Fingerübung, Stichwort: «Wiedergutmachung»
Ein kurzer Ausschnitt aus dem Manuskript der Jugendbuchreihe «Das Kuratorium des Verfalls» (Buch 1:Kapitel 29)
"Ach, hör doch endlich damit auf!", Finn sah das Äffchen genervt an. Leise giggelnd saß das kleine Tier in unerreichbarer Höhe auf dem Bücherregal und schwenkte den entwendeten Stift. Finns letzten Stift. Alle anderen waren bereits im Laufe des Vormittags einer nach dem anderen verschwunden. Zuerst hatte der Junge gedacht, ihm wäre ein Stift unbemerkt zu Boden gefallen und unter ein Regal gerollt. Er hatte überall gesucht und nichts finden können. Dann war ihm wenig später eine verstohlene Bewegung im Augenwinkel aufgefallen. Als er sich rasch umgeblickt hatte, war der nervtötende Affe kreischend durch den Raum geflitzt, einen weiteren der Stifte in seinen Krallen schwenkend Er war auf ein Regal geklettert, hatte ihm von oben dann bettelnd die Hand hingehalten. Finn war direkt klar gewesen, was der Affe wollte. Allerdings hatte er keine Lust verspürt, sich auf dieses Machtspiel einzulassen. Er hatte das Tier ignoriert und weiter die alten Schriften durchgesehen, sich Notizen zur Stichworterfassung gemacht. Nach und nach waren allerdings immer weitere Stifte verschwunden, stets in der Hoffnung, sie gegen einen Hundekeks eintauschen zu können.
"Vielleicht sollte ich mir eine Kette besorgen", überlegte der Junge laut. "Dann könnte ich wenigstens einen Stift am Schreibtisch anketten."
Er zog einen Keks aus der Hosentasche und schwenkte in lockend.
"Oder vielleicht auch einen gewissen Affen irgendwo festmachen, damit er keinen weiteren Blödsinn anstellen kann."
Aufgeregt sprang das Tier oben auf dem Bücherregal herum. Es begann leicht zu schwanken. Jahrzehntealter Staub wirbelte auf und ein Regalbrett voller ledergebundener Bücher ächzte verdächtig. Zwei gerollte, uralte Folianten darunter kamen ins Rutschen, so dass Finn sich genötigt sah den Hundekeks fallen zu lassen und vorwärts zu springen. Er hatte jedoch nicht an das Gipsbein gedacht. Er stolperte und prallte nach einer halben Pirouette mit der Schulter gegen das schon schwankende Regal, bevor er auf dem Boden landete. Mit dem Gesicht im weichen Perserteppich vergraben rollte er sich zusammen und erwartete einen niedergehenden Bücherregen. Doch lediglich einige dicke Staubflocken schwebten sanft auf ihn hinab.
Finn wartete ängstlich noch einen Moment ab, blickte dann vorsichtig in die Höhe. Er musste unwillkürlich lachen. Oben auf dem Regal turnte emsig ein gut gelaunten Affe herum und schob ein noch halb herausragendes Buch zurück. Das Tier keckerte fröhlich, ließ sich neben dem Jungen auf den Boden fallen und griff nach dem herumliegenden Keks.
"Danke", sagte der Junge, an den Affen gewandt. Herr Fröhlich zwinkerte ihm verschmitzt aus orangen Augen zu und tippte gerade neugierig mit den Fingerspitzen an den Gips, als die Tür zur Bibliothek krachend aufgestoßen wurde. Finn und der Affe erschraken.
"Hey Finny, wir sind wieder daaaaha", posaunte Mick. In gespielter Empörung stemmte er die Hände in die Hüften und blickte auf den am Boden sitzenden Finn hinab. "Schläfst du hier etwa?"
Hinter Mick betraten Chris und Samuel den Raum.
"Obacht", sagte der alte Mann, und deutete auf den Affen. Herr Fröhlich hatte die kurze Ablenkung zu seinem Vorteil genutzt. Er bleckte nun ertappt die Zähne, noch immer eine Hand in Finns Hosentasche. Die Finger um einen weiteren Keks gekrallt zog er sie betont langsam hervor, beugte sich schützend über seine Beute und verschwand dann blitzartig hinter einigen Bücherregalen. Alle sahen dem Tier lachend nach.
Mick half Finn wieder auf die Beine. Dann zog Chris etwas kleines, schimmerndes hervor und hielt es Finn stolz hin. "Sieh mal, wir waren sogar erfolgreich."
Auf Chris Handfläche lag ein kleines Stück Bernstein. Der gelbbraune Brocken schien aus einer inneren Kraft heraus zu leuchten.
"Wahnsinn!" Finn beugte sich aufgeregt vor. Er sah Chris fragend an und nahm den Stein, als dieser zustimmend nickte. Prüfend hielt er ihn ins Sonnenlicht.
Mick blickte ihm dabei über die Schulter: "Den haben wir eben gefunden."
"Ich", korrigierte Chris, "Ich habe ihn gefunden."
"Ist ja gut, musst ja nicht gleich angeben", brummte Mick. "Ich werd´ meinen Stein auch noch finden."
Der alte Leuchtturmwärter schüttelte bei dem Geplänkel nur mit dem Kopf und schlurfte in die Küchenecke.
Finn reichte Chris den Bernstein zurück. "Ich habe eben noch etwas darüber gelesen. Jetzt begreife ich langsam, warum Samuel euch zuerst mit den Anhängern ausstatten will."
"Sie dienen unserem Schutz", sagte Chris.
"Und als Waffe gegen Krähen und Ratten", ergänzte Mick.
Finn nickte. "Ich bin beim Erstellen des Verzeichnis bei den Buchstaben A und B noch nicht wirklich weit, aber über Amber und Bernstein habe ich eben ein paar wirklich interessante Passagen gefunden. Manches ist ziemlich schwer zu lesen, und einige Texte muss ich erst noch richtig übersetzen. Die Menschen vor 300 Jahren hatten eine wirklich blumige Art, sich auszudrücken. Was aber immer wieder erwähnt wird, ist die Anmerkung, dass es unbedingt der erste Sonnenstrahl des Morgens sein muss, der im Bernstein konserviert wurde, damit der Stein gegen den Verfall wirken kann."
"Und das teste ich heute Nacht aus", erscholl Samuels warme Stimme aus der Küche.
"Warum können wir denn nicht dabei sein?", nörgelte Mick.
"Weil es gefährlich ist. Ich kann nicht auf euch alle gleichzeitig achten, wenn erneut eine größere Gruppe Manifestationen auftaucht."
Mick blickte schmollend zum alten Leuchtturmwächter, doch Chris stupste ihn an: "Wir suchen dir gleich ebenfalls einen Stein. Vielleicht haben wir dann morgen schon unsere Anhänger."
Der große Junge nickte zufrieden. "Dann können wir ja bald jagen gehen."
Finn sah etwas bekümmert drein. "Und ich? Bekomme ich keinen Stein?"
Da trat Samuel mit einer dampfenden Tasse zu den Jungen. "Sobald du wieder richtig laufen kannst, suchen wir ebenfalls einen. Aber bis dahin ist es Nachts draußen viel zu gefährlich für euch alle. Ohne den Schutz hätten die Manifestationen leichtes Spiel."
Finn seufzte resigniert.
"Und ich dachte, dich würden die Bücher hier begeistern." Samuel sah ihn fragend an.
Finn nickte.
"Denk dran, Feldforschung und so. Indiana Jones hatte nie einen Gips", feixte Mick.
"Du bist manchmal wirklich ein echter Blödmann", antwortete Finn.
Als Mick den kleinen Jungen finster ansah und drohend eine Faust hob, fiel ihm von oben ein Kugelschreiber auf den Kopf.
"Aua!" Er blickte sich verwirrt um.
Finn warf lachend einen Hundekeks in die Höhe und das Äffchen verschwand giggelnd mit seiner Beute.
"Das hat weh getan!", schimpfte Mick.
Finn, noch immer lachend, hielt seinem Freund einen Hundekeks hin: "Möchtest du eine kleine Wiedergutmachung?"
Doch Mick ignorierte ihn. Er rieb sich den Kopf und suchte mit grimmigen Blicken nach Herrn Fröhlich.
"Jungs, wir sollten wieder los", trieb Samuel Chris und Mick an. Ich kenne noch ein paar Strandabschnitte, wo wir mit Glück etwas finden könnten.