CN: Dystopie, Insekten, Kadaver, Riesenwuchs, Tod, Erbrechen
☣Last Kids Standing☣: Kapitel 2
Letztlich war es wohl das wuchernde Efeu, welches sein sicheres Heim zerstört hatte. Wobei man natürlich auch sagen könnte, es lag an seiner Mangelernährung, wegen der er zu schwach war, die Triebe rechtzeitig zu entfernen - oder eine Kombination aus beidem. Doch, von welcher Seite aus man es auch betrachtete, Paul-Kevin war über Nacht obdachlos geworden. Selbst ein Großteil seiner Biervorräte lag nun unter dem eingestürzten Dach begraben, und er hatte keine Kraft mehr, weiter danach zu suchen. Sich ausschließlich von Obst und Gemüse in Kombination mit TicTacs zu ernähren, hatte ihn mit der Zeit zu sehr geschwächt. Mühsam war er aus den Trümmern des ehemaligen Getränkemarktes gekrochen. Er hatte die schrecklichen Pflanzen verflucht, die in den letzten Tagen überall auf dem betonierten Parkplatz aus dem Boden gebrochen waren und aufgrund des seltsamen Regens nicht aufhören wollten, zu wachsen. Glücklicherweise regnete es nun gerade nicht. Denn manchmal brannten die Tropfen wie Säure auf der Haut, hinterließen gerötete Stellen, an denen sich die oberste Hautschicht kurze Zeit später wie nach einem starken Sonnenbrand abziehen ließ. Nachdem er zweimal unabsichtlich im Gewächshaus in kleine Pfützen getreten war, hatte er anschließend tagelang kaum laufen können. Letztlich hatte er sich zum Schutz Lederstücke um die nackten Füße gebunden.
Nun schlurfte der Junge erschöpft über die Reste der Artur-Ladebeck-Straße im Herzen des ehemaligen Bielefelds. Auf dem Rücken seinen Jutesack, in dem er die letzte Ernte, drei riesige Stachelbeeren und eine kopfgroße Kirsche verstaut hatte, und natürlich seine restlichen fünf Bierflaschen aus der Ruine. Lediglich einige verbogene Stahlträger und Betonreste lugten noch zwischen den ungebändigt wuchernden Pflanzen und Bäumen hervor. Mehr war von den ehemals mehrgeschossigen Häusern links und rechts der Straße nicht übrig geblieben, nachdem das Wachstum der Pflanzen begonnen hatte. Auch von der vierspurigen Hauptstraße im Herzen der Stadt war stellenweise kaum noch etwas zu erkennen. Streckenweise musste er sich unter Ranken durchwinden, über riesige Löwenzahnblätter klettern und zwischen messerscharfen Grasbüscheln hindurchschlängeln.
Westlich von ihm lag der Botanische Garten, jetzt allerdings eher ein wilder Urwald aus gewaltigen Büschen und Bäumen, der von dackelgroßen Wespen, Bienen, Hummeln und riesigen Libellen beherrscht wurde. Bienen und Hummeln waren kein Problem, sie interessierten sich lediglich für die ebenfalls riesigen Blüten. Wespen wiederum fand man am ehesten unten am süßen Fallobst. Solange sie nicht zu viel vom vergorenen Obst genascht hatten, waren sie ebenfalls kein Problem. Unten am Boden jedoch lauerten Ameisen, die mit ihren kräftigen Mandibeln problemlos einem Menschen das Bein durchbeißen konnte (und es auch taten, wenn man nicht schnell genug weglief). Der Junge schüttelte sich bei dem Gedanken, einem dieser Monster zu begegnen. Er wollte zunächst überprüfen, ob es hier irgendwo in einem der zahlreichen Geschäfte noch etwas Nahrung, trinkbare Flüssigkeit und Unterschlupf vor dem Regen gab. Überhaupt, er hatte Durst. Trinken war eine gute Idee. Er hielt kurz an einem Kleeblatt und öffnete eine Bierflasche. Die einzige trinkbare Flüssigkeit, die er noch besaß. Dann schlurfte er weiter.
Angeekelt stieg er über den Kadaver einer mutierten, gewaltigen Mücke, die vor ihm auf dem Asphalt lag. Sie waren sogar noch schlimmer als Ameisen. Im Gegensatz zu den dämlichen Insekten waren die restlichen Lebensformen nämlich vom veränderten Regen vergiftet, oder von den gigantischen Krabbelviechern anschließend gefressen worden. Paul-Kevin hatte selbst erlebt, wie eine riesige Mücke seinen Freund Leon gestochen und ihn in wenigen Augenblicken leergesaugt hatte. Immerhin hatte sie ihm dabei das Gehirn durchbohrt, er hatte nicht lange gelitten. Doch nachdem die Mückenpopulation nach und nach ihre restlichen Blutwirte getötet hatten, starben sie ebenfalls schnell aus. Ein Glück, dachte der Junge. Er wunderte sich, hier noch einem dieser mörderischen Exemplaren zu begegnen. Normalerweise entsorgten die Ameisen diese Kadaver schnell und zuverlässig. Dass dieser hier noch lag, ließ den Jungen hoffen, sich gerade in relativ sicherem Gebiet zu bewegen. Inzwischen war Paul-Kevin vermutlich nicht nur der letzte Überlebende in Bielefeld, sondern auch das letzte, lebende Säugetier der weiteren Umgebung.
Umso verblüffter war er, als plötzlich ein warnender Ruf erscholl.
»Vorsicht, weg da!«
Polternd und trampelnd wälzte sich etwas von hinten aus dem grünen Dickicht heran. Stämme brachen krachend. Er ließ sich zur Seite neben ein hochstehendes Stück Straßenbelag fallen. Dabei schnitt er sich den Unterarm an einem aufragenden Grashalm auf. Fluchend zog er den Kopf ein und blickte ängstlich über seine Deckung, das Messer abwehrend vor sich haltend.
Vor ihm hielt ein gewaltiger, giftgrüner Tausendfüßler. Das Ungetüm musste mindestens einen Meter hoch und 30 Meter lang sein. Die tückischen Augen des Monsters fixierten den Jungen gierig. Armlange Beißwerkzeuge zerhäckselten das Gras, 30 Zentimeter vor seinem Gesicht.
»Was wird das da unten, wenn du fertig bist?«
Verblüfft blickte er hoch. Dort oben saß jemand. Ein Mensch. Auf dem Rücken des Insekts. Paul-Kevin sackte der Unterkiefer herab. Das Tier war gesattelt und gezäumt. Jemand hatte ihm dicke Stahlseile um den Kopf geschlungen und Lederbänder daran befestigt. Oben auf dem Sattel hockte ein Mädchen und blickte feixend auf ihn hinab. Wie gebannt blieb sein Blick auf ihrem fleckigen Shirt einer uralten Punkband hängen, die sein Vater früher gehört hatte: Green Day. Das konnte nur ein schlechter Scherz sein. Sie lachte, warf die verfilzten Strähnen ihres langen, blonden Haars zurück und streckte die Hand nach ihm aus.
»Kommst du jetzt mit oder bist du da festgewachsen?«
Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Mühsam stemmte er sich in die Höhe und erklomm mit der Unterstützung des Mädchens den geduldig wartenden Tausendfüßler.
»Wer bist du?«, wollte er von ihr wissen, als er im Sattel saß und wieder zu Atem gekommen war.
»Ich bin Mooni. Eigentlich ja Rati Moonflower Müller-Lüdenscheidt, aber alle nennen mich nur Mooni«, plapperte das blonde Mädchen sofort los.
Sie reichte ihm einen Lappen, um den Schnitt zu verbinden. »Meine Eltern waren Alt-Hippies, vermutlich ist es unter denen ein ungeschriebenes Gesetz, das man seinen Kindern sonderbare Namen geben muss. Rati ist nämlich die indische Göttin der Lust und der Leidenschaft.«
Sie kicherte albern, bevor sie weitersprach. »Ich bin hier gerade auf der Durchreise von Herford nach Gütersloh. Dort haben sie nämlich neuerdings in der Siedlung eine Pumpe für Tiefenwärme installiert und brauchen jetzt ein paar Ersatzteile, damit der Strom wieder läuft.«
Sie deutete auf einige festgeschnallte Päckchen am Sattel hinter dem Jungen.
Er war sprachlos. Nicht nur hatte er gerade nach Monaten der Einsamkeit einen weiteren Menschen gefunden. Jetzt saß er auch auf einem reitbaren Insekt und wurde zu einer Siedlung gebracht. Er war nicht mehr allein. Er war nicht der letzte Mensch.
Das war unglaublich. Vor Aufregung musste er aufstoßen. Ein schaler Bierdunst entwich seinem Mund. Hoffentlich hielt sie ihn nicht für einen Säufer. Wobei, sie musste ungefähr so alt sein wie er, 13 oder 14 und sie sah ziemlich ...
»Und wie heißt du?«, unterbrach Mooni seine Gedanken.
»Äh, ich? Äh ... Paul-Kevin«, stammelte Paul-Kevin mit heiserer, monatelang kaum genutzter Stimme und trockenem Hals. Dann musste er erneut vom Bier aufstoßen. Das Mädchen brach in schallendes Gelächter aus.
»Was denn?«, wollte er mit rotem Kopf wissen.
»Paul hieß mein Opa – und Kevin unser Labrador. Hast du etwas dagegen, wenn ich dich blökender Angsthase nenne?«
Der Junge sah sie entsetzt an.
»Ist ja gut«, wiegelte sie ab. »Das sollte ein Scherz sein. Aber trotzdem klingst du wie ein Schaf.«
Sie legte den Kopf schräg, blinzelte, dann lächelte sie. »Jetzt hab ich´s. Ich nenne dich einfach Shaun. So wie das Schaf im Fernsehen.«
Der Junge nickte zaghaft, noch immer leicht errötet.
»Dann schnall´ dich mal an, Shaun. Die Päckchen mit den Blechen und den Schrauben müssen zügig zur Siedlung gebracht werden. Flitzende Gurke ist zwar schnell, aber leider nicht sonderlich rücksichtsvoll, was seine Passagiere betrifft. Es ist so ähnlich, wie auf einem bockenden Dromedar zu reiten, nur das wir noch zusätzlich den Pflanzen ausweichen müssen.«
Sie beugte sich vor und tätschelte dem Tausendfüßler über den Kopf, worauf dieser ein mahlendes Geräusch von sich gab. Bevor er sie fragen konnte, woher sie wusste, wie es war, ein Dromedar zu reiten, schnalzte sie mit den Zügeln. Das Tier stürmte los und Mooni gab wieder dieses herrliche Lachen von sich.
Nach einigen hundert Metern wandte Paul-Kevin den Kopf zum ersten Mal zur Seite und erbrach das Bier. Hoffentlich gab es in dieser Siedlung in Gütersloh Wasser oder Saft. Überhaupt, warum war er bisher in der ganzen Zeit noch nicht selbst auf die Idee gekommen, seine Ernte aus dem Gewächshaus zu Saft zu verarbeiten?