☣Last Kids Standing☣: Kapitel 18
»Ahuuuuu! Alter, das ist ja mal sowas von megakrass!«
Durch den brausenden Wind klangen Moonis Worte dünn und kraftlos. Trotzdem konnte Shaun die Erregung darin spüren. Es gab nichts Größeres, als zu fliegen! Das blonde Mädchen war bereits glücklich gewesen, ihren Tausendfüßler Keith wiederzusehen. Und verständlicherweise war es ihr schwergefallen, sich wieder von ihm zu verabschieden. Sie hätte ihr Reittier gerne ebenfalls mitgenommen, doch mit dem rasenden Tempo der Libelle konnte Keith auf dem Boden natürlich nicht mithalten. Das hatte Mooni letztlich dann selbst eingesehen, auch wenn es ihrer Unternehmungslust einen kleinen Dämpfer verpasst hatte. Aber hier und jetzt, hoch oben in der Luft, knapp unter den Wolken auf einer Libelle dahinjagend, erschien sie ihm wieder so glücklich und lebendig wie noch nie zuvor in ihrer gemeinsamen Zeit.
Ihre Finger umklammerten seine Oberschenkel, während sie sich fest von hinten an ihn presste. Und auch Purzel war dabei. Sie klammerte sich vorne unter dem Shirt an seinen Bauch. Die rote Spinnmilbe schien jedoch von diesem Flug wenig begeistert. Er spürte ihre spitzen Krallen nervös an seiner Haut zucken.
»Da vorne hören die Bäume auf«, verkündete Diamond Claw unvermittelt.
Shaun drehte das Gesicht in den Wind und spähte mit zusammengekniffenen Augen an der Libelle vorbei. Hinter dem stetigen Grün des allgegenwärtigen Urwalds lichtete sich die Fläche. Kräftige Violetttöne dominierten mit einem Mal die wellige Landschaft. Nur vereinzelte, riesige Bäume ragten noch in die Höhe. Bei dem endlosen, leuchtenden Farbteppich musste es sich um Heidekraut handeln. Sie hatten demnach bereits die Lüneburger Heide erreicht.
Shaun wandte sich zu Mooni um: »Schau mal, da!«
Er spürte, wie sie ihren Kopf hob und unvermittelt nach Luft schnappte.
»Alter! Das is ja irre. Ich hätte nicht gedacht, dass es irgendwo freie Flächen gibt. Alles andere ist ja total überwuchert, aber hier sieht es noch genauso aus wie früher.«
Shaun begriff, was sie meinte. Ganze Städte waren von den monströs wuchernden Pflanzen eingehüllt und letztlich niedergerissen worden - doch hier sah es weiterhin genau so aus, wie er es von einem früheren Familienurlaub im Gedächtnis hatte.
»Kannst du mal etwas tiefer gehen?«, bat er die Libelle.
Wortlos senkte Diamond Claw den Kopf und ging in einen Sturzflug über. Erneut jauchzte Mooni ob des Flugmanövers auf. Shaun erwartete fast, dass sie wie auf einer Achterbahn ihre Hände in die Höhe reckte. Aber so verrückt war sie dann zum Glück doch nicht.
Dicht über dem Grund erkannte er, dass auch das alles dominierende Heidekraut ungewöhnlich gewachsen war. Anstatt wadenhoch wie früher schätzte er es jetzt mindestens auf Brusthöhe. Es erfüllte Shaun mit einer gewissen Genugtuung, dass der Riesenwuchs hier ebenso stattfand.
Sie schossen nun dicht über dem Boden dahin. Erneut vollführte die übermütige Libelle ihren Trick mit den abwärts gereckten Krallen. Hinter ihnen stob eine imposante Blütenwolke über die Hügel. Wie ein Rennboot brachen sie durch die endlos scheinende Landschaft und erzeugten eine gewaltige rosa/violette Bugwelle. Der leichte Wind trug den farbigen Nebel gemächlich davon.
Plötzlich zog Diamond Claw ihre Beine wieder an, drosselte die Geschwindigkeit und stieg einige Meter in die Höhe. In Shauns Kopf erklang ihre Stimme: »Dort vorne ist etwas.«
»Was meinst du?« Neugierig blickte er zwischen ihren Flügeln hindurch.
Ein dünner, grauer Faden wandte sich hinter einem Hügel in die Höhe. Rauch, erkannte er. Da vorne brannte etwas. Doch bei dem wenigen Qualm konnte es sich um keinen großen Brand handeln.
»Halt mal an«, bat er.
»Was ist denn da vorne los?«, wollte Mooni wissen, als der rasante Flug abrupt gebremst wurde.
Shaun deutete auf die schmale Rauchfahne.
Sie blickte an ihn vorbei, sprach dann die Libelle direkt an: »Können wir wieder etwas höher gehen? Das möchte ich mir mal genauer ansehen. Ein Blitz wird da ja nicht eingeschlagen sein. Aber womöglich leben hier noch Menschen.«
Schwerfällig stieg Diamond Claw mit brummenden Flügeln einige Meter himmelwärts. Hinter dem kleinen Hügel vor ihnen senkte sich der Boden in ein schattiges Tal, dahinter erhob sich eine weitere, wesentlich höhere Erhebung. Dort oben, genau auf der Spitze musste die Ursache der Rauchfahne liegen. Langsam glitten sie vorwärts darauf zu.
Als sie sich zögernd der Anhöhe näherten, erkannten die drei eine aufrecht stehende Gestalt mit wild schwenkenden Armen.
»Da steht ein Typ und winkt uns zu«, erklärte Mooni überflüssigerweise.
»Er muss ein Signalfeuer angezündet haben«, ergänzte Shaun erstaunt. »Lasst uns nachsehen, was er will.«
Die Stimme der Libelle erscholl: »Bist du sicher?« Sie erschien dem Jungen seltsam unsicher.
»Ach, was soll uns schon passieren?«, fragte er, als sie sich dem kleinen Lagerfeuer näherten.
Der Mann wich einige Schritte vor dem gewaltigen Tier zurück, ließ die Drei jedoch nicht aus den Augen. Mit seinem langen, ungekämmten Haar, dem wilden Bart und der zerrissenen Kleidung machte er einen reichlich ungepflegten Eindruck auf die Kinder.
Dann schlug der Wind um und blies Shaun den schwarzen Qualm ins Gesicht. Hustend wandte er sich ab. Der Mann hatte feuchte Zweige und Laub auf die Flammen gelegt. Mooni und Diamond Claw erging es vermutlich ähnlich, denn keiner der drei bemerkte die beiden anderen zerlumpten Gestalten, die sich nun aus dem Heidekraut erhoben. Mit einem schwirrenden Geräusch flog etwas Schweres heran. Sie wurden zu Boden gerissen und plötzlich zappelten die Kinder und ihre Libelle hilflos wie Fische in einem stählernen Netz.