Genüsslich trank Abraxas seine Tasse Tee. Er liebte den Mittwochmorgen, da es der einzige Tag in der Woche war, an dem er im ersten Unterrichtsblock frei hatte. Er konnte ausschlafen und das Frühstück wirklich genießen. Sich Zeit lassen, wach zu werden, ohne in aller Hast etwas zu essen runterschlingen zu müssen. Außerdem war es angenehm leer, da die meisten anderen Schüler das eine oder andere Fach hatten.
Sein Blick wanderte die Tafel entlang und blieb an Orion hängen, der bewegungslos auf seinem Platz saß und sein Essen nur anstarrte. Wie sonst auch waren die meisten Slytherin-Schüler nach dem Frühstück schon wieder verschwunden. Niemand blieb gerne länger als nötig in der Großen Halle, da die meisten seiner Hauskollegen die Öffentlichkeit und Menschenmenge nicht schätzten. Auch Orion verzog sich normalerweise mit seinen Mitschülern zurück in den Gemeinschaftsraum. Warum also saß er heute noch hier?
Mit einem Lächeln nahm Abraxas seine Tasse, stand auf und ging zu dem jüngeren Slytherin, um sich dann unaufgefordert gegenüber von ihm niederzulassen. Der schaute ihn nicht einmal an, als hätte er nicht bemerkt, dass jemand sich zu ihm gesetzt hatte.
„Orion, mein Guter“, begrüßte er ihn leise, „Was trägst du deinen Kummer hier so offen zur Schau?“
Endlich kam Leben in den jungen Black. Mit großen Augen starrte er ihn an, als hätte er seine Anwesenheit erst jetzt bemerkt. „Abraxas. Es tut mir leid, habe ich dich gestört? Ich habe nicht mit Absicht…“
Sofort winkte Abraxas ab: „Nein, ganz und gar nicht. Ich mache mir Sorgen. Es sieht dir nicht gleich, ausgerechnet hier in der Großen Halle so unglücklich zu sitzen.“
Röte zeigte sich auf Orions Wangen. „Ah, ich mache unserem Haus mal wieder keine Ehre, oder? Das tut mir leid.“
Kopfschüttelnd beugte Abraxas sich vor: „Hör auf, dich ständig zu entschuldigen. Du hast nichts falsch gemacht. Sag mir lieber, ob ich dir zu Hilfe sein kann.“
Unsicher flackerte Orions Blick zu ihm und dann sofort wieder auf seine Hände, die er im Schoß vergraben hatte. Er schüttelte den Kopf. „Es ist zu absurd, um darüber zu sprechen. Es schickt sich nicht.“
„Orion“, sagte Abraxas mit Nachdruck. „Nichts ist absurd. Und seit wann kümmert es einen Black, was sich schickt?“
Für einen kurzem Moment befürchtete er, dass Orion ihn wieder abwimmeln würde, doch dann sanken dessen Schultern hinunter und er schien endlich nachzugeben. Mit einem Blick, der eher zu einem Hufflepuff gepasst hätte, begann er, ihm sein Leid zu klagen. Abraxas konnte ihm nicht helfen, doch zumindest konnte er zuhören. Er wusste, er würde vermutlich die nächste Stunde hier verbringen, doch wenn es damit einem jüngeren Slytherin-Schüler helfen konnte, tat er das gerne.
***
Ungeduldig blätterte Tom in den beiden Büchern hin und her. Nott hatte Recht gehabt, es gab in der Tat Diskrepanzen zwischen dem, was das Lehrbuch, das sie für den Unterricht nutzten, sagte, und dem, was das Standardwerk in der Schulbibliothek sagte. Wie konnten zwei Runen auf so verschiedene Art und Weise gedeutet und eingesetzt werden?
Nott saß neben ihm in der Bibliothek und hatte ebenfalls sein Lehrbuch vor sich aufgeschlagen liegen. Dass dieser schweigsame Schüler überhaupt mit dem Problem an ihn herangetreten war, hatte Tom gewundert. Nott war noch nie von sich aus auf irgendjemanden zugegangen. Doch jetzt, da er das Problem begriff, konnte er sein Handeln verstehen. Bevor er zu einem Professor ging und nachfragte, wollte er sichergehen, dass er nichts übersehen hatte.
„Was du geschildert hast, deckt sich mit meiner ersten oberflächigen Prüfung“, gestand Tom schließlich ein und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
Nott schaute ebenfalls von seinem Buch auf. „Das beruhigt mich. Für einen Moment habe ich an mir selbst gezweifelt. Wir haben diese spezielle Rune im Unterricht nie genutzt, daher fürchtete ich, dass ich einfach etwas missverstanden habe.“
Nachdenklich tippte Tom sich gegen die Lippen. Er interessierte sich nur begrenzt für Alte Runen, doch dieses Rätsel hatte seinen Ehrgeiz geweckt. Es musste eine Antwort geben. Entschlossen klappte er beide Bücher zu und öffnete sie dann auf der ersten Seite, wo Angaben über die Autoren und Hersteller zu finden waren.
„Dieses Buch“, erklärte er und deutete auf eine Zeile im Text, „wurde erstmals 1778 veröffentlicht. Es gab seitdem fünf grundlegende Überarbeitungen, die letzte Anfang der zwanziger Jahre.“
Sofort beugte Nott sich vor und las, was in dem anderen Buch stand: „Unser Schulbuch ist von 1837 und wurde zuletzt vor zehn Jahren aktualisiert.“
Tom ließ seinen Blick über die leeren Tische wandern, ohne wirklich wahrzunehmen, was er sah. Vielleicht hatte sich die Bedeutung der Rune einfach in den letzten Jahren geändert und das Buch, das Nott gefunden hatte, war nicht mehr aktuell?
„Gibt es noch andere Bücher zu diesen speziellen Runen hier in der Bibliothek?“, erkundigte er sich.
Nott schüttelte bloß den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Ich habe die Regale mit Büchern über Alte Runen durchsucht, aber so viele Werke haben wir leider nicht in dieser Bibliothek.“
Mit unbewegter Miene schaute Tom auf die Bücher, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Es widerstrebte ihm sehr, einen Professor um Rat zu fragen. Auch wenn nur Nott Zeuge sein würde, er war nicht bereit, sich diese Niederlage jetzt schon einzugestehen. Als Peter ihn wegen des Problems angesprochen hatte, hatte er seine Hilfe angeboten, weil er sich sicher gewesen war, eine Lösung zu haben. Ein Missverständnis oder eine Unachtsamkeit hätte er leicht bemerkt und dann drauf aufmerksam machen können.
Sollte er Notts Worten, dass kein anderes Buch in der Bibliothek helfen konnte, Glauben schenken? Vielleicht wäre es besser, wenn er selbst einmal nachschaute. Sie waren die einzigen beiden Schüler hier, da alle anderen entweder im Unterricht waren oder ihren freien Morgen woanders genossen. Niemand würde sehen, dass er ratlos das Regal durchsuchte.
„Wie bist du überhaupt auf diese Rune gestoßen?“, wandte er sich erneut an Nott. Vielleicht konnte er der Sache noch tiefer auf den Grund gehen und selbst zu einer Antwort kommen.
Für einen Moment zögerte Peter. Ungeduldig zog Tom eine Augenbraue hoch. Er verstand nicht, was an seiner Frage so schwierig war, dass der andere sie nicht sofort beantworten konnte.
„Ich habe einfach unser Lehrbuch vollständig durchgeblättert“, erklärte Nott schließlich, ohne ihn anzuschauen. Stattdessen griff er nach dem besagten Buch und schlug es auf, als wollte er demonstrieren, wie er es durchgeblättert hatte. „Und dabei sind mir hier hinten im Verzeichnis aller Runen einige aufgefallen, die wir bisher nicht behandelt haben. Diese spezielle Rune erschien mir aufwändiger als die anderen, also habe ich mich zu ihr belesen wollen.“
Misstrauisch verschränkte Tom die Arme vor seiner Brust. Er konnte sich nicht helfen, irgendetwas an der ganzen Situation erschien ihm plötzlich falsch. Er hatte das Gefühl, etwas nicht richtig zu verstehen, und er hasste dieses Gefühl. Es war, als würde Peter Nott ihm etwas sagen und etwas ganz anderes meinen.
Sein Blick wanderte zur magischen Wanduhr, die allen Schülern in der Bibliothek stets zeigte, wann der nächste Unterrichtsblock beginnen würde. Er hatte eine Stunde damit verschwendet, sich die Bücher von Nott zeigen zu lassen und alles zu dieser Rune zu lesen. Seine Schultasche hatte er in seinem Zimmer gelassen, da er nicht damit gerechnet hatte, sich so lange mit dieser einen Frage beschäftigen zu müssen. Wenn er nicht unpünktlich zu seinem ersten Block an diesem Tag sein wollte, hätte er sich jetzt eigentlich schon auf den Weg in den Kerker machen müssen.
Nott hatte inzwischen einen Blick wieder gehoben und schaute ihn geradeheraus an. Der sonst so desinteressiert wirkende junge Mann hatte plötzlich eine Haltung, als würde er auf etwas warten. Als wäre er wirklich gespannt. Toms Misstrauen wuchs.
Entschlossen klappte er die Bücher zu und stand auf. „Wir verschwenden hier unsere Zeit. Komm, wir gehen und fragen Professor Selwyn direkt selbst. Meinst du nicht auch, dass wir nur so eine Antwort auf die Frage bekommen können?“
Abwartend schaute er zu Nott, doch der rührte sich nicht von seinem Stuhl. Stattdessen verschränkte er seine Arme vor der Brust und starrte ihn herausfordernd an. „Du hast keine Lösung für dieses Rätsel?“
Mühsam zwang sich Tom, äußerlich ruhig und gelassen zu bleiben. Er konnte Nott später noch auf sein unangemessenes Verhalten ihm gegenüber hinweisen. Hier in der Bibliothek, mit einer Bibliothekarin, die nur einige Regalreihen entfernt saß, würde er nicht zu seinem Stab greifen. Stattdessen holte er sein Schulsprecher-Lächeln hervor und erwiderte: „Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, ehe der nächste Block beginnt. Wenn wir deine Frage beantworten wollen, sollten wir also zu dem schnellsten Mittel greifen. Auch ich kann nicht alles wissen.“
Plötzlich grinste Peter ihn breit an. Tom konnte sich nicht erinnern, diesen Jungen jemals zuvor so offen grinsen gesehen zu haben. Die Wut, die er schon zuvor nur mühsam hatte beherrschen können, brodelte in ihm hoch. „Was ist so lustig?“
Nott schüttelte den Kopf, während er sich gemütlich von seinem Stuhl erhob: „Ich lache dich nicht aus, falls es das ist, was du denkst. Ich würde dich niemals auslachen, Tom. Ich fand es nur amüsant, wie zutreffend deine Worte doch sind. Nicht mehr viel Zeit. Das ist eine sehr gute Beschreibung.“
Toms Finger zuckten. Er durfte nicht nach seinem Stab greifen, nicht hier. Er konnte es sich nicht leisten, in der Anwesenheit des Lehrpersonals aufzufallen. Tief holte er Luft. Er würde Nott dafür später bestrafen. Vielleicht hatte er in den letzten Wochen nicht deutlich genug gemacht, dass er der unangefochtene Anführer in ihrer kleinen Gruppe von Verschwörern war. Vielleicht war es an der Zeit, dass auch Nott sich das Mal einbrennen ließ, um ihm seinen niederen Stand deutlich vor Augen zu führen.
Nur Rufus, Abraxas und Hermine trugen es bisher.
Tom stockte der Atem. Aus dem Nichts heraus überfiel ihn eisige Kälte. Als würde sich eine Hand um seinen Hals legen und zudrücken. Ohne auf seinen Gesichtsausdruck zu achten, schaute er zu Nott. Hatte der ihn verhext, ohne dass er es mitbekommen hatte? Sein ganzer Körper fühlte sich plötzlich schwer und kalt an. Als würde ein Fluch auf ihm liegen.
„Was hast du getan?“ Seine Stimme zitterte. Fassungslos über sich selbst fuhr Tom sich mit einer Hand über das Gesicht. Seine Stimme zitterte nie. Er ließ sich nie anmerken, dass ihn etwas bewegte.
Das Grinsen von Nott verwandelte sich in ein ehrliches Lächeln. „Ich habe gar nichts getan. Ich habe nur jemandem geholfen, der besorgt um dich ist.“
Mit seiner linken Hand stützte Tom sich auf dem langen Lesetisch ab. Er verstand nichts von dem, was Nott ihm erzählte. Alles, was er wahrnehmen konnte, war diese Kälte und das Gefühl der Enge. Nott hatte gesagt, er hätte nichts getan, doch das konnte nicht stimmen. Er hatte ihn verhext.
Er zwang sich, tief Luft zu holen und langsam wieder auszuatmen. Nein. Es war unmöglich, dass Peter ihn verhext hatte. Er hätte es bemerkt. Wenn er schon die Bewegung des Stabes nicht gesehen hätte, so hätte er doch zumindest die Magie gespürt, die ihn unweigerlich berühren musste, wenn ein Zauber gegen ihn gesprochen wurde. Seine körperliche Reaktion war nicht auf einen Fluch zurückzuführen.
„Wem hast du geholfen?“, presste er mühsam hervor. Noch immer klammerte er sich mit einer Hand an der Tischkante fest.
„Nun“, gab Nott langgezogen von sich, „theoretisch helfe ich auch dir, Tom. Wir alle glauben an dich. Wir wissen, wozu du fähig bist. Aber du hast den Fokus verloren. Das kann passieren, wir sind alle nur Männer. Genau deswegen haben wir uns gedacht, dass du unsere Hilfe brauchst.“
Und plötzlich verstand er. Sein ganzer Körper erstarrte, als ihm aufging, was sein Unterbewusstsein offenbar schon gewusst hatte.
Hermine war in Gefahr.
Sein Blick wanderte erneut zur magischen Uhr. Die Pause war beinahe um. Hermine hätte auf dem Weg von Alchemie zu Pflege magischer Geschöpfe sein müssen. Doch Tom ahnte, nein, er wusste, dass sie vermutlich gerade ganz woanders war.
Endlich verstand er auch, warum sein Körper sich so merkwürdig anfühlte. Er hatte schon beinahe vergessen, wie es sich anfühlte, solange hatte er dieses Gefühl nicht mehr gespürt.
Er hatte Angst.
„Wo ist sie?“, verlangte er zu wissen.
Nott zuckte nur mit den Schultern: „Das kann ich dir nicht sagen. In den Teil des Plans war ich nicht eingeweiht.“
Ohne sich länger darum zu kümmern, dass die Bibliothekarin nur wenige Regalreihen entfernt saß, zog Tom seinen Stab und hielt ihn Peter zwischen die Augen. „Wo ist sie?“, wiederholte er seine Frage.
Wieder zuckte sein Gegenüber nur mit den Schultern: „Wir sind nicht dumm, Tom. Wenn ich diese Information hätte, könntest du sie aus mir heraus foltern. Darum habe ich sie nicht.“
Für einige Sekunden starrte Tom ihn nur an, seine Fingerknöchel weiß vor Anstrengung, als er den Stab fest umklammert hielt. Dann senkte er seinen Arm und nickte. Natürlich, er hätte es nicht anders gemacht. Nur, wer unbedingt eingeweiht sein musste, bekam relevante Informationen. Er hatte das selbst schon immer so praktiziert.
„Das hier wird ein Nachspiel haben, Nott. Verlass dich drauf“, spie er dem anderen vor die Füße, dann drehte er sich um und lief mit langen Schritten aus der Bibliothek.
„Ich weiß, Tom! Ich weiß!“, rief Peter ihm nach. Er klang resigniert, aber nicht eingeschüchtert.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte Tom die Treppe hinab. Sie hatten ihr Spiel gespielt und jetzt hatten ihre Gegner mit einem unerwarteten Schachzug reagiert. Er war nicht darauf vorbereitet gewesen. Er würde nicht zulassen, dass er von irgendjemandem nochmal überrascht werden würde.
Koste es, was es wolle.