Toms Blick war mörderisch, als er die Halle betrat. Abraxas hatte ein zunehmend merkwürdiges Gefühl bekommen, je länger Orion seine Geschichte erzählt hatte, und als er jetzt Tom mit langen Schritten auf den Tisch zukommen sah, verstärkte sich dieses.
„Wo ist sie?“
Die Worte klangen gefährlich ruhig, während heißer Zorn in Toms Augen loderte. Verunsichert schaute Abraxas zu Orion, der jedoch bloß genauso eingeschüchtert wirkte wie er selbst. Zögerlich fragte er: „Wo ist wer?“
„Spar dir die Scharade, Malfoy“, fuhr Tom ihn an. „Wo ist Hermine?“
Abraxas erbleichte. Wenn Tom so aufgebracht war, dann war Hermine in ernsthafter Gefahr. Wieder schaute er zu Orion, der jedoch dieses Mal seinen Blick nicht erwiderte. Stattdessen schaute der Junge angestrengt auf seinen Schoß.
Mit einem Mal ergab alles einen Sinn.
„Orion Black“, zischte Abraxas leise, während er den jüngeren Schüler am Hemd packte. „Wo ist Hermine? Du bist Teil dieser Verschwörung, habe ich Recht? Deswegen hast du mich in dieses sinnlose Gespräch über deine Gefühle verwickelt. Wo ist sie?“, fragte er erneut mit Nachdruck. Der Zorn, der in Toms Augen stand, spiegelte sich in seinem Inneren. Er hätte sich schlagen können für seine Naivität. „Sprich, oder ich werde eigenhändig dafür sorgen, dass du den morgigen Tag nicht mehr erlebst.“
Tom, der offenbar verstanden hatte, dass Abraxas ebenso wenig wusste, was genau vor sich ging, baute sich auf der anderen Seite von Orion auf. Der sonst so freche Black sank in sich zusammen. „Ich weiß es nicht, ehrlich. Ich weiß nur, dass ich dich hier ablenken sollte, Abraxas. Bitte, glaube mir, mehr weiß ich nicht.“
Fragend schaute Abraxas zu Tom, der jedoch nur nickte. Offenbar glaubte er Orion. Abraxas beugte sich vor, um leise, aber deutlich zu dem jungen Black zu sagen: „Du hast einen schweren Fehler begangen, Orion Black. Deine Teilnahme an dieser Verschwörung wird ein Nachspiel haben. Du warst töricht, dich von Tom abzuwenden. Du hast heute Schande über den Namen Black gebracht, und ich schäme mich, mit dir verwandt zu sein.“
Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, stand Abraxas von seinem Platz auf und drehte sich zu Tom. „Was geht hier vor, Tom? Warum ist Hermine verschwunden?“
Es war offensichtlich, dass sein einstiger bester Freund sich nur mühsam unter Kontrolle hatte. Noch nie hatte Abraxas ihn so außer sich gesehen. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er gesagt, dass Tom Angst hatte. Sein ganzer Körper war steif und seine Atmung ging zu schnell.
Als hätte er die Frage nicht gehört, stürmte Tom aus der Großen Halle. Tief verunsichert folgte Abraxas ihm. Wenn Tom so aufgebracht war, musste etwas Schlimmes geschehen sein. „Tom, warte!“, rief er ihm nach, kaum dass die Türen der Halle hinter ihnen zugefallen waren.
„Ich kann keine Zeit vertrödeln!“, entgegnete Tom, ohne sich zu ihm umzudrehen.
„Wo willst du denn hin?“, hakte Abraxas nach, während er versuchte, mit dem schnellen Tempo von Toms langen Schritten mitzuhalten. „Du hast doch gerade gesagt, dass du nicht weißt, wo Hermine ist.“
Ruckartig blieb Tom stehen und drehte sich zu ihm um: „Wenn du nichts Intelligentes beizutragen hast, dann lass mich in Frieden.“
Ohne sich von seinen Worten aus dem Konzept bringen zu lassen, legte Abraxas ihm beide Hände auf die Schultern. „Warum versuchen wir nicht, ihre Schritte nachzuvollziehen? Sie hatte heute Morgen eine Doppelstunde Alchemie. Lass uns zu dem Klassenzimmer gehen und schauen, ob wir dort fündig werden.“
Kurz schaute Tom ihn nur an, dann machte er auf dem Absatz kehrt und schlug den Weg Richtung Alchemie-Klassenzimmer ein. Mit einem inneren Seufzen folgte Abraxas ihm. Noch nie hatte er Tom so aufgelöst erlebt. So weit entfernt von rationalen, praktischen Gedanken. Toms Angst machte ihm Angst.
Und neben der Angst waren die Selbstvorwürfe. Er hatte doch selbst gehört und gesehen, wie Rufus etwas geplant hatte. Er hatte gewusst, dass Rufus sich an Hermine störte. Er hatte gewusst, dass Rufus etwas unternehmen wollte. Und er hatte dabei gesessen, ihm zugehört, ihn sogar unterstützt. In seinem Egoismus hatte er gehofft, dass er Hermine für sich haben konnte, wenn es Rufus gelang, sie und Tom zu trennen. Er hatte seinen ehemals besten Freund verraten, jenen Mann, dem er Treue geschworen hatte. Und er hatte das Mädchen, das er liebte, in Gefahr gebracht, weil er so blind gewesen war.
Grimmig verzog er seinen Mund zu einer scharfen Linie. Während er hinter Tom durch das Schloss hastete, ging ihm auf, wie sehr er sich von Rufus hatte einwickeln lassen. Er hatte doch gehört, wie abfällig er sich über Frauen geäußert hatte. Wieso war ihm nie in den Sinn gekommen, dass Hermine zu schaden kommen würde, wenn Rufus sie und Tom auseinander bringen wollte?
Er ignorierte die anderen Schüler, die ihm und Tom verwirrte Blicke zuwarfen, als sie kopflos durch das Schloss eilten. Er ignorierte auch die Rufe von Professor Selwyn, der sie daran erinnerte, dass der nächste Block gleich beginnen würde und sie beide ihre Schultaschen nicht dabei hatten.
Außer Atem kamen sie vor dem Klassenzimmer an. Der Gang war inzwischen verwaist. Als Tom die Tür öffnete, fanden sie nur gähnende Leere vor. Fluchend ließ Abraxas sich gegen die Steinwand fallen. Hermine war nicht hier und niemand war mehr da, der ihnen hätte Auskunft geben können.
Toms Hand zitterte, während er in den leeren Klassenraum starrte. Schweigen legte sich wie ein kaltes Grab über sie. Was sollten sie jetzt tun?
Ein leises Wimmern drang an Abraxas‘ Ohr. Augenblicklich stieß er sich von der Wand ab und trat in die Mitte des Ganges. Von wo war das gekommen? Tom, der das Geräusch offensichtlich auch gehört hatte, ließ von der Tür ab und drehte sich um. Bewegungslos verharrten sie, die Ohren gespitzt, die Stirn kraus gezogen.
Ein Schluchzen.
Abraxas kniff die Augen zusammen und schaute zu der Tür, die gegenüber von dem Klassenzimmer lag. Konnte die Lösung so einfach sein? Tom schien keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Er zückte seinen Zauberstab, richtete ihn auf die Tür und mit einem klauten Krachen explodierte sie in tausende Holzsplitter.
Schreie waren von drinnen zu hören und sofort hechtete Abraxas durch die zerstörte Öffnung. Das Bild, das sich im Inneren bot, ließ sein Herz stehenbleiben.
Auf dem Boden lag Hermine, die Beine weit gespreizt, und über ihr Rufus, der gerade mit großen Augen dabei war, seine Hose hochzuziehen. Auf einem Stuhl direkt daneben saß Avery, ebenfalls mit heruntergelassener Hose, der sein Gemächt in der Hand hatte.
Für einen Moment schien die Zeit stehen zu bleiben. Als wären sie alle eingefroren, starrten sie sich gegenseitig an. Selbst Tom, der eben noch so hektisch gewesen war, stand reglos neben ihm.
„Tom…“, drang da das tränenverschleierte Schluchzen von Hermine an sein Ohr.
Automatisch schaute Abraxas zu ihr und sein Herz brach. Sie sah plötzlich so klein und verletzlich aus. So vollkommen verängstigt.
Eine Bewegung aus dem Augenwinkel ließ ihn endlich aus seiner Erstarrung erwachen. Wie in Zeitlupe nahm er wahr, dass Tom seinen Arm mit dem Stab hob und auf Rufus richtete. Er öffnete den Mund und Abraxas ahnte, nein, er wusste, was gleich geschehen würde.
„Avada…“
„Nein!“, schrie er entsetzt auf und schlang beide Arme um Tom. Der Spruch wurde unterbrochen, doch Tom senkte den Arm nicht.
„Lass mich los, Abraxas“, forderte er mit eisiger Ruhe, ohne ihn dabei anzuschauen. Sein Blick war unverwandt auf Lestrange gerichtet.
„Nein, Tom, ich kann das nicht zulassen“, beharrte Abraxas, während er seinen eigenen Stab zog und auf Rufus richtete. „Ich kann nicht zulassen, dass du dein Leben zerstörst.“
Für einen Moment kämpfte er mit Tom, der ihn von sich stoßen wollte, doch dann gab der endlich nach. Er ließ den Zauberstab sinken und starrte zu Boden. Erleichtert schaute Abraxas zu Rufus und Avery, die beide inzwischen wieder angekleidet waren und sie verwirrt anschauten. Hatten sie wirklich nicht damit gerechnet, bei ihrer Tat erwischt zu werden?
Tom Riddle hatte selten das Gefühl, die Kontrolle über eine Situation zu verlieren. Er hasste dieses Gefühl und deswegen tat er stets alles, um es zu vermeiden. Jetzt gerade jedoch musste er sich eingestehen, dass er keinerlei Kontrolle mehr hatte. Weder über sich, noch über Lestrange oder über Hermine. Sie alle hatten Dinge getan, Dinge zugelassen, die er nicht vorhergesehen hatte.
Sein erster Instinkt war es, Rufus Lestrange zu töten. Noch immer brannte diese heiße Wut in ihm, die jeden rationalen Gedanken erstickte. Aber Abraxas hatte Recht – er hatte so hart gearbeitet, so viele Pläne aufgestellt und wieder verworfen. Er konnte das nicht alles zerstören, indem er den Sohn einer der mächtigsten Zaubererfamilien umbrachte. Wenn er das tat, würde er nie auch nur in die Nähe seines Ziels kommen.
Sein Blick wanderte zu Hermine, die immer noch auf dem Boden lag. Ihre nackten Beine, ihre zerrissene Unterwäsche, ihr tränenverschmiertes Gesicht, alles sprach eine deutliche Sprache. Lestrange war gelungen, was Avery vor so vielen Wochen schon versucht hatte. Sie hatte zugelassen, dass jemand wie Rufus sie demütigte.
Er spürte, wie ein Zittern durch seinen Körper ging. Sie hatte ihn enttäuscht. Sie war ausgerechnet Lestrange unterlegen. Sie war schwach.
Noch ehe er selbst wusste, was er vorhatte, war er mit zwei großen Schritten bei ihr, kniete sich hin und zog sie in seine Arme. Er vergrub sein Gesicht in ihren Haaren, die sich aus ihrer eleganten Hochsteckfrisur gelöst hatten, und presste sie so fest er konnte an sich. Für einen Moment gab sie keinen Laut von. Dann, endlich, schlossen auch ihre Arme sich um ihn und er spürte, wie ihr Körper von heftigem Weinen erschüttert wurde.
Rufus hatte ihr das angetan. Und er würde dafür bezahlen. Nicht mit seinem Leben, aber er würde dafür bezahlen.
„Was soll das hier sein?“, hörte er Abraxas kühle Stimme. Ohne zu seinem Freund aufzuschauen, wusste er, dass dieser ähnlich wütend über den Vorfall sein musste. Er wusste, dass Abraxas in Hermine verliebt war, hatte es sogar absichtlich dazu kommen lassen, um ihn besser manipulieren können.
„Ich habe getan, was Tom von uns wollte“, erwiderte Rufus ebenso kalt. Toms Körper versteifte sich. Was er wollte? Wie konnte Lestrange denken, dass er das hier gewollt hatte?
„Du denkst, das hier war es, was Tom wollte?“, sprach Abraxas seine Gedanken aus. „Rufus. Ich habe mich auf deine Pläne eingelassen, weil ich dachte, dass dir am Wohlergehen von Tom und von Hermine etwas liegt. Wie kannst es wagen, dich an ihr zu vergehen?“
Mit geschlossenen Augen lauschte Tom dem Gespräch. Rufus hatte alles missverstanden. Sein eigener Plan war so gründlich nach hinten losgegangen, dass Tom nicht anders konnte, als an dem Verstand aller seiner Anhänger zu zweifeln. Hatten sie wirklich nicht begriffen, dass Hermine zu ihnen gehörte? Zu ihm gehörte? Dachten sie wirklich noch, er wollte sie loswerden? Er hatte stets innerlich über Abraxas gelacht, der der naiven Hoffnung nachhing, dass er Hermine irgendwann für sich gewinnen konnte. Er hatte es amüsant gefunden, seinen besten Freund durch diese Gefühle so leicht manipulieren zu können. Aber am Ende schien er der einzige von allen gewesen zu sein, der Hermine als das sah, was sie war: ihnen allen überlegen und die einzige, die an seiner Seite stehen durfte.
„Tom?“, riss ihn Abraxas aus seinen Gedanken. „Was machen wir jetzt mit diesen beiden Unholden?“
Vorsichtig löste Tom sich aus Hermines Umklammerung. Sie war blass und erwiderte seinen Blick nicht. Doch sie lebte. Das war das einzige, was jetzt gerade zählte. Sie lebte. Er griff unter ihre Knie und erhob sich mit ihr in den Armen. Seine Wut war abgeklungen und hatte eiskalter Entschlossenheit Platz gemacht. „Ich bringe Hermine in ihr Schlafgemach. Ihr geht zum Unterricht und sagt den Professoren, dass sie einen Unfall hatte und sich ausruht. Ihr habt meine Entschuldigung als Schulsprecher, dass ihr zu spät gekommen seid, weil ihr mir assistiert habt. Falls jemand fragt, warum sie nicht im Krankenflügel ist, sagt, dass das meine Einschätzung der Situation war. Ich werde auf Nachfrage gerne Professor Dippet im Vertrauen berichten, was vorgefallen ist.“
„Und was ist mit den beiden hier?“, hakte Abraxas nach, der seinen Stab immer noch nicht wieder gesenkt hatte.
Tom richtete seinen Blick auf Rufus, der zum ersten Mal nervös aussah. Seine Finger spielten an seiner Krawatte und er schaute zu Boden. Nachdrücklich erklärte Tom: „An diesem Missverständnis sind wir alle gleichermaßen Schuld. Wir werden Sonntag in Ruhe in der Gruppe darüber sprechen.“
Abraxas öffnete den Mund, als wollte er protestieren, doch Tom kam ihm zuvor. „Das war eine Anweisung. Ausführen, ohne Widerrede.“
Sofort klappte Abraxas den Mund wieder zu. Er starrte Tom kurz an, dann ließ er endlich den Arm sinken, drehte sich um und verschwand eiligen Schrittes- Lestrange und Avery, die beide immer noch verwirrt aussahen, folgten dem blonden Slytherin aus dem Klassenzimmer.
Endlich waren sie alleine. Sanft setzte Tom Hermine auf einem der Tische ab. Sie wich noch immer seinem Blick aus, also ergriff er mit einer Hand ihr Kinn und zwang sie so, ihm in die Augen zu schauen. „Wie geht es dir, mein Herz?“
Sofort traten ihr wieder Tränen in die Augen. „Es tut mir leid, Tom. Ich wollte das nicht! Ich hatte keine Chance, das musst du mir glauben. Sie haben mich einfach überwältigt und dann hat Rufus … er hat…“
Sie brach ab und verbarg ihr Gesicht wieder in den Händen. Fest presste Tom seine Kiefer aufeinander. Ihre Worte zeigten Einsicht, und trotzdem machten sie ihn wieder wütend. Sie wusste, dass sie etwas falsch gemacht hatte, und sie entschuldigte sich dafür bei ihm. Warum wurde er so zornig? Er hatte das Bedürfnis, sie zu packen und zu schütteln und sie anzuschreien.
Stattdessen holte er tief Luft, trat einen Schritt zurück und hielt ihr eine Hand hin. „Komm, lass uns in den Kerker gehen. Kannst du laufen?“
Sie nickte nur, ohne ihn anzuschauen, doch sie ergriff seine Hand. Langsam, darauf bedacht, dass sie nicht aus Versehen stürzte, führte er sie aus dem Klassenraum, die Stufen hinunter in den Kerker, durch den Gemeinschaftsraum zu ihrem Zimmer.
Dort angelangt bestand Hermine darauf, alleine duschen zu gehen, ehe sie sich hinlegte. Tom nickte bloß. Während sie im Badezimmer war, saß er auf ihrem Bett und wartete. Immer noch spürte er diese Enge in seiner Brust. Er wünschte, er könnte Hermine einfach an sein Bett fesseln und sie nie wieder raus lassen. Dann würde so etwas nie wieder geschehen. Wenn sie nie wieder von seiner Seite wich, würde auch niemals wieder jemand ihr etwas antun können.
Genervt registrierte er, dass alle Muskeln in seinem Körper angespannt waren. Noch einmal holte er tief Luft und versuchte, beim Ausatmen alle Muskeln locker zu lassen. Er musste diese irrationalen Gefühle und Gedanken abstellen. Er musste zu seinem klugen Verstand zurückfinden, um eine Lösung für das Problem zu finden.
Er würde dafür sorgen, dass Hermine nie wieder alleine war. Was auch immer er anstellen musste, er würde einen Weg finden.
Koste es, was es wolle.