Eines musste Rufus Hermine lassen: Sie hatte sich innerhalb der wenigen Monate, die sie nun hier in Hogwarts war, deutlich bemüht, sich der Schülerschaft anzupassen. Ihr zuvor wildes Haar war in einer eleganten Frisur hochgesteckt, und auch ihre Kleidung zeugte inzwischen von so etwas wie Geschmack. Dass sie mit solcher Gelassenheit und Vertrautheit ihren Salon führen konnte, war ein Zeichen dafür, wie sicher sie sich ihrer Position war.
Sein Blick wanderte zu Beatrix, die in ein Gespräch mit einem Mädchen aus dem sechsten Jahrgang vertieft war. Als eine Tochter aus dem Hause Parkinson hatte sie alles, was man sich von einer Hexe wünschen konnte: Schönheit, Eleganz, Bildung und Anstand. Trotzdem konnte er nicht anders, als sie hoffnungslos langweilig finden. Er brauchte nicht sie, sondern ihren Namen, um Tom vom Thron zu stoßen.
Obwohl sie sich angepasst hatte, war Hermine Dumbledore noch immer so anders als alle anderen Hexen. Er spürte mehr als dass er wirklich beweisen konnte, dass sie noch etwas vor ihnen allen verbarg. Wie nahe stand sie Tom wirklich? Sie hatte es in so kurzer Zeit geschafft, ihm näher zu kommen als er selbst oder Abraxas jemals waren. So großspurig er sich auch vor Beatrix, Orion oder Abraxas gab, Rufus bezweifelte, dass es einfach nur daran lag, dass sie eine Frau war und deswegen bieten konnte, was sie als Männer nicht bieten konnten.
Ein fröhliches Lachen, das ungewohnt echt klang, ertönte von dem Tisch, an welchem sich Hermine gerade niedergelassen hatte. Sie war umgeben von Schülern aus dem fünften und sechsten Jahrgang, und ganz offensichtlich konnte sie diese jungen Zauberer problemlos unterhalten. Sie wirkten ausgelassen und sonnten sich in der Beachtung, die ihnen Hermine schenkte.
Als Auserwählte an der Seite von Tom war sie wirklich in einer machtvollen Position. Dass sie zudem die Nichte eines der Lehrer war, und aus Amerika stammte, machte sie nur interessanter. Im Gegensatz zum Anfang scheute sie sich offensichtlich nicht mehr, diese Position auszunutzen. War der erste Salon noch ihr verzweifelter Versuch gewesen, sich in die Gemeinschaft von Slytherin einzufinden, war der heutige Nachmittag ein deutliches Zeichen, dass sie sich nicht nur integriert hatte, sondern zu einer begehrten Person geworden war. Die Schüler sahen in ihr eine Möglichkeit, dem Schulsprecher näher zu kommen.
Darum bemüht, seine grimmigen Gedanken nicht zu zeigen, nahm Rufus einen Schluck aus seiner Teetasse. Er war von Anfang an auf Toms Seite gewesen. Seine Ideale, seine Zukunftsvision standen in absoluter Übereinstimmung mit dem, was er sich für die Zaubererwelt wünschte. Aber seit Beginn des Jahres war deutlich geworden, dass Tom nicht vorhatte, seine Macht zu teilen. Vielleicht war es Abraxas noch nicht wirklich klar, aber er wusste, wenn er Tom weiter unterstützen würde und sie tatsächlich diese Zukunft aufbauen konnten, dann würde Tom zum alleinigen Herrscher und sie nichts weiter als Spielfiguren.
Dazu war er nicht bereit. Er war ein Lestrange. Seine Familie war seit Generationen an der Spitze der englischen Zauberergesellschaft. Tom Riddle war ein Niemand, sein Name stand in keinem Geschichtsbuch. Er glaubte ihm, dass er Slytherins Erbe war, daran ließ die Kammer des Schreckens keinen Zweifel. Aber er hatte sich seine Position an der Spitze nicht verdient.
Von seinem Tisch aus beobachtete Rufus, wie Hermine sich von ihrem Platz erhob und die junge Männerrunde alleine ließ. Die Jungs warteten einen höflichen Augenblick ab, bis sie an einem anderen Tisch Platz genommen hatte, dann steckten sie die Köpfe zusammen und begannen, eifrig untereinander zu flüstern. Entschlossen fuhr sich Rufus durch seine dunklen Haare, deren Rotschimmer um Schein der vielen Kerzen noch betont wurde, und erhob sich seinerseits.
„Ich bin gleich wieder zurück, Beatrix, ich möchte nur ein paar Worte mit den Jungs aus den unteren Jahrgängen wechseln", flüsterte er seiner Begleitung zu. Das hastige Nicken von Beatrix sprach Bände. Sie war nicht traurig, dass er sie alleine ließ. Sie hatte Angst vor ihm, auch wenn sie das niemals zugeben würde. Das war gut.
Betont langsam schlenderte er zu dem anderen Tisch hinüber, als wäre es Zufall, dass er gerade diese Runde ausgesucht hatte. Er deutete eine Verbeugung an: „Darf ich mich zu Ihnen setzen, meine Herren?"
Augenblicklich verstummte das Flüstern und alle fünf Jungs nickten hektisch. Er setzte sich auf den Stuhl, auf dem zuvor Hermine gesessen hatte, und lehnte sich entspannt zurück: „Ich glaube, wir kamen bisher nie wirklich dazu, uns miteinander bekannt zu machen? Ich bin Rufus Lestrange."
Seine Aussage war natürlich eine Lüge, doch auch das gehörte zum Slytherin-Dasein dazu: Man gab dem Gegenüber das Gefühl, unwichtig zu sein, um ihn aus der Reserve zu locken. Innerlich amüsiert beobachtete Rufus, wie für einen kurzen Moment die Mienen von dreien der Schüler finster wurden, doch sie fingen sich schnell wieder.
„Ich bin Antonin Dolohow. Ich bin Treiber in unserer Hausmannschaft", knurrte ein Junge, der groß und breit war wie ein Schrank, sogar im Sitzen.
Rufus nickte ihm zu und lächelte: „Natürlich! Ich glaube, wir wurden einander nie offiziell vorgestellt? Würden Sie mir die Ehre erweisen, die übrigen jungen Männer hier am Tisch vorzustellen?"
Dolohow sah noch immer wütend aus, doch er kam der Aufforderung nach: „Das hier ist James Mulciber und neben ihm Gregory Rosier. Mir gegenüber sitzt Jonathan Higgs und daneben Jonas Macmillan."
Rufus nickte allen vorgestellten Schülern freundlich zu, aber nur Higgs und Macmillan erwiderten das Lächeln. Offensichtlich hatten die drei älteren Schüler verstanden, dass er absichtlich so getan hatte, als würde er sie nicht kennen, und hießen das nicht gut. Er beschloss, die drei vorerst zu ignorieren und sich näher mit den beiden jüngeren Schülern zu befassen: „Macmillan ist Ihr Nachname, richtig? Sind Sie mit Melanie Black verwandt?"
Mit leuchtenden Augen nickte der Junge: „Ja, sie ist meine Tante! Woher wussten Sie das?"
Innerlich rollte Rufus mit den Augen. War es für diese Zauberer wirklich so erstaunlich, dass er sich mit den Familienverhältnissen der Unantastbaren Achtundzwanzig auskannte? Statt seine Verachtung öffentlich zu zeigen, erklärte er: „Ich bin ein wenig mit Ihrem Cousin befreundet, Orion Black. Daher wusste ich, dass Melanie Black eine geborene Macmillan ist."
„Orion geht in unsere Klasse", mischte sich Higgs ein, der offenbar darum bemüht war, einen guten Eindruck zu hinterlassen.
„Also sind Sie alle im fünften Jahrgang?", hakte Rufus nach, obwohl er genau wusste, dass das auf die drei anderen Schüler am Tisch nicht zutraf.
„Nein", widersprach ihm Rosier direkt: „Dolohow, Mulciber und ich sind im sechsten Jahr. Aber da meine Familie schon seit Generationen mit der Macmillan-Familie befreundet ist, sind Jonas und ich miteinander bekannt."
Rufus unterdrückte ein Lächeln. Rosiers Familie gehörte ebenfalls zu den Unantastbaren Achtundzwanzig, war aber unter diesen eine der unbedeutenderen Familien. Sein Tonfall zeigte deutlich, wie verärgert er darüber war, dass ein Lestrange ihn einfach so nicht beachtete. Es war beinahe erbärmlich, wie leicht sich diese Slytherin-Schüler auf sein Spielchen einließen und verloren.
„Richtig", kommentierte er gelangweilt: „Sie Sie und Mr. Mulciber nicht auch Teil von Slughorns Club seit diesem Jahr?"
Dolohows Miene verzog sich zu einer wütenden Grimasse, doch sein Freund Rosier schien zu begreifen, dass sie gerade gewogen wurden: „Ganz richtig, wir hatten dieses Jahr das Vergnügen, zu zwei privaten Runden von Professor Slughorn eingeladen zu werden."
Anstatt darauf weiter einzugehen, wandte Rufus sich wieder an die beiden jüngeren Schüler: „Wie sind Ihre Noten in Zaubertränke? Wenn Sie sich gut anstellen, wird Professor Slughorn Sie beide nächstes Jahr vielleicht auch einladen."
Higgs schüttelte mit unzufriedener Miene den Kopf: „Jonas vielleicht, aber wir wissen doch alle, dass Slughorn nur Zauberer aus einflussreichen Familien einlädt."
Rufus konnte nicht glauben, dass dieser Junge ihm so offen erzählte, dass er keinen Einfluss hatte. Warum landeten dumme Menschen wie diese fünf in Slytherin? Hatte der Sprechende Hut etwa vergessen, was Slytherins wichtigste Prinzipien waren? Clever, verschlagen, dem Gegner immer einen Schritt voraus. Nichts davon traf auf irgendeinen der Anwesenden zu. Andererseits, so musste er sich eingestehen, traf das auch auf die Schüler in seinem Jahrgang selten zu. Außer Tom und ihm selbst war keiner wirklich würdig, in Slytherin zu sein. Statt sich seine Verachtung anmerken zu lassen, beschloss er, so zu tun als wollte er den Jungen aufmuntern: „So streng scheint Professor Slughorn die Sache aber doch nicht mehr zu sehen, oder was meinen Sie? Immerhin hat er dieses Jahr auch erstmals ein Mädchen eingeladen. Frauen haben in der Gesellschaft kaum Einfluss, trotzdem ist Miss Dumbledore sein Gast. Ich denke, Professor Slughorn legt inzwischen mehr Wert darauf, dass die Mitglieder fähige Köpfe sind."
Macmillan nickte heftig: „Genau das sage ich auch seit Wochen zu ihm! Aber er will mir nicht glauben. Aber wenn sogar Mr. Lestrange das sagt, Jonathan, dann stimmt es. Ganz bestimmt sogar."
Augenblicklich mischte Mulciber sich ein: „Oder es war nur eine Ausnahme. Antonin ist der beste in Verteidigung gegen die Dunklen Künste und in Zaubertränke gehört er auch an die Spitze. Keiner kann so gut duellieren wie er. Trotzdem wurde er nie eingeladen."
„Du musst das den hohen Herrschaften hier nicht so offen präsentieren", grummelte Dolohow, die Arme vor der Brust verschränkt.
Mit geheucheltem Interesse beugte Rufus sich vor: „Ich habe gehört, dass Ihre Familie ein paar eigene Flüche erfunden hat. Ist da etwas Wahres dran?"
„Familiengeheimnis", brummte Dolohow, „Wir verraten keinem unsere Zauber."
Macmillan, der sich offensichtlich der angespannten Stimmung bewusst war, wechselte zum vorigen Thema zurück: „Ich glaube nicht, dass es nur eine Ausnahme war. Miss Dumbledore ist gänzlich unbekannt hier in England, trotzdem wurde sie eingeladen."
„Er hat sie bestimmt nur eingeladen, weil sie die Freundin von Riddle ist", gab Rosier finster zurück: „Er wollte ihm bestimmt nur eine Freude machen."
Energisch schüttelte Macmillan den Kopf: „Nein, er hat sie eingeladen, bevor die beiden sich offiziell zueinander bekannt haben. Außerdem unterstützt er sie bei der Planung dieser Salons. Ich glaube, er sieht Potential in ihr."
„Sie scheinen ihr auch recht zugetan", warf Rufus unschuldig ein.
Die Reaktion war augenblicklich: Macmillan und Higgs hoben sofort abwehrend die Hände, während Rosier und Mulciber den Kopf schüttelten. Nur Dolohow blieb nach außen hin ungerührt: „Für ein Mädchen ist sie ziemlich clever. Man kann sich mit ihr unterhalten."
Nachdenklich rieb Rufus sich über das Kinn. Alle fünf waren offensichtlich eingenommen von Hermines Wesen, doch sie wussten, dass mehr als höfliches Interesse gefährlich war, weil sie Tom gehörte. War es zu spät zum Intervenieren? Die drei Sechstklässler jedenfalls begegneten ihm mit offensichtlicher Abneigung, obwohl er vermutete, dass da einfach nur Neid und Missgunst hinter steckte. Er war ein Lestrange und gehörte damit zu einer der einflussreichsten Familien. Obwohl die Familie Rosier auch zu den Achtundzwanzig gehörte, waren sie kaum mit den anderen mächtigen Familien wie Black oder Malfoy verwandt. Vielleicht war das der Ansatzpunkt von Tom. Als jemand, der ebenfalls keine mächtige Familie im Hintergrund hatte, war er für diese drei Jungen vielleicht interessanter, weil sie sich besser mit ihm identifizieren konnten. Oder weil sie bezweifelten, dass von ihm wirklich Gefahr ausging. Er wusste, dass Tom sie noch nicht in seine Pläne eingeweiht hatte, doch es konnte nur eine Frage der Zeit sein. Wären sie eventuell bereit, ihm zu folgen, weil sie dachten, dass er mit seinem unbedeutenden Namen niemals alleine an der Spitze stehen konnte? Würden sie darauf spekulieren, eine machtvolle Position neben ihm einnehmen zu können, die ein Mitglied der Achtundzwanzig ihnen nie gewähren würde?
Kurz schloss Rufus die Augen und besann sich. Jetzt war nicht die Zeit für solche Gedanken. Er sollte sich auf das Gespräch konzentrieren, um zumindest die jüngeren beiden Schüler auf seine Seite zu ziehen.
Freundlich lächelnd stimmte er zu: „Miss Dumbledore ist wirklich ausnehmend intelligent. Wussten Sie, dass sie genauso viele UTZ-Kurse belegt wie Tom?"
Higgs Augen wurden groß: „Wirklich? Ich habe gehört, dass Mr. Riddle acht UTZ-Kurse belegt hat. Das hat mich schon beeindruckt, aber dass ein Mädchen auch so viele belegt? Unmöglich!"
„Und doch ist es wahr", fuhr Rufus fort, „Außerdem belegt sie schwere Kurse wie Arithmantik und Zaubertränke. Und sie hat überall gute Noten."
Die Augen der beiden Fünftklässler wurden groß, doch die anderen drei schauten skeptisch drein. Selbstgefällig grinste Rufus. Natürlich würde kein Zauberer, der etwas auf sich hielt, zugeben wollen, dass ein Mädchen besser sein konnte als er. Es war schließlich Mulciber, der den erwarteten Kommentar brachte: „Ich bin mir sicher, sie hat beeindruckendes Talent."
Er erlaubte sich ein kurzes Lachen, ehe er den Jungen zurecht wies: „Ich glaube nicht, dass wir über diese Aspekte von Toms Freundin sprechen sollten. Ihm würde das gewiss missfallen."
Er sah, wie die drei sich schnelle Blicke zuwarfen, ehe Dolohows Blick zu Hermine wanderte. Ein kalkulierender Ausdruck stand darin. Das war gut. Die Saat des Zweifels war gesät. Wenn sie erst einmal die Tugend von Hermine Dumbledore in Frage stellten, würde es vermutlich auch nicht allzu schwer werden, Zweifel an Toms Urteilsfähigkeit zu streuen.
Mit einem letzten freundlichen Lächeln verabschiedete er sich von der kleinen Runde und kehrte zu Beatrix zurück. Der Anfang war gemacht, nun musste er nur dran bleiben.