Fingerübung, Stichwort: »grün«
Dies ist ein kurzer Ausschnitt, der während der Entwicklung des Rohmanuskripts »Die Baumflüsterin« entstand.
26. April, 2038
Der Hain, nördlicher brasilianischer Regenwald
Hallo Tagebuch! Ich bin Migi. Migi das Meerschweinchen sagt mein Freund manchmal, wegen meinem Lachen. Oder auch Miguella, aber so nennt er mich nicht. So hat mich meine Mutter genannt. Damals, bevor es geschah. Doch inzwischen ist alles anders. Heute lebt meine Mutter nicht mehr. Heute lebt fast niemand mehr, den ich noch von früher kenne. Und heute nennt mich auch niemand mehr Miguella. Wenn ich darüber nachdenke, heute lebt warscheinlich niemand mehr, der meinen Taufnamen noch kennt. Außer vielleicht Ana. Wenn sie sich noch daran erinnert. Aber das bezweifle ich. Viele haben beim Wandel ihre alten Erinnerungen eingebüßt. Auch mein Freund Gonzo nennt mich nur Migi. Wenn er mal mit mir redet. Doch das ist selten, denn er befindet sich die meiste Zeit im Gespräch mit Den Ahnen. Oftmals tagelang, so dass unsere Gnome ihn füttern müssen, damit er nicht verhungert. Denn Sie flüstern nur langsam.
Alles hat sich verändert. Und das ist das Werk Der Ahnen. Sie haben damals die schwere Entscheidung getroffen, die Veränderungen rund um den Globus in Gang gesetzt. Sie haben die Welt zu dem gemacht, was sie nun ist. Sie sagen, es wäre zu unser aller Wohl. Ich weiß nicht, ob Sie damit recht haben. Denn auch Die Ahnen sind nicht unfehlbar.
Meine Mutter ist wegen Ihnen gestorben. Und meine Freunde aus der Schule haben sich verändert. Jedenfalls alle, die den Wandel überlebt haben. Ana gehört dazu. Sie kommt manchmal noch hier vorbei, denn sie ist nun eine Botin. Oder wie man es zu Beginn abfällig nannte, eine Elfe.
Doch niemand ist so wie ich geworden, so dumm und borkig. Ich lebe nun in der Enklave, im Hain. Zusammen mit den anderen Trollen spreche ich mit Den Ahnen. Wir selbst nennen uns Baumsprecher. Denn nur wir können Ihre Worte vernehmen. Daher ist es wichtig, dass wir Ihre Wünsche und Gedanken den anderen mitteilen. All denen, die dort draußen leben und diese Welt weiter zum Wohl Der Ahnen verändern, vielleicht verbessern. Ohne uns wäre dies nicht möglich. Und natürlich der Hilfe der Elfen. Sie kommen dank ihrer Flügel schneller durch die Wälder und können als Boten die Worte Der Ahnen verbreiten. Überhaupt, inzwischen bedeckten Bäume wieder nahezu die gesamte Erde.
Aber ist dies alles jetzt besser als die alte Welt? Ich weiß es nicht. Doch ich hoffe es, schon für das Kind in mir. Und natürlich hoffe ich auch, dass mein Kind den Wandel überlebt. Darum schreibe ich dies alles nun auf. So wie meine Mutter mir ihre Gedanken und Erkenntnisse in den Tagebüchern hinterließ, bevor sie starb.
Seufzend setzte die Frau den Stift ab und sah sich verstohlen um. War das Geräusch dort ein brechender Zweig gewesen? Da hinten hinter dem Busch? Kam jemand? Gonzo vielleicht? Oder Roche, der Gnom? Er lief ihr in letzter Zeit häufig hinterher. Fast, als hätte er den Verdacht, dass sie etwas verbotenes tat. Naja nicht direkt verboten war Schreiben nicht, aber ungewöhnlich war es schon. Vermutlich konnte außer ihr kaum noch jemand Lesen oder Schreiben.
Langsam schob Migi die kleine Kladde in ihre Sammeltasche und erhob sich vorsichtig. Doch so sehr sie sich umsah, sie konnte niemanden entdecken. Damit blieb ihr Geheimnis vorläufig unentdeckt.
Erneut knackte ein Zweig. Diesmal hatte sie es genau gehört. Es kam von der Palme zu ihrer linken. Die Pflanze war dicht mit Kletterpflanzen bewachsen. Sie würden ihren Wirt in einigen Jahren soweit umwunden haben, dass die Palme letztendlich abstarb. Migi könnte sich mit den Pflanzen verbinden, mit ihnen reden, sie vielleicht umstimmen. Doch Die Ahnen würden diesen Eingriff nicht gutheißen. Sie wussten, was hier geschah. So wie Sie mit allen Pflanzen hier in ständiger Verbindung standen. Nur die Orchideen in den Wipfeln befanden sich außerhalb Ihres Wurzengeflechts. Sie waren frei. Ganz im Gegenteil zu allem anderen Bodengebundenen.
Die Ahnen wussten von den Kletterpflanzen hier und sie billigten es. Die Palme würde letztendlich absterben. So wurde sie wieder zu Humus, zu Dünger für die nachfolgenden Generationen. Ein ewiger Kreislauf. So mochten es Die Ahnen. Alles hatte seinen Platz in Ihrer Welt, war nützlich oder überflüssig. So wie die Menschen damals. Solche Dinge wurden geändert oder verschwanden gänzlich.
Es knackte ein drittes Mal.
Migi starrte angestrengt zur Palme. Sie glaube, im Grün der Kletterpflanze eine Bewegung zu erkennen. War dies ein Tier? Doch die Tiere bewegten sich lautlos. Sowohl die Jäger, um unentdeckt ihre Beute zu erreichen, als auch die Beutetiere, um möglichst nicht entdeckt zu werden.
Da schob sich ein Gesicht durch die Blätter. Ein grünes Gesicht. Große Hauer durchbrachen die Unterlippe, wiesen gen Himmel. Zwei braune, tief liegende Augen starrten sie kurzsichtig angestrengt an.
Migi atmete auf. Ein Arbeiter. Auch wenn er hier am Hein nichts zu suchen hatte. Anfangs wurden sie noch als Orks beschimpft und der Begriff war in vielen Köpfen haften geblieben.
»Miguella?« Zögernd trat er zur Gänze hinter dem Baum hervor. Seine Stimme klang unerwartet hoch, ein wenig heiser. Er war in alte, zerissene Leinen gekleidet. Sie bedeckten seine grünfleckige Haut nur notdürftig.
Aber die Stimme, sie kannte die Stimme. Womöglich aus ihrer Kindheit? Und auch die Augen kamen ihr bekannt vor. War das etwa...
Er musste es sein. Sein Körper hatte sich zwar beim Wandel in eine bullige, muskulöse Gestalt verändert, doch selbst die linkische Haltung und war noch die gleiche.
»Jose?«, stammelte die Frau verblüfft, bevor sie die knorrigen Arme reckte und ihre borkige, braune Wange freudig glucksend an die Schulter ihres alten Kindergartenfreundes presste.