☣Last Kids Standing☣: Kapitel 6
Satt und zufrieden strich das blonde Mädchen durch Shauns Haar. »Jetzt kann ich es dir ja sagen. Es waren zerstampfte Eier.«
Shaun, der gerade ebenso satt und mindestens genauso glücklich an ihrer Schulter lehnte, öffnete träge ein Auge.
»Eier? Von welchen Hühnern denn?«
Mooni schüttelte sich bei dieser Frage so sehr vor Lachen, dass sein Kopf den Halt verlor und Shaun fast auf die grobe Tischplatte geprallt wäre. Brummend richtete er sich auf.
»Ich verstehe nicht, was daran jetzt wieder so witzig sein soll.«
Sie schwieg einen Moment, blickte nachsinnend in die Runde. Auf den grob gezimmerten Bänken ringsum saßen die Bewohner dieser Siedlung. Ein kleiner, freier Platz inmitten des wild wuchernden Grüns. Einst hatte sich hier eine richtige Stadt befunden - mit Häusern und Straßen. Ihre Heimat- und Geburtsstadt. Unter Blättern und Erde begraben lagen die Überreste von Gütersloh. Sie konnte kaum glauben, dass es nur etwas mehr als ein halbes Jahr her sein sollte, dass der ätzende Regen die Pflanzen dazu angeregt hatte, alles zu zerstören. Ihr Elternhaus, ihre Schule, einfach jedes Haus war durchwachsen, niedergerissen und überwuchert worden. Selbst die kläglichen, letzten Mauerreste hatten die starken Wurzeln und das Efeu zum Schluss ebenfalls zerstört. So gut wie nichts war geblieben. Gleichzeitig waren die Insekten zu riesenhafter Größe angewachsen. Zuerst hatten Mücken, Zecken und andere Parasiten die letzten Tiere und Menschen getötet, dann waren sie selbst verhungert.
Und doch saßen sie hier. Ein kleiner Haufen Überlebender in einer nun fremden Welt. Sie - Rati Moonflower Müller-Lüdenscheidt, das Kind zweier durchgeknallter Lehrer, deren größter Stolz neben der Tochter ein blumenbemalter, uralter VW-Bulli gewesen war, und die ihre Tochter nach einer Lustgöttin und dem Drummer von The Who benannt hatten -, sie hatte überlebt. Darüber hinaus war sie einem Jungen in ihrem Alter begegnet, der sie offensichtlich sogar mochte. Sie hatten genug zu essen und eine Hütte zum Schlafen. Nicht der stinkige Keller, in dem sie die ersten Wochen nach dem Tod ihrer Eltern verbracht hatte. Sie lebte, Shaun lebte - und das war doch alles, was am Ende zählte. Worüber sollte man sonst lachen? Das Leben war schön!
Sie deutete in die Runde: »Das alles hier ist ein riesiges Wunder.«
Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss. »Schau da hinten. Dort sitzt Hanna mit Tabitha und Lars. Du kannst sie aber auch bezopfter Fragensack und breibeschmierter Grinsekeks nennen.«
Er blickte in die angewiesene Richtung und sah eine stämmige Frau. Auf ihrem Schoß zappelte ein kleiner Junge. Liebevoll fütterte sie ihn mit Brei aus einer Schüssel, der allerdings auch an Nase, Wimpern und am Kinn klebte. Das ältere Mädchen daneben sprach währenddessen unentwegt auf die Frau ein. Alle drei sahen zerlumpt und müde aus, doch sie wirkten zufrieden.
»Sind das ihre Kinder?«, fragte Shaun.
»Nein, aber das ist jetzt auch nicht wichtig. Ich meinte etwas anderes.«
Sie wies in den Schatten zwischen zwei Hütten.
»Das dort sind Horst und Erika. Sie sind jetzt seit 57 Jahren verheiratet, sagen sie jedenfalls.«
Shaun bemerkte ein Pärchen, das sich auf einer Bank niedergelassen hatte und Händchen hielt. Versonnen lächelnd betrachteten die beiden älteren Herrschaften Hanna und die Kinder.
»Sie sind die Einzigen hier in der Siedlung«, sagte Mooni, »die nicht sämtliche Familienangehörigen verloren haben. Naja, vermutlich irgendwie schon. Aber sie hatten die ganze Zeit über noch immer sich und waren nach dem Zusammenbruch nie allein.«
»Aber alle wirken glücklich und zufrieden«, vermutete Shaun. »Meinst du das?«
»Bingo, du hast es. Also bist du doch nicht so ein Holzkopf, wie ich zuerst dachte. Ich hab schon befürchtet, meine Kinder würden später alle ›lechts‹ nicht von ›rinks‹ unterscheiden können.«
Jetzt lachte auch Shaun herzhaft.
Als er wieder Luft bekam, bemerkte er einen quäkigen Laut, der von oberhalb, irgendwo aus den umliegenden Pflanzen zu kommen schien. Ein Tier? Angestrengt starrte er in die Dunkelheit hinter der schützenden Palisade.
»Und das ist Basti«, erklärte Mooni. »Er hat früher bei den Bielefelder Philharmonikern gespielt. Seine Oboe hat er natürlich nicht mehr, aber der Häuptling hat ihm etwas Ähnliches gebastelt, damit er üben kann.«
Aus dem langgezogenen Geräusch, das eher nach einem Frosch klang, der gerade quer von einer Ente gefressen wurde, entwickelten sich einzelne, schwebende Töne. Kurze Zeit später wandelten diese sich in eine schwermütige Melodie, schwebten über die blättergedeckten Hütten und hallte durch die Nacht.
Shaun griff nach Moonis Hand. Auf eine merkwürdige Weise berührten ihn diese Klänge. Es lag so viel Schwermut und Trauer darin, erinnerten ihn an seine eigenen, ersten Tage nach dem gewaltsamen Tod seiner Eltern. Auch ohne Worte erzählte die Melodie eine kummervolle Geschichte von Verlust und Tod, von Angst und von Flucht. Sie betrauerte das Vergangene, beklagte die endlosen Toten. Vermutlich jeder hier konnte auf ähnliche Erlebnisse zurückblicken, wurde Shaun klar.
Rechts von Mooni und Shaun begann jemand auf den Holztisch zu pochen. Ganz langsam und gemächlich begleitete der dumpfe Klang das traurige Lied, suchte und fand schließlich den Takt. Shaun erkannte den Bürgermeister Walter, der mit seiner Faust das Holz zum Klingen brachte. Schon bald stiegen weitere Bewohner mit ein, klatschten gemächlich mit oder trommelten mit geschnitzten Löffeln auf ihre Schüsseln ein.
»Das ist hier inzwischen schon so etwas wie eine Tradition«, erklärte Mooni dem staunenden Shaun.
Dann - ganz langsam zuerst - steigerten die Trommler die Geschwindigkeit, auch Basti folgte ihrem accelerando. Aus Larghetto wurde Moderato, steigerte sich immer weiter, bis sie alle gemeinsam eine temporeiche und lustige Weise spielten, die mit zahlreichen Trillern und Ornamenten vom Talent des Musikers zeugte. Eine Flöte stieg ein, um das inzwischen schon schnelle Spiel noch mit zahlreichen Triolen zu übertrumpfen. Niemanden hier ließen diese Klänge kalt und fast jeder fügte dem Lied noch einen eigenen, persönlichen Teil hinzu. Die Kinder Tabitha und Lars hatten sich an den Händen gefasst und tanzen hüpfend im Kreis.
Shaun lachte. So glücklich war er schon lange nicht mehr gewesen. Das warme Licht der Lampen und die strahlenden Gesichter der musizierenden Bewohner um sich herum vermittelten ihm ein Gefühl der Geborgenheit, wie er es selbst daheim bei seinen Eltern selten empfunden hatte. Wie selbstverständlich begann er ebenfalls mit den Füßen im Takt zu stampfen und die Melodie mitzusummen. Er war nun ein Teil dieser Gemeinschaft. Er gehörte dazu, war jetzt zu Hause.
Plötzlich schlug vor ihm etwas dumpf auf der Tischplatte auf. Erschrocken zuckte Shaun zurück, als der faustgroße, leuchtend rote Klumpen sieben Beine ausfuhr und unbeholfen zu strampeln begann.
»Eine Spinne!« Entsetzt sprang er auf.
»Hey Bruder, komm wieder runter.« Mooni streckte furchtlos die Hand nach der riesigen, kugeligen Spinne aus und half ihr, sich umzudrehen.
Das Tier zirpte leise und schmiegte sich zum Dank an ihre Hand. »Das ist Die siebenarmige Purzel. Die fällt dauernd aus den Zweigen.«
»Das ist eine ... Spinne!«
»Das ist eine harmlose Spinnmilbe, Angsthase.«
Zweifelnd betrachtete Shaun das rote Wesen. Gefährlich sah es ja nicht gerade aus, eher wie ein rotes Kuscheltier. Aber trotzdem ...
Mooni griff nach seiner Hand und zog ihn näher heran. »Jetzt hab dich mal nicht so. Eben hast du noch ihre Eier gegessen. Wir halten sie hier als Haustiere.«
Ihm wurde übel. Spinneneier? Er konnte das angewiderte Schütteln nicht unterdrücken. Das Tierchen auf dem Tisch gab einen weiteren Laut von sich und betrachtete Shaun aufmerksam.
»Ehrlich«, fuhr Mooni fort, »die leben hier zu hunderten überall in den Pflanzen um uns herum. Sie saugen an den Blättern und Zweigen und hemmen damit das Pflanzenwachstum. Sonst wäre der Dorfplatz vermutlich schon lange überwuchert. Außerdem kann man ihre Eier essen.«
Zögernd streckte Shaun einen Finger aus. Weit vorgebeugt berührte er das Tier vorsichtig mit der Fingerspitze.
Purzel hielt ganz still, gab nur ein leises und beruhigendes Schnurren von sich. Nun wurde Shaun etwas mutiger. Er strich mit der Hand über den weichen Flaum auf dem Kugelkörper. Die Spinnmilbe schien sich seiner Hand entgegenstrecken, das Schnurren wurde lauter. Es klang jetzt wie eine Katze.
»Sie mag dich!« Mooni lächelte ihn an.
Shaun setzte sich wieder neben der Freundin auf die Bank. Nun kraulten sie das Tier gemeinsam. Das merkwürdige Wesen auf dem Tisch genoss die doppelte Aufmerksamkeit sichtlich. Irgendwann warf es sich auf den Rücken und ließ sich von ihnen beiden seine Unterseite massieren.
Einige Zeit später - die Musik war längst verklungen – saßen Mooni und Shaun zusammengekuschelt auf einem Strohkissen am Rande des Platzes. Die kleine Spinnmilbe Purzel hatte es sich inzwischen auf dem Schoss des Jungen gemütlich gemacht und nuckelte liebevoll an seinem Daumen. Bürgermeister Walter erzählte den Leuten von seinen Plänen, mit dem Strom aus der Wärmepumpe ein elektrisches Kochfeld zu betreiben, als aus den umliegenden Pflanzen plötzlich ein Warnruf erscholl.
»ALARM! INSEKTEN KOMMEN!«