Er spürte, dass die Dinge ihm wieder entglitten. Er hatte einen Plan gehabt, doch jetzt war er sich nicht mehr sicher, ob alle Spielfiguren wirklich da standen, wo er sie vermutet hatte. War es ein Fehler gewesen, Gefühle zu ignorieren?
Aber wie sollte er Pläne schmieden, wenn er die Irrationalität und Unberechenbarkeit von Gefühlen einbezog? Das war unmöglich. Außerdem hatte er es hier mit Slytherin-Schülern zu tun, die allesamt intelligente, durchtriebene Gesellen waren. Solche Menschen waren leicht zu durchschauen, denn wenn man ihnen die Möglichkeit gab, einen anderen zu hintergehen, würden sie diese ergreifen. Jedes Mal. Darauf hatte er spekuliert und er hatte Recht behalten.
Warum also hatte er plötzlich das Gefühl, dass Abraxas Malfoy etwas vor ihm verbarg?
Unzufrieden schaute Rufus sich im Gemeinschaftsraum um. Wie schon die ganze Woche über saß Dumbledore alleine an einem Tisch und schrieb ihre Aufsätze, während von Tom jede Spur fehlte. Abraxas hatte ihm berichtet, dass sich das Verhältnis von Dumbledore und Tom verändert hatte. Wenn er Abraxas Worten Glauben schenkte, dann hatte er Tom unterschätzt. Doch was meinte er damit, dass sie nur dazu diente, die Loyalität seiner Verbündeten zu testen?
Unbemerkt von ihm selbst begann Rufus, mit einem Finger auf seine Lippen zu tippen. Wollte Tom schauen, ob die Männer in seinem Kreis dem Charme seiner Freundin verfallen würden und versuchen würden, sie für sich zu erobern? Das wäre definitiv ein Loyalitätsbruch, doch es war zu offensichtlich und zu abwegig. Selbst wenn das Verhältnis zwischen ihnen ein anderes gewesen wäre, ja sogar, wenn sie nur flüchtige Bekannte gewesen wären, der Stolz der Slytherins hätte verhindert, dass irgendein Mann sich an einem vergebenen Mädchen versuchen würde.
Wollte er testen, ob sie ihm widerspruchslos folgten, selbst wenn er fragwürdige Entscheidungen traf und schwache Leute um sich sammelte, die es nicht verdienten, an seiner Seite zu stehen? Erwartete er wirklich blinden Gehorsam? Auch das konnte Rufus sich nicht vorstellen. Egal, wie intelligent und berechnend Tom war, er war auf seine Verbündeten angewiesen, um das große Ganze immer im Blick zu haben. Gerade jemand wie er selbst, Rufus, war wertvoll, weil er intelligent genug war, um Warnungen und Vorschläge zu bringen. Diente Hermine Dumbledore wirklich nur dazu, dass sie gerade nicht in Frage gestellt wurde und Tom somit sehen konnte, wer ihm bedingungslos folgte?
Frustriert fuhr er sich mit beiden Händen durchs Haar. Alles ergab so wenig Sinn. Wenn Abraxas ihn nicht anlog, dann bestand die Möglichkeit, dass Dumbledore ihn angelogen hatte, um eine falsche Botschaft zu senden. Rufus wusste, dass sie intelligent war und er hatte einmal den Fehler gemacht, ihre Bereitwilligkeit, andere anzugreifen, zu unterschätzen. Würde ein weichherziges Mädchen wirklich den gutaussehenden, beliebten Abraxas Malfoy benutzen? Er tat sich schwer mit dieser Vorstellung.
Hass wallte in ihm hoch. Wieder wanderte sein Blick zu ihr. Er respektierte die Stärke von Dumbledore, denn für ein Mädchen war sie wirklich stark. Aber sie war nichts im Vergleich zu ihm. Wieso stand sie an der Seite von Tom? Es stand ihm zu. Er hatte immer akzeptieren können, dass Abraxas Toms Nummer eins war, weil beide eine lange Freundschaft verbunden hatte, bevor Tom seine wahre Macht offenbart hatte. Rufus war immer davon ausgegangen, dass er früher oder später Abraxas ablösen würde, wenn Tom aufging, dass sein langjähriger Freund nicht mithalten konnte. Er hatte sich geduldet, hatte Tom unterstützt, sich immer und immer wieder als wertvoll bewiesen, ohne je auch nur den geringsten Anspruch zu erheben. Er war demütig und zuvorkommend geblieben, weil er wusste, dass seine Zeit kommen würde.
Hermine Dumbledore hatte das alles zerstört. Selbst wenn Tom inzwischen nicht mehr viel für sie übrighatte, sie stand an seiner Seite, wie es für Rufus und Abraxas niemals möglich war. Einfach nur, weil sie ein Mädchen war. Sie hatte nichts, sie konnte nichts, sie war niemand. Sie war einfach hier aufgetaucht, hatte sich von Tag eins an unmöglich benommen – und Tom hatte ihr den roten Teppich ausgerollt.
Als hätte sie seinen Blick gespürt, drehte Dumbledore sich um. Rufus weigerte sich, ertappt wegzuschauen, also ließ er sie seinen ganzen Hass spüren. Es brachte ihm merkwürdige Befriedigung zu sehen, wie sie unter seinem Blick erbleichte. Sollte sie nur wissen, wie sehr er sie hasste. Doch statt sich abzuwenden, hob sie eine Augenbraue, als würde sie sich über ihn lustig machen, und erst dann drehte sie sich um. Nicht bevor sie jedoch mit dem Kopf geschüttelte hatte.
Sie lachte ihn aus.
Sie brachte ihm keinerlei Respekt entgegen.
Da hatte er sich Mühe gegeben, hatte das Gespräch mit ihr gesucht, sich auf eine Augenhöhe begeben, Waffenstillstand ausgehandelt – und dann benahm sie sich so?
Vielleicht war das der Test? Vielleicht wollte Tom sehen, wie viel seine Anhänger sich gefallen ließen von dieser dahergelaufenen Hexe, ehe sie für sich selbst einstanden. Tom brauchte keine Weicheier wie Abraxas, er brauchte Männer, die denken und handeln konnten. Er erwartete, dass sie aktiv wurden und dem Treiben von Miss Dumbledore ein Ende setzten.
Natürlich, das ergab so viel mehr Sinn. Tom hatte diese dumme Hexe fallen lassen und jetzt wollte er seine Freunde testen, wie lange sie sich diese unmöglichen Manieren gefallen ließen. Er erwartete, dass Zauberer für sich selbst einstehen konnten und selbst Grenzen zogen.
Endlich wusste Rufus, was er zu tun hatte.
oOoOoOo
„Ich mache mir Sorgen, Tom.“
Hermine hatte lange gezögert, ob sie das, was sie am Vortag gesehen hatte, ansprechen sollte. Trotz der Nähe, die sie inzwischen zu Tom Riddle hatte, fühlte es sich merkwürdig an, echte Ängste mit ihm zu teilen.
„Sorgen?“, hakte er nach, ohne von seinem Schreibtisch aufzuschauen.
Nervös knetete Hermine ihre Finger. Sollte sie einfach stumm bleiben? Vielleicht hatte sie den Blick auch falsch gedeutet. Sie saß auf Toms Bett, ein Buch aus der Bibliothek auf dem Schoß, und sollte eigentlich an ihrem Aufsatz für Geschichte arbeiten. Frustriert zog sie die Augenbrauen zusammen. Sie würde diese Sorge mit sich rumschleppen, solange sie unausgesprochen blieb. Wem schadete sie schon damit?
„Ich fürchte, Rufus plant etwas“, sagte sie schließlich, ohne Tom anzuschauen.
Kurz blieb es still, dann antwortete er emotionslos: „Damit erzählst du nichts Neues. Wir wissen, dass er etwas plant.“
Ungeduldig stieß Hermine das Buch von sich und krabbelte ans Fußende des Bettes, um näher bei Tom zu sein. Er sollte sie inzwischen gut genug kennen, um zu wissen, dass sie ihn nicht mit Nichtigkeiten belästigte.
„Das meine ich nicht“, fuhr sie ihn an, „das hier ist etwas anderes.“
Endlich schien Tom dazu bereit, ihr seine Aufmerksamkeit zu schenken. Mit einem genervt klingenden Seufzen legte er seine Feder beiseite und drehte sich zu ihr um: „Etwas anderes?“
Hermine schloss die Augen, um sich das Bild von Rufus Lestrange vom Vorabend genau vorstellen zu können. Langsam erklärte sie: „Er hat mich angestarrt. Viel zu lange. Und da lag dieser … dieser Hass in seinen Augen. Als ob er mich so tief hasst, dass er mich vernichten will. Und dann hab ich da plötzlich so ein Funkeln gesehen, als ob…“, Hermine unterbrach sich. Wenn sie es aussprach, wurde es Realität, und davor fürchtete sie sich. Sie schlug die Augen wieder auf, leckte sich nervös über die Lippen und schaute Tom geradewegs in die Augen, als sie endlich aussprach, was ihr wirklich Angst machte: „Als ob er beschlossen hat, dass es Zeit ist, mich loszuwerden.“
Für einen Moment erwiderte Tom ihren Blick einfach nur, ohne zu zwinkern oder eine andere Reaktion zu zeigen. Dann legte er den Kopf schräg und fuhr sich nachdenklich mit den Fingern über das Kinn. „Du denkst, er will dich umbringen?“
Kälte machte sich in Hermines Körper breit. Zu Anfang hatte sie gefürchtet, dass Tom sie irgendwann töten würde, aber die Angst hatte sich nie so real angefühlt. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, dass sie kontrollieren konnte, ob er das tun würde oder nicht. Jetzt, mit Lestrange, war das anders. Vielleicht lag es daran, dass er denselben Namen trug wie Bellatrix. Oder es lag schlicht daran, dass sie ihn nicht so gut kannte wie Tom.
Ohne sich der Geste richtig bewusst zu sein, schlang sie ihre Arme um ihren Körper. Sie hörte selbst, wie unsicher sie klang, als sie endlich Worte über ihre Lippen brachte: „Vielleicht nicht umbringen … aber er plant etwas. Gegen mich.“
Noch immer konnte sie keine Gefühle von Tom wahrnehmen. Er schaute sie einfach nur an, regungslos, als würde ihn das Gesagte nicht berühren. Zweifel stiegen in Hermine auf. Berührte es ihn wirklich nicht? Hatte er seine Worte, dass niemand außer ihm selbst für ihren Tod verantwortlich sein würde, nicht ernstgemeint? Er hatte ernst geklungen, aber das Versprechen, das damals eher wie eine Drohung geklungen hatte, war auch schon eine Weile her.
Plötzlich kam Bewegung in Tom. In einer fließenden Bewegung war er aufgestanden und direkt vor sie an das Bett herangetreten. Beinahe liebevoll legte er beide Hände um ihren Kopf und zwang sie so, zu ihm aufzuschauen. Sein zuvor so emotionsloses Gesicht schien plötzlich zu leuchten vor Wärme und Aufmerksamkeit.
„Dir wird nichts passieren, Hermine“, sagte er leise, aber bestimmt. Seine Stimme klang dunkel und selbstbewusst, während der Hauch eines Lächelns auf seinen Lippen zu sehen war. In seinen dunklen Augen lag ein Versprechen, das sie nicht zu deuten wusste. Wie Samt schmiegte sich seine Stimme an sie, während er fortfuhr: „Du bist eine starke Hexe, stärker als die meisten Zauberer. Du bist aufmerksam, trainiert und entschlossen. Niemand unter unseren Mitschülern kann dir das Wasser reichen. Du musst dir keine Sorgen machen.“
Röte stieg Hermine in die Wangen und gegen ihren Willen breitete sich ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht aus. Aus Toms Mund zu hören, dass sie auf sich selbst aufpassen konnte, tat gut.
„Jemand wie Rufus wird dir niemals etwas antun können“, sagte Tom betont und plötzlich war die Wärme aus seiner Stimme und seinem Gesicht verschwunden. Seine linke Hand packte ihre Haare und riss an ihrem Kopf, damit sie ihn noch weiter in den Nacken legte, während sein rechter Daumen zärtlich über ihre Wange streichelte. „Niemals. Und sollte es ihm doch gelingen, sollte ein Niemand wie Rufus es schaffen, dich zu überwältigen, was sagt uns das, mh?“
Gänsehaut breitete sich auf Hermines ganzen Körper aus. Jedes wohlige Gefühl, jeglicher Stolz waren verschwunden. Sie wusste, worauf er hinauswollte, sie wusste, was das implizierte. Wenn sie nicht stark genug für Tom war, dann war sie auch nicht interessant für ihn. Sie schloss die Augen, um die Tränen zu bezwingen, die in ihr aufgestiegen waren. Mit der ganzen Selbstbeherrschung, die sie aufbringen konnte, antwortete sie: „Das sagt uns, dass ich niemals so gut war, wie ich behauptet habe. Dass ich wertlos wäre für dich.“
„Exakt, mein Herz“, wisperte er, ehe er sich zu ihr runter beugte und ihr einen Kuss auf den Mund hauchte. „Wenn jemand wie Lestrange dich besiegen kann, habe ich meine Zeit mit dir verschwendet.“
Abrupt ließ er von ihr ab und drehte sich um, weg von ihr. Zittern zog Hermine ihre Knie an die Brust und umschloss sie mir beiden Armen. Hatte sie sich all den Fortschritt in ihrer Beziehung zu Tom nur eingebildet? Hatte sie völlig missverstanden, was er zuletzt gesagt und getan hatte? Sie spürte, wie ihr schwindelig wurde bei dem Gedanken.
Plötzlich wurde ihr seine Anwesenheit unerträglich. Ohne ein weiteres Wort an ihn zu richten, schnappte sie sich ihr Buch und ihre Tasche, rutschte von seinem Bett und eilte Richtung Tür. Er hielt sie nicht auf, sagte nichts zu ihr, schaute nicht einmal in ihre Richtung. Er stand einfach nur da, seine Hände zu Fäusten geballt, und starrte auf seinen Schreibtisch. Wütend mit sich und mit ihm, riss Hermine die Tür auf und ließ sie geräuschvoll hinter sich ins Schloss fallen.
Tom blieb alleine in seinem Schlafzimmer zurück. Er konnte sich nicht bewegen, selbst wenn er es gewollt hätte. Seit Hermine ihre Gedanken ausgesprochen hatte, schmerzte ihm die Brust und ein merkwürdiger Schwindel benebelte seine Sinne. Er hatte den übermächtigen Impuls verspürt, Hermine zu packen, an sein Bett zu fesseln und nie wieder aus seinem Zimmer zu lassen. Es war irrational.
War das auch wieder eine Nebenwirkung des Horkruxes? Er hatte schon einmal bemerkt, dass seine Emotionen unausgeglichener geworden waren, nachdem er es erschaffen hatte. Er verstand einfach nicht, wieso er körperlich auf Hermines Worte reagiert hatte. Im Grunde genommen hatte er doch damit gerechnet, dass Rufus früher oder später etwas gegen Hermine unternehmen würde. Das war sein Plan gewesen. Er wollte ihn aus der Reserve locken, ihn zu einem Fehler verleiten und ihn dann bestrafen, um ihm zu zeigen, dass er sich besser niemals wieder einbildete, es mit Lord Voldemort aufnehmen zu können.
Unter Aufbringung all seiner Selbstbeherrschung zwang Tom seinen Körper, ins Badezimmer zu gehen. Dort starrte er in den Spiegel, starrte sich selbst an, wütend, aber entschlossen. Horkruxe waren der beste Weg zum Ziel und er würde nicht zulassen, dass sie seinen Verstand ruinierten und ihn zu einem schwachen, von Gefühlen beherrschten Zauberer machten. Was auch immer diese körperliche Reaktion war, er würde dafür sorgen, dass es aufhörte.
Tom Riddle hatte Kontrolle über sich und seinen Körper.