziegeln erbautes Fachwerkhaus, dessen beste Jahre bereits eine Dekade zurücklagen. Windschief ruhte es im Tal zwischen den Hügeln. Doch immerhin waren sämtliche Pflanzen im Umkreis von den Bewohnern sorgsam entfernt worden, womit sich erklärte, warum dieses Gemäuer überhaupt noch stand. Die Fensterscheiben waren blind, teilweise gesprungen und gelblich verfärbt. Aus dem leicht geneigten Schornstein quoll eine dünne Rauchfahne. Vermutlich hätte das dunkle, unansehnliche Reetdach schon längst ausgetauscht werden müssen, hätte Shauns Vater bei dem Anblick der armseligen Hütte geäußert, wenn er noch leben würde. Die schiefe, hölzerne Eingangstür stand einen Spaltbreit offen. Es wirkte alles andere als einladend. Zögernd trat Shaun ein.
Die Luft in seinem Inneren war nicht besser als der äußere Eindruck, alt und verbraucht. Es stank nach schalem Zigarrenrauch, ungewaschenen Körpern und nach alten, wochenlang getragenen Socken. Möglicherweise hatte auch jemand seinen Nachttopf unter dem Bett vergessen. Die Fenster waren von innen zusätzlich mit Decken verhangen worden, daher benötigte Shaun einen Augenblick, um sich an das Zwielicht zu gewöhnen. Auf einem, mit eingezogenen Flecken und Brandspuren übersäten Eichentisch lagen drei gehäkelte, völlig deplatziert wirkende, weiße Platzdeckchen. Ein paar glühende Holzscheite knackten im Kamin, darüber hing ein Topf an einer Kette. Der unangenehme, irgendwie klebrige Gestank schien von dort zu kommen. Shaun unterdrückte ein Husten. Zur Antwort klirrte das geblümte Porzellan im alten Bauernschrank.
»Hilf mir mal«, begrüßte ihn Mooni hockend in einer Ecke.
Erst bei genauerem Hinsehen erkannte er in dem Lumpenbündel auf der Strohmatte die junge Frau von vorhin. Zusammengerollt lag diese dort und schluchzte leise.
»Diese elenden Mistschweine haben Gesine hier drin festgekettet«, empörte sich Mooni. »Kannst du dir das vorstellen!« Zornig riss sie an dem Eisenring an der Wand, durch den eine Kette bis zur Handschelle der jungen Frau verlief.
Shaun besah sich die Kette genauer. Sie schien lang - viel länger, als seine Eigene im Schuppen gewesen war. Vermutlich konnte sich die Frau damit durch die ganze Hütte bewegen, vielleicht sogar bis vor die Tür.
Ihm kam eine Idee. »Versuch, sie mal nach draußen zu bringen, wenn das irgendwie geht.«
Mooni hob zweifelnd eine Augenbraue.
Bevor sie etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: »Dort kann Keith ihre Fesseln lösen. Das geht schneller, als wenn wir hier nach irgendwelchem Werkzeug suchen. Das Schloss an der Handfessel sieht nämlich ziemlich stabil aus.«
Er musste erneut husten. Das Brennen in seiner Lunge steigerte sich, je länger er sich hier aufhielt. Die Luft erschien ihm mittlerweile unerträglich. Angeekelt hielt er sich die Nase zu.
Mooni stand auf, blickte hinüber zum Topf über dem Feuer und grinste. »Hey Großer, was ist kein Superheld, kann aber schwimmen und müffelt verdächtig nach Limburger?«
Er ignorierte die Frage und wandte sich ruckartig um, verzweifelt die Luft anhaltend. Auf dem Weg zur Tür warf er noch einen letzten Blick in den schaumig blubbernden Topf. Oben auf schwamm etwas, das ziemlich nach einer löchrigen Unterhose mit Batman-Logo aussah. Der dort aufsteigende Dunst brannte in den Augen. Die eigene Neugierde verfluchend stürmte er aus der Hütte an die frische Luft.
»Ich dachte schon, du kämst dort gar nicht mehr raus«, erklang die Stimme von Diamond Claw in seinem Kopf.
»Hey, das ging mir genauso«, erwiderte er. Zur Antwort kam etwas zurück, das der Junge für das Gegenstück eines mentalen Schnaubens hielt.
Erst hier draußen konnte er wieder frei durchatmen. Er hatte keine Ahnung, wie die beiden anderen es so lange dort drinnen aushielten. An die Hauswand gestützt lugte er durch die Tür zurück ins Innere. Undeutlich sah er Mooni, die sich bemühte, diese Frau - Gesine - zur Tür zu bugsieren. Bei jedem Knacken der Holzdielen zuckte die junge Frau zusammen und hielt an. Als ein Windstoß die Tür knarren ließ, wollte sie sogar wieder umkehren und zurück in ihre Ecke stürzen. Mooni bekam sie noch rechtzeitig an der Schulter zu fassen und redete beruhigend auf sie ein.
Nach einer halben Ewigkeit konnte Shaun sehen, wie langsam etwas von der Anspannung von Gesine abfiel. Zögernd ließ sie sich weiter zur Tür führen. Die Kette folgte ihr klirrend. An der Türschwelle blieben die beiden erneut stehen.
Mooni nickte Shaun aufmunternd zu, wandte sich dann wieder zu Gesine. »Ich habe einen großen, starken Freund dabei. Der wird uns jetzt helfen, dich zu befreien.« Sie lächelte Gesine entschuldigend an. »Er sieht allerdings ziemlich gewöhnungsbedürftig aus. Du darfst bei seinem Anblick nicht erschrecken, er ist wirklich harmlos. Versprochen, großes Indianerehrenwort! Nebenbei ist er auch Vegetarier. Und er heißt Keith.«
Nach diesen Worten schob sie Gesine ins Freie. Wie zufällig blieb sie schräg hinter ihr im Türrahmen stehen und versperrte damit den Rückweg. Vermutlich rief sie jetzt in Gedanken ihr Reittier, denn Augenblicke später kam der riesige Tausendfüßler bereits langsam um die Hausecke gewuselt.
Natürlich erschrak Gesine. Jedoch nicht so sehr, wie Shaun erwartet hatte. Die Hand der jungen Frau tastete nach Mooni und fand dort Halt, doch sie konnte ihre Augen nicht von dem gewaltigen grünen Tier abwenden.
»Er wird jetzt deine Fessel lösen«, sagte Mooni.
Und bevor Gesine auch nur reagieren konnte, hatte Keith bereits den Stahlreif um ihr Handgelenk fachmännisch mit seinem Kauwerkzeug geknackt, als ob es sich dabei lediglich um eine Gänseblümchenkette handeln würde. Klirrend fiel das Eisen zu Boden. Gesine lachte ungläubig auf und begann sich das gerötete Handgelenk zu reiben. Dankbar und bewundernd strich sie über den grünen Chitinpanzer des Tausendfüßlers, der regungslos vor ihnen verharrte. Keith zirpte dabei leise, was der Frau ein erneutes Lachen entlockte. Offensichtlich freundeten sich die beiden gerade an.
»Der ungehobelte Kerl hat ja doch eine feinfühlige Seite«, kommentierte Diamond Claw das Geschehen.
Shaun stimmte ihr zu, jedoch hatten sie jetzt ein weiteres Problem.
»Und was machen wir nun mit ihr?« Er sah Mooni fragend an. »Ich meine, mit Gesine. Mitnehmen können wir sie nicht. Aber wenn wir sie hierlassen, fangen diese ekeligen Typen sie bestimmt wieder ein.«
Mooni sah Gesine an. »Was hältst du davon, wenn Keith dich in eine Stadt mit Menschen bringt?«
Die Frau schwieg zunächst und strich weiter über die Flanke des Tausendfüßlers.
Schließlich flüsterte sie: »Sind die auch so wie Ronny, Ingo und der andere Verrückte?«
»Nein!«, riefen Shaun und Mooni zeitgleich.
Mooni blickte der jungen Frau fest in die Augen. »Das sind anständige Menschen, so wie Shaun und ich. Sie können sich um dich kümmern. Dort gibt es vernünftiges Essen, saubere Kleidung und ein Haus ganz für dich alleine, wenn du das möchtest.«
Gesine sah sie verträumt an. »Das wäre schön.«
Eine halbe Stunde später saßen Shaun und Mooni bereits wieder auf Diamond Claws Rücken. Die Verabschiedung von Gesine war herzlich gewesen. Lachend und weinend hatte die junge Frau sich wiederholt überschwänglich bei den beiden bedankt. Sie hatte ihnen geholfen, ihre verlorengeglaubte Ausrüstung im Chaos der Räuberhöhle zusammenzusuchen, hatte Shaun und Mooni noch etwas Heidehonig zur Stärkung mitgegeben und auf einer verdreckten Karte den vor ihnen liegenden Weg gezeigt.
»Dieses elende Loch hier nennt man Totengrund, die Gegend selbst heißt Hannibals Grab. Diese Typen fanden das irgendwie lustig. Jedenfalls, der große Hügel da vorne ist der Wilseder Berg. Wenn ihr euch rechts von dessen Kuppe orientiert und dann immer geradeaus fliegt, kommt ihr direkt auf Kiel zu.«
Gesine wirkte nun schon wieder viel selbstbewusster, wie sie auf Keith Sattel thronte. Sie strich zum wiederholten Male über dessen grünen Panzer, und das gewaltige Tier gab erneut dieses untypische Zirpen von sich. Purzel, die sich wieder zitternd in Erwartung des anstehenden Fluges an Shauns Bauch klammerte, antwortete darauf leise mit einem ähnlichen Geräusch. Immerhin diese beiden schienen sich zu verstehen.
Mooni blickte zu Keith. »Das du mir Gesine unversehrt nach Sennestadt bringst.«
Der Tausendfüßler wandte ihr den Kopf zu und starrte sie mit seinen melonengroßen Facettenaugen sekundenlang an.
Da meldete sich die Libelle in Shauns Geist. »Der große Sturkopf weiß schon, was zu tun ist. Jetzt lasst uns endlich aufbrechen.« Zur Verdeutlichung rieb sie ihre Flügel schabend aneinander.
Das stumme Zwiegespräch zwischen Keith und Mooni schien ebenfalls beendet, denn die beiden Frauen verabschiedeten sich gerade erneut voneinander. Shaun wusste nicht so recht, was er noch sagen sollte, daher wünschte er Gesine eine Gute Reise und bat sie, die Leute in der Stadt zu grüßen.
Keith zischte in die eine Richtung los und Diamond Claw erhob sich brummend, um in die andere zu fliegen. Sie hatten kaum den Hügel passiert, da begann Shaun zunächst verhalten zu kichern, aus dem schnell ein herzhaftes Lachen erwuchs.
»Was hast du?«, fragte Mooni hinter ihm.
»Na deine Frage eben. Jetzt hab ich’s kapiert.«
Mooni kicherte. »Ach Holzkopf, manchmal hast du echt eine lange Leitung.«
Shaun antwortete darauf nicht, sondern betrachtete versonnen die von kräftigen Violett- und Rosatönen dominierte Heidelandschaft, während sie weiter nach Norden flogen.