~Opus Magnum~
Verglichen mit den Vorbereitungen fehlten zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur noch wenige Handgriffe, dann wäre es schlussendlich vollbracht. Nach so vielen Jahren der Forschung, so vielen Fehlschlägen - gleich würde Antoine endlich sein erträumtes Meisterwerk in den Händen halten. Oft hatte er in den vergangenen Jahrzehnten an seinem eigenen Vorhaben gezweifelt und gegrübelt, ob er womöglich nur einem abstrusen Traum nachjagte – und doch wäre die gewaltige Aufgabe in wenigen Momenten bewältigt. Gerade noch rechtzeitig, wenn er seine faltigen und knotigen Hände betrachtete. Zitternd träufelte er noch ein wenig mehr Ammoniak in die Silbernitratlösung. Als er den erhofften, braunen Niederschlag im Glaskolben erkannte, seufzte er erleichtert. Er gab noch etwas Natronlauge, gefolgt vom restlichen Silbernitrat hinzu. Langsam schwenkte er den Kolben, bis die Flüssigkeit wieder aufklarte. Dieser Schritt war abgeschlossen.
Doch nun folgte der schwierige Teil. Dabei durfte er sich keine Fehler erlauben, nicht auszumalen waren die Gefahren bei einem Fehlschlag.
Noch einmal - zum womöglich hundertsten Male – überprüfte er die höchstselbst geprägten Symbole und Zeichen auf dem silbernen Rahmen, bis hin zu seinem wahrhaftigen Namen, der verborgen zwischen den unzähligen okkulten und religiösen Anrufungen und Befehlen lag. Schon das Zusammentragen und Entschlüsseln dieser ultimativen, göttlichen Worte - die Kernessenz aller Religionen - hatte ihn mehr als 56 Jahre seiner wertvollen Lebenszeit gekostet. Dankbar blickte er zum Lesesessel hinüber, auf dessen Lehne noch immer Madame Blavatskys kürzlich erschienenes Meisterwerk »Isis Entschleiert« aufgeschlagen ruhte. Darin hatte er letztlich die händeringend gesuchten, letzten Puzzlestücke für sein persönliches Opus Magnum, sein Bravourstück gefunden. Liebevoll strichen die arthritischen Finger über die feinen Ziselierungen des silbernen Rahmens. Bald, schon so bald würden ihn diese verkrüppelten, alten Hände nicht mehr so grausam quälen. Seine Haut wäre erneut glatt und weich, befreit von den schändlichen Altersflecken, seine Muskeln und Gelenke wären wieder jung und voller Kraft. Er würde seine Reisen fortsetzen können und die Welt mit ihren zahlreichen Mysterien neuerlich erkunden, sich den lang vermissten Freuden der körperlichen Liebe wieder hingeben können. Bald, ach so bald schon ... Natürlich waren seine, am Rahmen angebrachten Worte und Zeichen - seine Zaubersprüche - makellos. Er konnte auch bei dieser erneuten Überprüfung keinerlei Fehler in seiner Schöpfung erkennen. Daher wandte er sich dem nächsten Schritt zu.
Ächzend drehte Antoine den Rahmen und bereitete die Rückseite der geweihten Glasplatte vor. An jeder Ecke befanden sich Hostien, an den Längsseiten des Rahmens brannten schwarzen Kerzen – für die Ausgewogenheit der spirituellen Dualität war somit gesorgt. Seiner Erfahrung nach war es völlig gleich, ob hier christliche, hinduistische, muslimische oder jüdische Mittel benutzte, wichtig war lediglich der Ausgleich der Kräfte - und dass sie vorhanden waren. Vorsichtig schritt er über den schützenden Salzkreis und griff nach dem ledernen Pergament auf dem Sekretär, dass das Beschwörungsritual enthielt. Selbstverständlich kannte er die Formel auswendig. Jedoch vermittelte es ihm immer ein Gefühl der Sicherheit, wenn er die - nicht für menschliche Zungen geschaffenen Worte - vor sich sah, wenn er sie vortrug.
Und selbst das Wetter erschien ihm für solch epochales Werk angemessen, so dachte der alte Mann, als das leise Regenprasseln an der kleinen Scheibe seines Kellerfensters von einem fernen Donner übertönt wurde. Antoine humpelte zurück in den Bannkreis. Kurz kontrollierte er erneut, ob alles Notwendige vorbereitet war und jedes Ding an seinem Platz weilte, dann hob er das Pergament. Mit zittriger Stimme begann er die geheimen Worte der Beschwörung zu rezitieren. Die Temperatur im Keller sank mit jedem weiteren Wort und sein Atem bildete bald schon eisige Wölkchen. Ein Windstoß brachte die Kerzen zum Flackern, ließ sie jedoch glücklicherweise nicht verlöschen. Als er die letzte Zeile der Formel ausgesprochen hatte und aufblickte, sah er den erwarteten, nebelhaften Schemen, der seinem Ruf gefolgt war. Im flackernden Licht der Kerzen und der fernen Gaslaterne auf der Straße wandelte sich der zuckende Nebel in ein plasmatisches Wesen, schwebte in der Luft über dem silbernen Rahmen. Jetzt galt es, rasch zu handeln. Er griff nach dem Glaskolben und begann die Flüssigkeit über die Glasplatte zu gießen. Dabei murmelte er weitere Beschwörungen, die den Geist fest an das Silber banden. Offensichtlich schien es zu funktionieren, denn je mehr er von der Flüssigkeit auf der Glasplatte verteilte, desto weniger war von der schwebenden Gestalt darüber noch zu erkennen. Eine zweite Flüssigkeit folgte, dann war auch dieser Schritt vollzogen.
Er griff nach seiner knochengefassten Sanduhr. Angeblich enthielt sie Sand aus der Totenwüste, gemahlene Knochen von Menschen und stammte aus dem Orient. Doch er hielt dies für Humbug, für abergläubischen Unfug und für Bauernfängerei. Knochenmehl war schließlich um ein vielfaches leichter als Sand. Antoine schnaubte verächtlich, als er an die infantilen und schmutzigen Händler dachte, die auf ihren Basaren Wunderlampen und fliegende Teppiche den ahnungslosen Touristen aufschwatzten. Für ihn war diese Sanduhr lediglich ein adrettes Andenken an seine Reisen bis nach Nepal und Indien.
Er schwenkte den Rahmen leicht, damit sich das niederschlagende Silber besser verteilte - und wartete ab. Er wagte es kaum, zu atmen. Nun trennten ihn lediglich noch wenige Handgriffe von seiner Unsterblichkeit. Ungeduldig blickte er auf die Sanduhr und zuckte leicht zusammen, als draußen eine Windböe einen Schwall Regen gegen das Fenster drückte.
Dann war es so weit, das letzte Körnchen Sand war verronnen. Vorsichtig ergriff er den Rahmen, schwenkte ihn ein letztes Mal und begann, die Flüssigkeit langsam in das vorbereitete Becken abzugießen. Der Rahmen war schwer. Fast zu schwer für seine alten, verkümmerten Glieder. Doch tapfer hob er ein Ende immer weiter an, ignorierte den brennenden Schmerz in seinen Muskeln und den Gelenken.
Mit einem ohrenbetäubenden Knall schlug ein Blitz direkt über ihm ein. Das laute Krachen erschütterte den Boden, brachte die Gläser im Regal zum Klirren. Die Kerzen flackerten wild und Antoine zuckte erschrocken zusammen. Ein wenig der Flüssigkeit lief ihm über die Hand. Die Natronlauge brannte wie flüssiges Feuer. Widerliche, beißende Dünste erfüllten sein Labor, brannten ihm in Hals und Lunge. Er wankte leicht, sein rechter Fuß durchbrach den schützenden Salzkreis. Doch er ließ den Rahmen nicht los und goss die Flüssigkeit stoisch weiter ab, bis schlussendlich nichts weiter auf der Glasoberfläche zurückblieb, als eine perfekte, spiegelnde Silberschicht.
Es war verrichtet, er hatte es wirklich vollendet! Sein Meisterwerk, sein Opus Magnum - der Zauberspiegel – er hielt ihn wahrhaftig in den Händen. Freudentränen rannen dem alten Mann über das faltige Gesicht. Er hatte es doch noch geschafft. Am Ende hatten sich alle Strapazen und Entbehrungen ausbezahlt, jeglichem Hohn zum Trotz. Er würde sie nun alle überleben, die Zweifler und Spötter, die Neider und Besserwisser - schon bald würde er jubilierend und aufrecht vor ihren Gräbern stehen.
Vorsichtig, fast zaghaft legte er den Silberspiegel auf die vorbereitete, rote Filzunterlage. Zärtlich glitten seine Hände über den Rahmen. Da bemerkte er einen kleinen Schatten an der unteren, linken Ecke der Spiegelfläche. Dort hatte sich vermutlich beim Abgießen, womöglich als er zusammengezuckt war, eine unebene Stelle in der reflektierenden Schicht gebildet. Nur eine kurze, silberne Linie, die jedoch die ansonsten makellose Oberfläche unterbrach. Ob dies wohl die Zauberkraft des Spiegels beeinflusste? Antoine wusste es nicht. Doch er deutete es als ein Zeichen und entschied sich, ohne lange zu überlegen, sein Werk »ligne d’argent«, den Silberstreif zu nennen. Ja, das war ein guter Name. Eilig hielt er diese Eingebung auf einem Pergament fest und lächelte, als er dabei an seinen eigenen, seinen wahrhaftigen Namen dachte. So fand alles letztlich an den angestammten Platz und der große Kreis schloss sich.