CN: Insekten, Trauer, Verlust
☣Last Kids Standing☣: Kapitel 7
Nachdem der erste Schrecken überwunden war, blickte Shaun sich erstaunt um. Er hatte instinktiv erwartet, dass die Menschen nach dem Warnruf der Wachen kopflos durch die Siedlung eilen würden. Er hatte verzweifelte Rufe und wilde Panik erwartet. Doch das genaue Gegenteil war der Fall. Grimmige Entschlossenheit lag in den Gesichtern der Bewohner, die nun zügig und routiniert die Siedlung sicherten.
Die jüngeren Kinder wurden in eine stabile Hütte geführt und diese zusätzlich mit Brettern verschlossen. Bürgermeister Walter teilte lange Stangen an eine geduldig wartende Gruppe aus. Niemand sprach ein überflüssiges Wort. Doch jeder hier strahlte diese kompromisslose Härte aus, die Shaun bisher nur aus Dokus über Kriegseinsätze kannte. Das waren die Gesichter von Soldaten, die bereit waren zu kämpfen. Krieger, im Angesicht des möglichen Todes. Eben hatte Shaun noch mit diesen lieben Menschen gelacht und gescherzt, gegessen und musiziert, hatte sich wohl und behaglich gefühlt. Jetzt waren diese ach so normalen Menschen plötzlich zu gnadenlosen Kämpfern geworden. Innerhalb eines Wimpernschlags. Diese neue Welt hatte das aus ihnen gemacht. Sie hatte ihre Bewohner so werden lassen. So Hart, so entschlossen. Bereit zu kämpfen und notfalls auch das eigene Leben zu geben, um die anderen zu retten.
Er hatte sich ebenfalls verändert, dachte Shaun. Auch er war hart geworden, hatte sein Leben für Mooni riskiert und sie damit gerettet. Aber was konnte er jetzt tun? Er wusste ja noch nicht mal, was da auf sie zukam.
Mooni zog ihn energisch am Arm hoch. »Was sitzt du hier rum und träumst? Wir müssen zu Keith.«
»Zu wem?«
Er war zum Umfallen müde und fühlte sich mit der Situation völlig überfordert. Mit Entsetzen wurde ihm klar, dass er hier nicht als Beobachter sitzen bleiben konnte, sondern handeln musste. Im Gegensatz zu allen anderen hatte er nur nicht den geringsten Plan, wie er hier helfen konnte.
Mooni zog ihn in Richtung der Palisade. Willig stolperte er ihr nach. Immerhin sie schien ein Ziel zu haben.
»Wir müssen Keith losmachen«, erwähnte sie nun bereits zum zweiten Mal den unbekannten Namen.
»Wer is’n das?«, wollte er wissen, bevor er im Halbschatten über einen Stein stolperte. Es gelang ihm gerade noch, sich abzufangen. Mooni sah ihn nicht einmal an und lief entschlossen weiter.
Am Rande der Siedlung angelangt blieben die beiden vor der eindrucksvollen Palisade stehen. Meterhoch ragten die angespitzten Holzpfähle hier in die Nachtluft auf. Mooni mühte sich mit einem Querbalken ab, der eine kleine Außenpforte verriegelte.
»Na wer soll das schon sein«, nahm sie den Faden wieder rauf, »Keith ist mein Reittier.«
»Ich dachte, der Tausendfüßler heißt flitzende Gurke?«
Shaun sah sie fragend an.
»Ach Holzkopf, grübel nicht so viel rum. Hilf mir lieber mal«, knurrte sie, während sie die Füße in den Boden gestemmt am Holzbalken herumzerrte.
Hinter Shaun wurden warnende Rufe laut. Er blickte sich kurz um, als er nach dem widerspenstigen Balken griff.
Die ersten Leute standen am gegenüberliegenden Dorfende und stießen immer wieder mit den Stangen nach oben. Sie schienen dunkle Schatten von der Palisade herunter und zurück in die Nacht zu befördern.
Gemeinsam schafften die beiden Kinder es, die verklemmte Verriegelung zu lösen.
»Ist das eigentlich nicht ziemlich blöde, hier einen Eingang für die Angreifer zu öffnen?«, fragte er, als Mooni ächzend die kleine Öffnung aufstieß.
»Bullshit! Es geht um Keith!«, fauchte sie erbost zurück.
Von dem gutgelaunten Mädchen war gerade nichts mehr zu spüren. Ihre Augen verschossen Blitze, als sie ihn anfunkelte.
»Komm mit oder bleib hier, aber steh mir gefälligst nicht im Weg!«
Energisch zwängte sie sich durch die Pforte und verschwand in der Dunkelheit des Urwalds. Wenn er sie nicht verlieren wollte, musste er ihr rasch nach.
Als Shaun sich durch den niedrigen Eingang bückte, erklang hinter ihm ein mitleiderregendes Zirpen. Ein roter Schatten kam über den Boden geflitzt und sprang ihn an. Purzel! Die kleine Spinnmilbe krabbelte flink an seinem Bein hoch. Noch bevor er wusste, wie ihm geschah, war das flauschige Tierchen unter sein Shirt gekrochen. Es schmiegte sich schnurrend an seinen Bauch.
Shaun seufzte. Dann sollte sie halt dortbleiben. Jetzt musste er Mooni allerdings schnell folgen.
Hinter zwei riesigen Farnwedeln führte ein schmaler Pfad außen an der Palisade entlang. Das wenige Licht der elektrischen Beleuchtung aus der Siedlung beschien die Pflanzen, hoch über seinem Kopf. In dem schwachen Schein konnte er dem ausgetretenen Weg entlang der hölzernen Wehrmauer folgen.
Hinter einer Biegung erreichte er eine überraschend große, freie Fläche. Ein Zaun umgab das gesamte Areal, auf dem sich zahlreiche große Insekten in Verschlägen tummelten. Mooni befand sich am hinteren Ende des Platzes. Ihr Reittier war zu groß für einen dieser Unterstände, daher wand sich der Tausendfüßer fast an der gesamten Außenbegrenzung entlang. Als Shaun sie erreichte, legte Mooni dem riesigen Tier gerade das Geschirr an.
»Und was jetzt?«, wollte er von ihr wissen.
Doch er sollte nie eine Antwort auf diese Frage erhalten.
Mooni hatte sich gerade auf den Rücken des Tieres geschwungen und Shaun die Hand hilfreich entgegengestreckt, als über ihr ein schwarzer Schatten erschien.
Wie aus dem Nichts schwebte das Wesen lautlos herab. Shaun sprang zurück und stieß einen Warnruf aus - doch es war bereits zu spät.
Acht riesige, nachtschwarze Arme packten Mooni und rissen sie hoch, nahmen sie mit in die Dunkelheit.
»HUAAAAAAARGH!«
Hilflos stand Shaun auf dem Platz und brüllte mit emporgereckten Fäusten nach oben in das dunkle Blätterdach. Nichts regte sich dort. Lediglich Purzel gab leise, zirpende Laute von sich. Das arme Tier zitterte unter seinem Shirt.
Mooni war verschwunden.
Weg!
Verdammt!
Wie hatte das geschehen können?
Der Tausendfüßler Keith drehte sich zu Shaun. Traurig stupste er ihn an, hob seinen Kopf, als ob er nach Mooni suchen würde, und ließ sich dann wieder schnaufend auf den Boden sinken.
Verdammt! Irgendetwas musste er jetzt doch tun! Er würde Hilfe holen! Shaun rannte den Pfad zurück.
Schon als er sich der Öffnung in der Palisade näherte, konnte er die lauten Stimmen der Bewohner hören. Sie standen alle in der Dorfmitte versammelt. Einige stützten sich noch auf ihre Stangen, doch die Bedrohung schien vorbei.
»Mooni ist weg!«, stürzte Shaun auf sie zu.
Keuchend blieb er vor dem Bürgermeister stehen. Er stierte ihn verzweifelt an und wiederholte schwer atmend seine Worte: »Mooni ist weg. Etwas hat sie - nach oben gezogen - ist mit ihr verschwunden.«
Ächzend sank er auf die Knie. »Was soll ich denn jetzt machen?«
Walter Maschinski blickte bedauernd auf ihn herab. Er legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. »Mein Beileid.«
»Das waren diese Spinnen!«, rief eine Stimme aus der Menge.
»Ja, diese schrecklichen Viecher überfallen uns doch immer wieder«, empörte sich Hanna, »jemand sollte endlich etwas gegen sie unternehmen!«
»Genau!«, stimmte ihr jemand zu.
»Und was denn bitte?«, wollte ein anderer wissen.
Shaun hörte nicht weiter zu. Er blieb einfach auf dem Boden hocken, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte. Mooni war fort. Seine Mooni. Tot. Gefressen von einem dieser lautlosen, schwarzen Monster. Was sollte er denn jetzt noch hier? Sie war der einzige Mensch auf dieser Welt gewesen, dem ihm noch etwas bedeutet hatte. Ohne sie hatte sein Leben keinen Sinn mehr. Dumpfe Verzweiflung drohte ihn zu erdrücken. Erst seine Eltern, dann Mooni. Er wünschte, sein Herz würde jetzt einfach aufhören zu schlagen. Dann wäre der Schmerz endlich vorbei.
Plötzlich spürte er eine Hand, die ihm sanft die Tränen von den Wangen wischten. Schluchzend blickte er auf. Neben ihm auf dem Boden saß Erika, die alte Frau von vorhin. Wortlos legte sie einen Arm um ihn und zog Shaun zu sich heran.
Erneut brach er in Tränen aus. Die Frau strich ihm beruhigend über den Kopf, während er seinen Schmerz, den Kummer und die Verzweiflung in ihren Strickpulli fließen ließ.
Irgendwann versiegten seine Tränen. Mit einem letzten Schluchzer löste er sich von ihrer Schulter und blickte in zwei müde, rote Augen.
»Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst«, sagte Erika.
»Wie denn?«, schniefte er verzweifelt. »Mooni hat gesagt, Sie und Horst sind seit 57 Jahren verheiratet. Aber ich bin jetzt schon wieder allein!« Bei der Erwähnung ihres Namens rollte ihm erneut eine Träne über die Wange.
»Was wissen Sie schon, wie sie sowas anfühlt.« Trotzig sah er sie an.
Erika wischte seine Träne mit ihrem Ärmel fort, bevor sie antwortete: »Nicht nur du hast heute einen Verlust zu beklagen, weißt du.«
Etwas Feuchtes schimmerte in ihrem Augenwinkel. »Meinen Horst haben sie auch mitgenommen. Und außerdem wären es morgen bereits 58 Jahre gewesen. Morgen hätten wir unseren Jahrestag gehabt.«