„Was wird das, Tom?“
Unbehaglich beobachtete Hermine, wie Tom langsam den Ärmel ihrer Bluse hochrollte. Wie schon am Vortag hatte sie ihr Zimmer nicht verlassen, sondern sich von Tom mit Essen und Hausaufgaben versorgen lassen. Als er sie heute kurz nach dem Aufstehen aufgesucht hatte, hatte er anders gewirkt als zuvor.
Entschlossener.
„Ich habe ein vorzeitiges Weihnachtsgeschenk für dich, mein Herz“, erklärte er, nachdem er den Ärmel soweit gerollt hatte, dass ihr Unterarm mit dem Dunklen Mal frei war.
„Und das hätte nicht bis morgen warten können?“, hakte sie nach. „Morgen, da tatsächlich Weihnachten ist?“
Tom schüttelte den Kopf und legte ihr eine Hand auf die Wange. „Nein, mein Herz. Morgen müssen wir uns um die anderen Nichtsnutze in meinem Gefolge kümmern. Deswegen gehört der Tag heute ganz uns.“
Ein Zittern durchlief Hermine. Sie wusste nicht, ob sie bereit war, den anderen wieder unter die Augen zu treten. Inzwischen hatte Tom ihr erzählt, dass auch Black und Nott in den Plan gegen sie eingeweiht gewesen waren. Alle aus seinem Vertrautenkreis außer Abraxas hatten sich gegen sie verschworen. Egal, aus welchen Gründen sie mitgemacht hatten, alle hatten sich nicht daran gestört, dass sie vergewaltigt werden würde.
Sie konzentrierte sich wieder auf Tom, der nun seinen Stab hervorgezogen hatte. „Was für ein Geschenk hast du denn für mich?“
Er setzte sich betont langsam im Schneidersitz vor ihr aufs Bett. Sie spiegelte seine Position, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. Er wirkte angespannt, aber auch gelöster als die letzten beiden Tage. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass Tom tatsächlich erschüttert über das gewesen war, was ihr angetan worden war. Heute wirkte er nicht mehr so.
„Ich habe lange nachgedacht“, begann er, während seine freie linke Hand auf ihrem Oberschenkel zu liegen kam. „Du bist eine starke, intelligente Hexe. Aber ein Hinterhalt kann überall lauern. Sogar ich bin nicht davon ausgeschlossen. Ich habe Vorkehrungen getroffen, damit mich kein Gegner einfach so töten kann.“ Sie erschauderte unter seiner Berührung. Auch wenn Tom es nicht wusste, war ihr klar, wovon er sprach. „Du bist im Vergleich zu mir schutzlos. Ich kann und werde nicht zulassen, dass irgendjemand dir jemals wieder das antut, was Lestrange getan hat.“ Tom spuckte den Namen aus, als wäre es giftiger Abschaum.
Wieder fühlte Hermine diese Wärme, als sie sich kurz fragte, ob Tom sich ernsthaft um sie gesorgt hatte. „Es tut mir leid, dich enttäuscht zu haben“, flüsterte sie.
Augenblicklich legte er ihr zwei Finger unters Kinn und hob ihren Kopf. „Nein. Entschuldige dich nicht. Ich habe den Fehler gemacht. Ich habe die Dummheit meiner engsten Vertrauten unterschätzt. Du hast deine Sorge geäußert und ich habe sie weggewischt, weil ich dachte, dass du es mit jedem aufnehmen kannst. Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie alle sich gegen dich verschwören würden. Gegen mich verschwören würden. Das war mein Fehler.“ Grimmig presste Tom seine Kiefer aufeinander und schüttelte den Kopf. „Genug davon. Ich werde diesen Fehler nie wiederholen. Ich werde nie wieder irgendjemandem vertrauen oder denken, dass irgendjemand versteht, was meine Ziele sind, wenn ich es nicht überdeutlich ausbuchstabiere.“
Einem Impuls folgend beugte Hermine sich vor und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Abraxas hat dich nicht betrogen, Tom.“
Kurz fuhr er sich mit den Fingerspitzen über die Lippen, als könnte er nicht glauben, dass sie ihn von sich aus geküsst hatte und keinerlei sexuelle Leidenschaft dahinterstand. Beinahe hätte Hermine über seine Verwirrung gelacht, doch der Moment verfolg schnell. Mit einer wegwerfenden Handbewegung entgegnete er: „Weil er ein naiver Trottel ist. Moralisch rechtschaffend, so dass nicht nur ich mich frage, warum er ein Slytherin ist.“
„Zeichnen sich Schüler aus Slytherin nicht dadurch aus, dass sie loyal zu denen sind, denen sie wirklich vertrauen?“, forderte Hermine ihn heraus.
Doch Tom rollte nur mit den Augen. Seine freie Hand umschloss ihr entblößtes Handgelenk und hob ihren Arm etwas an. „Ich habe die letzten beiden Tage darüber nachgedacht, wie ich dich in Zukunft schützen kann. Wie ich dafür sorgen kann, dass du auch dann in Sicherheit bist, wenn ich nicht da bin.“
Ein Schauer rann Hermine über den Rücken. Tom hatte offenbar unbewusst seinen dunklen Tonfall angeschlagen, den er normalerweise nur nutzte, wenn er sie verführen wollte. Angespannt leckte sie sich über die Lippen.
„Am Ende bin ich auf eine Lösung gestoßen, die mir von Anfang an hätte einfallen müssen“, fuhr Tom fort. „Du trägst bereits das Dunkle Mal. Es ist mein Mittel, um mit euch zu kommunizieren. Wenn ich es berühre, egal ob meines oder eines von euch, wisst ihr, dass ich euch rufe. Ihr wisst, wo ich bin.“
„Bisher hast du es nicht genutzt“, warf Hermine ein. Sie konnte sehen, wohin das führte, doch sie konnte es nicht glauben. Sie konnte nicht glauben, dass Tom Riddle so etwas für sie tun würde.
„Es hat nicht viel Funktion hier in Hogwarts“, meinte er schulterzuckend. „Wir sind ja alle hier versammelt und ich kann jederzeit mündlich sagen, dass ein Treffen ansteht. Aber sobald wir Hogwarts verlassen, wird es nützlich sein. Für dich jedoch“, sein Blick wanderte hoch und fixierte sie eindringlich, „für dich wird es ab jetzt anders sein.“
Er hob seinen Zauberstab und presste ihn auf ihr Mal. Zischend sog Hermine die Luft ein. Ein heißes Kribbeln wanderte über ihre Haut, während Tom konzentriert, aber lautlos seine Magie in ihren Arm fließen ließ. Es war nicht unangenehm oder gar schmerzhaft wie damals, als sie das Mal eingebrannt bekommen hatte. Stattdessen fühlte es sich an, als würde sie jemand an einer besonders angenehmen Stelle kraulen und dadurch all ihre Haare zu Berge stehen lassen.
Ein genüssliches Seufzen kam ihr über die Lippen, als Tom seinen Stab wieder von ihr nahm. Sie hatte das genossen, was auch immer genau er getan hatte. Mit glänzenden Augen schaute sie ihn an.
„Du wirst ab jetzt so wie ich das Mal benutzen können“, erklärte Tom ihr. „Berühre es, egal ob mit deinem Stab oder mit einem deiner Finger, und denke die Namen jener, die du rufen willst.“
Obwohl sie geahnt hatte, dass dies der Zweck war, klappte Hermines Mund auf. Tom hatte ihr gerade die Macht gegeben, die Todesser zusammen zu rufen. Er hatte sie wieder ein Stück mehr auf seine Stufe gehoben. Sie blinzelte. „Das ist … in der Tat ein außergewöhnliches Weihnachtsgeschenk. Danke, Tom. Ich weiß, was für ein großer Schritt das für dich war. Ich werde dafür sorgen, dass du es nicht bereust.“
„Ich weiß“, erwiderte Tom schlicht.
Immer wieder fuhr Hermine mit ihren Fingerspitzen über ihr Dunkles Mal. Sie konnte die Unebenheit darunter spüren, wo Bellatrix vor inzwischen so langer Zeit die Buchstaben Schlammblut in ihren Arm geritzt hatte. Das Tattoo verbarg diese Narbe fast vollständig. Sie hatte es anfangs gehasst, das Mal zu tragen, ebenso wie sie die Worte auf ihrem Arm gehasst hatte. Es war ein dauerhaftes Mahnmal, dass sie nun zu den Todessern gehörte. Dass sie immer weniger Hermine, die beste Freundin von Harry und Ron, war. Dass sie immer mehr Hermine, die Partnerin an der Seite von Voldemort, war.
„Mein Herz“, zog Tom ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Was geschehen ist, ist unverzeihlich. Ich werde dafür sorgen, dass Lestrange und alle anderen bestraft werden. Doch wenn ich darüber hinaus etwas tun kann, damit es dir besser geht, bitte, sage es mir.“
Überwältig ließ Hermine sich nach vorne fallen und schlang ihre Arme um Tom. Sie konnte nicht glauben, was sie hörte. Er klang aufrichtig. Er sagte die Dinge, die ein normaler Freund zu seiner Freundin sagen würde. Er wirkte so sehr wie ein normaler, siebzehnjähriger Junge, dass sie nicht mehr wusste, ob dies alles wirklich geschah.
Tom erwiderte ihre Umarmung. Seine Arme legten sich um ihre schmalen Schultern und zogen sie eng an seine Brust, bis sie auf seinem Schoß zu sitzen kam. Seine linke Hand lag auf ihrem Rücken, während seine rechte ihr immer wieder über die Wangen, den Nacken und den Kopf strich. Als wollte er sie beruhigen. Als wüsste er, dass körperliche Nähe ihr guttat.
„Er hat sich einfach genommen, was er wollte“, platzte es aus Hermine heraus. Sie hatte die letzten beiden Tage kaum wirklich erzählt, was geschehen war. Was sie dabei gefühlt hatte. „Er hat gesagt, er will mich befreien. Er dachte, ich WILL das.“
Toms Hand fuhr beruhigend über ihre Wange. „Er hat keine Ahnung, was Hexen wollen. Und erst recht nicht, was eine Hexe wie du will.“
Hermine spürte, wie die Kälte der Angst sich wieder in ihr breit machte. „Er meinte, es sei keine Vergewaltigung, weil ich es will.“
Er packte sie an beiden Schultern und schaute ihr direkt in die Augen. „Rufus Lestrange ist ein verblendeter Zauberer, der sich für intelligent hält. Du bist ihm weit überlegen, Hermine. Nichts von dem, was er sagt, ist richtig. Hör niemals auf irgendetwas, was er zu dir sagt.“
Hermine erwiderte seinen Blick, doch sie schüttelte den Kopf. „Darum geht es nicht, Tom. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst, aber … ich habe jetzt einfach wieder gemerkt, dass ich nichts tun kann, wenn ein Mann meinen Körper will. Ich fühle mich einfach so wehrlos. Als hätte ich keine Kontrolle.“ Unwillkürlich schluchzte sie auf. Das Gefühl der absoluten Machtlosigkeit hatte sich tief in ihr verankert. „Ich kann mich nicht wehren, Tom. Es ist, als wäre ich in dem Moment kein Mensch. Als wäre mein Wille irrelevant. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sich das anfühlt.“
Tom drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich weiß genau, was du meinst, mein Herz. Es fühlt sich an, als würdest du nicht zählen. Als würdest du jeden bewussten Moment deines Lebens damit verbringen, auf dünnem Eis zu laufen. Du weißt, dass du nicht kontrollieren kannst, ob es einbricht. Vielleicht wird es einbrechen, vielleicht nicht. Du kannst nichts daran ändern. Du versuchst, vorsichtig zu laufen, aber du brichst ein. Du kämpfst dich an die Oberfläche zurück und beschließt, die Angst abzulegen und mit entschlossenen, schnellen Schritten voranzugehen, aber du brichst wieder ein. Du kannst das Eis nicht kontrollieren. Du wirst immer nur verlieren.“
Während er gesprochen hatte, bemerkte Hermine, wie verbittert er klang. Als ob er tatsächlich wusste, wie es sich anfühlte. Sie legte ihrerseits eine Hand auf seine Wange. „Und was sollen wir dann tun?“
Ein kaltes Grinsen erschien auf seinen Lippen: „Zerstöre das Eis, lerne schwimmen und sorge dafür, dass das Feuer, das in dir lodert, niemals erlischt.“
Hermine stockte der Atem. Es ergab so viel Sinn. Wie oft schon hatte sie über Toms furchtbare Kindheit nachgedacht und verstanden, dass alles dort seinen Anfang genommen hatte. Doch jetzt, nachdem sie selbst das Gefühl der absoluten Machtlosigkeit kennengelernt hatte, verstand sie es endlich wirklich. Tom hatte nie gelernt, wie es sich anfühlte, über das eigene Leben bestimmen zu können, also suchte er Kontrolle auf Wegen, die falsch waren. Wege, die andere zerstörte und für ihn selbst mehr als ungesund waren.
Aber sie verstand ihn. Verstand ihn so gut.
„Wenn du sagst, lerne schwimmen“, nahm sie den Faden auf, „was meinst du damit?“
„Der Narr fürchtet das dünne Eis, weil er Angst hat zu ertrinken“, spann Tom das Bild weiter. „Der Narr weiß nicht, dass es möglich ist zu schwimmen.“
„Und wenn alle Menschen Narren sind, zu blind, ihre Möglichkeiten zu sehen…“, führte Hermine den Gedanken weiter.
„Dann heißt es, dass ich etwas tue, was alle anderen für unmöglich halten.“
Hermine wusste, was Tom meinte. Er hatte Horkruxe erschaffen, um unsterblich zu werden, etwas, was selbst für Hexen und Zauberer unmöglich erschien. Doch natürlich konnte Tom nicht wissen, wie viel sie über seine Horkruxe wusste. Also spielte sie sein Spiel weiter mit. „Etwas, was alle für unmöglich halten?“
Seine Mundwinkel zuckten. „Zerbrich dir darüber nicht dein hübsches Köpfchen, Hermine. Ich werde es dir erzählen. Zur rechten Zeit.“
Genervt stieß sie die Luft aus. „Und jetzt ist nicht die rechte Zeit?“
Nachsichtig lächelte er sie an: „Nein. Denn heute geht es um dich, nicht um mich.“
Etwas hilflos zuckte Hermine mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht. Ich hab mein ganzes Leben daran geglaubt, dass andere Menschen Respekt haben für andere. Ich weiß natürlich, dass Mobbing und Diskriminierung geschehen. Ich habe das selbst am eigenen Leib erfahren“, erklärte sie, während sie ihre Finger ineinander verknotete. „Aber ich dachte, dass die meisten nicht soweit gehen würden, dass sie anderen körperlich schaden. Das letzte Jahr … schon bevor ich hergekommen bin, hab ich gemerkt, dass das ein Irrglaube war. Lestrange hat den letzten Nagel in diesen Sarg geschlagen, der meinen Glauben an die Menschheit begraben hat.“
Mit beiden Händen umschloss Tom ihr Gesicht. „Und doch hast du es in dir, in dieser Situation poetische Metaphern zu finden. Du bist stark, Hermine. Du wirst aus diesem Vorfall lernen und noch stärker daraus hervorgehen.“
Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und streichelte mit beiden Daumen über ihre Wangen. Hermine spürte, wie die angstinduzierte Kälte in ihr schmolz. Sie wusste, dass Tom recht hatte. Bisher hatte sie es noch immer geschafft, sich aus eigener Kraft wieder hochzuziehen. Als Dolohow sie im fünften Jahr beinahe umgebracht hatte. Als Dumbledore im sechsten Jahr ermordet worden war. Als Bellatrix sie gefoltert hatte. Als Ron sie und Harry im Stich gelassen hatte. Sie hatte sich nie davon abbringen lassen, ihren Weg weiter zu gehen.
Und sie würde nicht zulassen, dass ein schleimiger Rufus Lestrange das gelingen würde.