Er musste Ruhe bewahren und nachdenken. Wenn er wollte, dass sein Plan funktionierte, mussten alle Spielfiguren zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Gleichzeitig konnte er es sich nicht leisten, Zeit zu verlieren, da er noch vor Weihnachten seinen Standpunkt klarmachen wollte.
Niemand außer Rufus Lestrange verdiente es, an Tom Riddles Seite zu stehen und als ebenbürtig zu gelten.
Entschlossen zog er die Vorhänge seines Himmelbettes um sich und legte Pergament und Feder auf das Bett. Wenn er vorankommen wollte, musste er endlich ernsthaft planen.
Er wusste, dass Abraxas auf seiner Seite stand, auch wenn es offensichtlich war, dass dessen Gefühle für Dumbledore ihm in Weg standen. Wenn er etwas gegen sie unternehmen wollte, musste er dafür sorgen, dass Abraxas nichts davon mitbekam. Dazu brauchte er eine Ablenkung.
Nachdenklich starrte Rufus auf das Pergament mit allen Namen. Er hatte sich eine Liste angelegt, auf der er alle Schüler, die in irgendeiner Form nützlich sein könnten, notiert hatte. Langsam ließ er seinen Blick über die Reihen gleiten, bis er schließlich an einem hängen blieb.
Orion Black.
Der Junge war der jüngste in der Gruppe und war erstaunlich leicht zu manipulieren. Obwohl er in Toms engeren Kreis aufgenommen worden war, hielt ihn etwas zurück. Es war für Rufus ein Leichtes gewesen, herauszufinden, warum Orion plötzlich von dem jungen, engagierten Schüler zu einem schüchternen, verunsicherten Anhänger geworden war. Auch hier war Hermine Dumbledore schuld. Sie hatte ihn verführt und dann abgewiesen, nur um ihm damit drohen zu können, Tom alles zu verraten. Seitdem hatte Orion Angst vor Tom und eine starke Abneigung gegen Dumbledore.
Grinsend zog er eine Linie von Orion zu Abraxas. Er würde den Jungen auf Abraxas ansetzen, damit der auf jeden Fall nichts mitbekam. Er war sich sicher, dass Orion nur zu gerne bereit war, Dumbledore Schaden zuzufügen.
Direkt über Orion stand ein anderer Name, der Rufus Kopfzerbrechen bereitete. Peter Nott. Auch er gehörte zu jenem Kreis, den Riddle in seine Zukunftspläne eingeweiht hatte. Selbst für einen Slytherin-Schüler war Nott ungewöhnlich verschwiegen. Dass er ebenfalls an eine Welt glaubte, in der die Muggle den Zauberern unterworfen waren, war beinahe alles, was Rufus über ihn wusste. Angestrengt kramte er in seiner Erinnerung. Hatte Nott jemals durchblicken lassen, dass er Dumbledore wertschätzte?
Er malte vorläufig ein Fragezeichen neben den Namen und widmete sich dem nächsten auf der Liste. Humphrey Avery. Wenn man ihm die Möglichkeit gab, würde er sich vermutlich ausführlich mit Dumbledore vergnügen. Er war der erste und bisher einzige gewesen, der versucht hatte, ihr Schaden zuzufügen. Damals hatte Tom eindeutig Partei ergriffen und die Ehre des Mädchens verteidigt.
Rufus legte seine Fingerspitzen aneinander und schloss die Augen. Er hatte ursprünglich geplant, Hermine einfach zu vergewaltigen. Es war die einfachste, effizienteste und angenehmste Form der Machtdarstellung. Vielleicht war das der falsche Weg. Sie war immer noch die feste Freundin von Tom Riddle. Selbst wenn sie ihm inzwischen egal war, würde er über diese Form der Ehrbeschmutzung hinwegsehen können? Selbst wenn er seine Anhänger testen wollte, um zu sehen, dass sie es in sich hatten, eigenständige Entscheidungen zu treffen, würde sich nicht gezwungen fühlen, die Aktion trotzdem negativ zu bewerten, da ansonsten sein Ansehen als Mann litt?
Vielleicht sollte er doch eher auf den Cruciatus zurückgreifen. Jeder aus dem engeren Kreis hatte den Fluch schon mal zu spüren bekommen, und genauso hatte Tom jeden von ihnen schon einmal aufgefordert, ihn zu sprechen. Bisher waren sie alle erfolglos gewesen. Offensichtlich war dieser Fluch wichtig für Tom. Oder es ging ihm nur darum, seine Mitverschwörer mundtot zu machen, weil sie einen verbotenen Zauber genutzt hatten und er somit etwas gegen sie in der Hand hatte. Was auch immer seine Intentionen waren, man konnte ihn mit dem Sprechen eines Unverzeihlichen offensichtlich beeindrucken.
Alleine würde er gegen Dumbledore vermutlich wenig ausrichten können. Sie hatte ihm in der Vergangenheit bewiesen, dass sie sehr schnell mit ihrem Stab sein konnte, und in dem Duell gegen Tom zu Beginn des Schuljahres hatte sie außerdem demonstriert, dass sie mehr konnte als bloße Zauber, die man im Unterricht lernte. Er musste sie überraschen, um sich seines Sieges sicher zu sein. In einem Duell gegen ihn hatte sie keine Chance, aber er riskierte zu viel Aufsehen mit einem langen Kampf. Er musste ihr den Zauberstab schnell und effektiv wegnehmen.
Ein Plan formte sich in seinem Kopf und plötzlich fielen alle Puzzleteile wie von selbst an die dazu gehörigen Stellen. Es war riskant, weil er Nott brauchte, doch wenn er in den nächsten Tagen geschickte Überzeugungsarbeit leistete, würde er auch diesen verschwiegenen Slytherin auf seine Seite ziehen können.
***
Nachdenklich starrte Hermine auf das offene Buch vor ihr. Sie hatte sich ursprünglich auf Alchemie gefreut, da sie zu ihrer Zeit in Hogwarts andere Prioritäten gehabt hatte, doch inzwischen bereute sie die Wahl. Anders als Astronomie, Zaubertränke oder Arithmantik, die alle eng verwandt waren mit der Alchemie, schien dieses Fach nur aus Theorie und Geschichte zu bestehen. So interessant es auch war, über die Anfänge der Alchemie in anderen Kulturkreisen zu lesen, so sehr langweilte sie sich doch.
Vermutlich war das der Grund, warum das Fach für alle Häuser gemeinsam unterrichtet wurde und sie die einzige aus Slytherin war, die es belegt hatte. Nicht einmal Tom, dessen Stundenplan ihrem sehr glich, hatte offenbar das nötige Interesse für diesen Kurs aufbringen können.
Dass Professor Selwyn darüber hinaus offensichtlich versuchte, sich das Leben so einfach wie möglich zu machen, dämpfte ihr Interesse weiter. Seit Beginn des Schuljahres war jede Stunde gleich abgelaufen. Er hielt einen zehnminütigen Vortrag über das Thema, danach verwies er sie auf das entsprechende Kapitel im Lehrbuch, welches sie eigenständig lesen und zusammenfassen sollten. Nicht zum ersten Mal überlegte sie, das Fach abzugeben. Lesen konnte sie auch in der Bibliothek.
Seufzend schaute sie zu dem Ravenclaw-Schüler hinüber, der stets neben ihr saß. Im Gegensatz zu ihr schien er den Unterricht zu genießen. Seine Feder glitt unablässig über das Pergament, beinahe lautlos, und er produzierte ein so ebenmäßiges Schriftbild, dass Hermine sich schon mehr als einmal gefragt hatte, ob er die Feder verzaubert hatte. Sie hatte noch nie ein Wort mit ihm gewechselt und bis heute wusste sie nicht einmal seinen Namen.
Mit einem kurzen Kopfschütteln rief sie sich innerlich zur Ordnung. Gute Noten waren in diesem Kurs leicht verdient, da die Aufsätze nie mehr als eine Zusammenfassung des behandelten Kapitels erforderten und somit alle Hausaufgaben schon im Unterricht erledigt werden konnten. Bisher hatte sie jede Woche ein O erhalten, was ihr auf dem Weg zur besten Schülerin sehr hilfreich war.
Sie richtete ihren Blick wieder auf das Buch. Die älteste bekannte Abhandlung über chinesische Alchemie ist das Chou-i ts’an t’ung ch’i, ein Kommentar zum I-Ching, auch als I Ging oder Yijing bekannt. Sie griff nach ihrer Feder und begann, den trockenen Text in noch trockeneren Worten zusammenzufassen. So interessant es auch war, dass die Alchemie in China sehr viel stärker auf Arithmantik basierte, der Schreibstil des Textes verdarb ihr die Lektüre. Das berühmteste Werk der chinesischen Alchemie ist Tan chin yao chüeh, ein Standardwerk, das vermutlich im 6. oder 7. Jahrhundert geschrieben wurde. Der Fokus liegt auf der Anwendung von Quecksilber bei der Herstellung eines Elixiers, das unsterblich macht.
Unwillkürlich wanderten Hermines Gedanken zu Nicolas Flamel. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, warum Flamel das Geheimnis um den Stein der Weisen mit niemandem teilen wollte. Es war nicht der Stein selbst, der ihn unsterblich machte, sondern das Elixier, das er mit Hilfe des Steins produzieren konnte. Wieso teilte er seinen Erfolg mit niemandem außer seiner Frau?
Nachdenklich tippte sie sich mit der Feder gegen die Lippen. Das erste Mal, das sie, Harry und Ron mit Voldemort in Kontakt gekommen waren, hatte auch direkt mit dem Stein zu tun gehabt. Damals hatte er ihn gesucht, weil er beinahe gestaltlos nach Wegen gesucht hatte, zu einem echten Leben zurückzukehren. Der Stein war am Ende zerstört worden, doch warum hatte Voldemort vorher nie auch nur versucht, Unsterblichkeit mit Hilfe des Steins zu erlangen?
Sollte sie Tom fragen?
Es wäre ein guter Aufhänger, um noch einmal Horkruxe ins Gespräch zu bringen. Sie wusste, dass sie ihn nicht davon abhalten konnte, weitere zu erschaffen – das würde die Zukunft verändern – aber vielleicht erfuhr sie mehr über seine Motive.
„Ist bei Ihnen alles in Ordnung, Miss Dumbledore?“
Die sanfte, tiefe Stimme riss Hermine so unerwartet aus ihren Gedanken, dass sie ihre Feder fallen ließ, die prompt mehrere große Tintenflecke auf ihrem Pergament hinterließ. Sie unterdrückte einen Fluch. Mit einem Schwenk ihres Zauberstabs ließ sie die Flecke verschwinden, ehe sie ihre Aufmerksamkeit ihrem Sitznachbarn schenkte.
„Jetzt habe ich es wohl nur schlimmer gemacht, das tut mir entsetzlich leid,“ murmelte der blonde Junge. Seine roten Wangen und unsicherer Blick unterstrichen, wie unangenehm ihm die Situation war.
Hermine schenkte ihm ein freundliches Lächeln, auch wenn sie mehr als genervt von der Störung war. „Machen Sie sich keine Sorgen, Sie hatten gute Intentionen, dafür danke ich Ihnen. Ich glaube, ich habe nie Ihren Namen erfahren?“
Die Röte in seinem Gesicht vertiefte sich. Für einen kurzen Augenblick erschien es Hermine, als wollte er ihr den Namen nicht verraten, doch dann sagte er sehr leise: „Selwyn. Jonathan Selwyn.“
„Oh“, entfuhr es Hermine, ehe sie sich stoppen konnte. Das war der Grund, warum er sich ihr nie vorgestellt hatte. Sie warf ihm ein aufmunterndes Lächeln zu und hielt ihm ihre Hand hin: „Angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Selwyn. Ich bin Hermine Dumbledore.“
Er ergriff ihre Hand und schien erleichtert, dass sie nichts zu seinem Namen sagte. Als hätte ihn das ermutigt, erklärte er von sich aus: „Alle anderen im Jahrgang wissen, dass ich der Neffe von unserem Alchemie-Professor bin. Das ist mir unangenehm. Insbesondere weil…“, er brach ab und warf einen Blick nach vorne. Hermine folgte seinem Blick. Er musste nicht aussprechen, was der Ravenclaw ihr sagen wollte. Sein Onkel war hinter einer Zeitung verschwunden und schenkte der Klasse keine Aufmerksamkeit.
„Ich glaube, ich verstehe Sie besser, als Sie denken“, bot sie ihm mit einem verschwörerischen Tonfall an. „Als Slytherin ist es nicht leicht, die Nichte von Professor Dumbledore zu sein. Er wird nicht gerade geschätzt.“
Selwyns Augen begannen zu leuchten: „Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Natürlich, Sie müssen sich vermutlich ähnlich viel Spott anhören wie ich.“
„Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft mir schon gesagt wurde, dass ich besser nach Gryffindor gehen sollte.“
Der blasse Junge erwiderte ihr Grinsen. Kurz überlegte Hermine, ob sie ihn in ein weiteres Gespräch verwickeln sollte, doch da hatte er sich bereits wieder seinem Text gewidmet. Entweder fand er Alchemie wirklich spannend, oder er war zu schüchtern, um ein längeres Gespräch mit ihr zu führen.
Ergeben griff sie nach ihrer eigenen Feder. Der Junge war der Inbegriff des strebsamen Ravenclaws. Vielleicht war das auch der eigentliche Grund: Weil sein Onkel so offensichtlich desinteressiert am Unterrichten war, wollte Selwyn doppelt beweisen, dass er zurecht in Ravenclaw war. Vorsichtig schielte sie nach vorne. Wenn der Professor nicht ab und zu eine Seite umgeblättert hätte, hätte man annehmen können, dass niemand hinter der riesigen Zeitung saß. Nicht zum ersten Mal fragte Hermine sich, warum es eigentlich keine Qualitätskontrollen für den Unterricht in Hogwarts gab.
Bevor sie sich noch weiter mit dem Text über Alchemie in China quälen musste, signalisierte das abrupte Zusammenfalten der Zeitung das Ende der Unterrichtsstunde. Erleichtert rollte Hermine ihr Pergament zusammen und stopfte es mit Buch und Feder in die Schultasche. Sie warf Selwyn noch ein kurzes Lächeln zu – und erstarrte.
Durch sein schüchternes Auftreten hatte sie ihn nicht erkannt, doch jetzt im Profil war es so offensichtlich, dass sie sich fragte, wie es ihr entgangen sein konnte.
Sie kannte Selwyn. Neben ihr saß ein Ravenclaw-Schüler, der eines Tages ebenfalls ein Todesser sein würde. Der Todesser, der für den Tod von Hedwig verantwortlich war. Und dem sie nur knapp entkommen waren, als Lovegood sie verraten hatte. Sie erinnerte sich genau an das Gesicht des alten Zauberers, wie er mit gezücktem Stab das Haus durchsucht hatte. Vermutlich war er es gewesen, der das Erumpentenhorn zum Explodieren gebracht hatte.
Sie zwang sich, nicht schneller als gewöhnlich aus dem Klassenraum zu gehen. Jonathan Selwyn war nett zu ihr gewesen. Er war noch kein Todesser, vermutlich würde er sich auch zu Schulzeiten nicht mehr Tom anschließen. Immerhin hatte der nie erwähnt, dass er Kontakte zu irgendjemanden aus Ravenclaw hatte. Der Junge hatte noch nichts getan.
Sie hatte nur eine kurze Pause, ehe sie zu Pflege magischer Geschöpfe weitermusste. Zu kurz, wie sie plötzlich empfand. Ihre Atmung war beschleunigt und sie konnte das Klopfen ihres Herzens im ganzen Körper spüren. Vor ihren Augen stapften die letzten Mitschüler die Treppe hinab, doch alles war verzerrt. Keuchend lehnte sie sich mit dem Rücken an die Steinwand, um dem plötzlichen Schwindel entgegenzuwirken.
Ein weiterer Todesser war mit ihr hier in Hogwarts.
Ein weiterer Zauberer, der in der Zukunft ihren Freunden schreckliches Leid zufügen würde.
Und sie vergnügte sich mit Tom Riddle, schmiedete Pläne mit ihm, log und betrog und half dabei, seine Anhänger an ihn zu ketten.
Wann hatte sie sich selbst so sehr aus den Augen verloren?