Mit einem Schrei fuhr Hermine von ihrem Bett hoch. Es war dunkel in ihrem Zimmer, doch sie spürte die Anwesenheit einer anderen Person. Hektisch blickte sie sich um, während ihre Augen sich nur langsam an die Dunkelheit gewöhnten. Erst, als sich eine Hand beruhigend auf ihre Schulter legte, atmete sie aus.
„Ich bin da, mein Herz“, murmelte Tom leise in ihr Ohr.
Jetzt bemerkte sie, dass er neben ihr im Bett lag, nur bekleidet in seiner Hose. Stöhnend vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. Bilder spukten ihr durch den Kopf, die sie am liebsten nie wieder sehen wollte. Sie hörte immer noch seine Stimme, sein sanftes Flüstern, seine einschmeichelnden Worte. Obwohl sie ausführlich geduscht hatte, fühlte sie sich immer noch schmutzig.
Als Tom durch die Tür gebrochen war, sie einfach in tausende Splitter zersprengt hatte, war ihr ein Stein vom Herzen gefallen. Doch ihr schlechtes Gewissen hatte sich gemeldet. Am Ende war es ihr Versagen gewesen, dass es überhaupt soweit gekommen war. Tom hatte ihr deutlich gemacht, dass er es nicht dulden würde, wenn sie sich von jemandem wie Rufus besiegen ließ. Und doch war genau das geschehen.
Tränen brannten in ihren Augen, während sie zitternd neben Tom im Bett saß. Zu viele Gedanken auf einmal stürmten auf sie ein.
Rufus hatte das wirklich getan.
Es war ihre Schuld, weil sie unachtsam gewesen war.
Sie hatte Tom enttäuscht.
Tom würde sich von ihr abwenden.
Sie hatte niemanden hier, der sie trösten konnte.
Sie war ganz alleine.
Sie hatte Tom geholfen, genau dasselbe Augusta anzutun.
Sie hatte Umbridge den Zentauren ausgeliefert, die gewiss dasselbe mit ihr angestellten hatten.
Sie hatte verdient, was ihr zugestoßen war.
Ihr Atem kam stoßweise, während sie ihre zitternden Arme um ihren Körper schlang. Übelkeit machte sich in ihrem Magen breit. Sie hatte etwas falsch gemacht. Das hier konnte einfach nicht der richtige Weg sein. Sicherlich hätte sie sich niemals selbst erneut in die Vergangenheit geschickt, wenn ihr sowas wiederfahren war. Oder?
„Hermine“, durchschnitt Toms Stimme den Strudel ihrer Gedanken. „Mein Herz. Es ist gut. Ich bin da. Dir droht keine Gefahr. Alles ist gut.“
„Tom“, schluchzte sie verzweifelt. Endlich ließ sie sich gegen ihn sinken. Erlaubte ihm, seine Arme um sie zu schließen. Es war ihr egal, ob es eine kalkulierte Geste von ihm war, sie brauchte Nähe. Geborgenheit. Tränen rannen ihr über die Wangen, während sich ihre Hände an seine Schultern klammerten. „Tom. Bist du mir böse?“
Beruhigend strich er ihr über den Rücken. „Nein, mein Herz. Wir haben beide Fehler gemacht. Ich habe mich verkalkuliert. Ich habe die Dummheit meiner Anhänger unterschätzt. Nur deswegen warst du überhaupt in Gefahr.“
Schniefend blickte Hermine zu ihm hoch. Er hatte einen Fehler zugegeben. Tom Riddle hatte nicht nur erkannt, sondern auch ausgesprochen, dass er etwas falsch gemacht hatte. So emotional zerstört sie auch war, dieser Gedanke wärmte ihr Herz. Tom Riddle entwickelte sich weiter. Er lernte. Und er spendete ihr Trost.
Eine neue Welle der Tränen überrollte Hermine, doch diesmal fühlten sie sich besser an. Sie brachten Erleichterung, als sei ein Knoten in ihr geplatzt. Ohne sich darum zu kümmern, dass ihre Tränen auf seine nackte Haut trafen, schluchzte sie hemmungslos und klammerte sich an ihn.
„Es ist gut, mein Herz“, murmelte Tom, ohne seine Umarmung zu lockern. „Weine ruhig. Wir reden morgen in Ruhe über alles. Heute Nacht sollst du schlafen.“
Als hätte er einen Zauber über sie gelegt, glitt Hermine in die Kissen, schloss die Augen und schlief ein. Die dunklen Bilder von zuvor waren verschwunden und nur wohlige Schwärze umfing ihren Geist.
***
Ungeduldig ging Tom in seinem Zimmer auf und ab. Er konnte sich nicht daran erinnern, je einen so anstrengend Tag gehabt zu haben. Selbst damals, als Hogwarts kurz davor gestanden hatte, geschlossen zu werden, weil er den Basilisken auf das Schloss losgelassen hatte, war er ruhiger gewesen. Zu viel war an einem Tag geschehen.
Er hatte Schulleiter Dippet erzählt, dass er Hermine alleine und ohnmächtig gefunden hatte, dass ihr offensichtlich Gewalt angetan worden war, er aber nicht wusste, wer der Übeltäter sein könnte. Dippet hatte das mit zunehmenden Entsetzten gehört und natürlich sofort Professor Dumbledore dazu geholt.
Für einen Moment hatte Tom befürchtet, dass Dumbledore ihm einen Vorwurf machen würde, doch zu seiner Überraschung passierte das nicht. Stattdessen zeigte er sich besorgt und dankbar, dass er sich so gut um Hermine gekümmert hatte. Beide Zauberer hatten ihm zugestimmt, dass es für Hermine das beste wäre, wenn der Vorfall geheim bleiben würde. Da kein Täter bekannt war und nach Aussage von Tom Hermine auch nichts erinnerte, würde sie nur darunter leiden, wenn alle wüssten, was ihr geschehen war.
Tom hatte das Bedürfnis, etwas zu tun. Er musste handeln. Pläne zu schmieden und die Zukunft zu überdenken, das waren seine Wege, mit Stress umzugehen. Doch es gab jetzt nichts zu tun, außer darauf zu warten, dass Hermine am nächsten Tag erwachte und hoffentlich in der Lage war, ein ernsthaftes Gespräch mit ihm zu führen.
Frustriert blieb Tom stehen und sah sich in seinem Zimmer um. Seit über sechs Jahren lebte er in diesem Zimmer oder solchen, die diesem sehr ähnlich waren. Die dunkelgrünen Vorhänge, der weiche Teppich, die klaren Kanten. Das hier war sein Zuhause. In einem halben Jahr würde er sich von diesen Wänden verabschieden müssen. Er war noch nicht bereit dazu, Hogwarts zu verlassen.
Es wusste niemand, aber er plante, nach dem Abschluss selbst Professor hier zu werden. Direkten Zugang auf junge Menschen zu haben, um sie für seine Pläne zu gewinnen, war nur einer der Vorteile. Hogwarts gab ihm das Gefühl, bedeutend zu sein. Hier war der Ursprung aller Magie in England. Hier gehörte er hin.
Sein Blick wanderte zu dem Bücherstapel, der sich auf seinem Schreibtisch auftürmte. Getrieben von seinem Handlungsdrang hatte er eine ganze Reihe von Büchern aus der Bibliothek ausgeliehen. Er musste einen Weg finden, Hermine dauerhaft zu beschützen, auch wenn er nicht ständig an ihrer Seite sein konnte. Er musste verhindern, dass sich ein Ereignis wie das heute wiederholte.
Er schüttelte den Kopf. Es brachte niemandem etwas, wenn er Gräben in den Teppich lief. Was geschehen war, war geschehen. Er würde seinen Verschwörerkreis am Samstag zusammenrufen und Rufus bestrafen. Ebenso wie er Nott und Black bestrafen würde. Vielleicht würde er auch an Avery ein Exempel statuieren. Eigentlich hatte er geplant, noch vor Jahresende neue Mitglieder zu rekrutieren, doch das lag erst einmal auf Eis.
Sie alle hatten ihn enttäuscht. Außer Abraxas hatten sie alle ihm bewiesen, dass sie nichts anderes als kopflose Hühner waren, die ohne klare, deutliche Führung nicht wussten, wo rechts und links war. Er würde ihnen unmissverständlich klarmachen, dass er nicht länger akzeptierte, dass sie versuchten, für sich alleine zu denken.
Mit einem Seufzen ließ er sich auf den Stuhl sinken. Menschen waren so schwierig. Getrieben von ihren Gefühlen und niederen Instinkten verhielten sie sich ständig so unsäglich vorhersehbar, nur um in dem Moment, in dem man sich auf sie verlassen wollte, plötzlich vollkommen unberechenbar zu werden. Am liebsten würde er den Imperius-Fluch auf sie alle legen, damit sie einfach das taten, was er verlangte, doch das war unmöglich. Falls es ihm überhaupt gelingen würde, den Fluch zu sprechen und aufrechtzuerhalten, so war es doch unmöglich, mehrere gleichzeitig zu zaubern.
Wie also konnte er Hermine in Zukunft schützen? Entschlossen rollte er seine Hemdsärmel hoch. Er würde heute nicht eher zu Bett gehen, als dass er eine Lösung gefunden hatte. Es gab eine, davon war er überzeugt. Noch einmal ließ er seinen Blick über den Stapel mit Büchern wandern. Sie alle handelten von Schutzzaubern und Kommunikationszaubern. In einem davon würde er eine Lösung finden.
***
„Was ist wirklich geschehen, Miss Granger?“
Hermines Lächeln fiel in sich zusammen. Sie hatte geahnt, dass Dumbledore die Sache nicht auf sich beruhen lassen würde, so freundlich er sich gegenüber Tom auch verhalten hatte. Dass er sie an einem Donnerstagabend hatte zu sich rufen lassen, sprach Bände. Dass er jedoch so direkt sein würde, hatte sie nicht erwartet.
Ihre Finger schlossen sich verkrampft um die Tasse mit warmem Tee. Sie wünschte, er hätte nicht gefragt. Sie wollte nicht daran denken. Die Bilder waren zu frisch. Die Gefühle waren zu frisch. Sie zwang sich, die Tasse auf den Tisch zurückzustellen und ihre Hände zu entspannen.
„Miss Granger“, kam es eindringlich, aber sanft von ihrem Professor. „Was Ihnen widerfahren ist, ist furchtbar. Sie müssen darüber sprechen. Ich frage nicht, weil ich Ihnen misstraue, sondern weil ich mich um Sie sorge.“
Überfordert zuckte sie mit den Schultern. „Es ist alles für das Wohl der Zauberergemeinschaft, oder nicht? Was spielt es da für eine Rolle, was mir passiert?“
Ernst beugte Dumbledore sich vor und legte seine beiden Arme auf dem großen Schreibtisch ab. Seine Augen funkelten nicht, sondern schauten sie offen und traurig an. „Wir sind alle Menschen, Miss Granger. Nicht immer steht das Wohl der anderen an erster Stelle. Manchmal müssen wir auch an uns denken.“
„Haben Sie deswegen immer noch nichts gegen Grindelwald unternommen?“
Die Worte waren raus, ehe Hermine an sich halten konnte. Entsetzt schlug sie beide Hände vor ihrem Mund zusammen. Sie war wütend auf Dumbledore, unfassbar wütend, aber das rechtfertigte diesen Ausbruch nicht.
Schweigen breitete sich in dem Büro aus. Der Ausdruck ihres Professors war gleich geblieben, doch offensichtlich hatte sie ihn überrascht, sonst würde er nicht schweigen. Hermine spürte, wie ihr Tränen in die Augen steigen. Alles war so gut gegangen, und jetzt war alles furchtbar.
„Ich … es tut mir leid. Ich hatte kein Recht, das zu sagen“, brachte sie schließlich raus, nachdem ihr aufgegangen war, dass Dumbledore ihr keine Antwort geben würde. Sie nahm einen Schluck Tee und zwang sich, zu ihrem rationalen Selbst zurückzukehren. „Was wirklich geschehen ist … Mr. Lestrange hat versucht, Tom zu beeindrucken. Auf seine verquere Art und Weise dachte er, mich zu foltern und … und … zu vergewaltigen würde Tom beeindrucken.“
Dumbledores Augen weiteten sich. „Sie wissen, wer es war? Wieso hat Tom uns das verschwiegen? Wieso haben Sie es verschwiegen?“
Hermine holte tief Luft. Sie verstand Toms Gründe, aber es tat ihr weh, es auszusprechen. Als ob sie wirklich nur eine Spielfigur für Tom war. Als ob das Geschehnis unwichtig war. Als ob sie einfach so weitermachen konnte wie bisher. Ihr Blick wanderte zu dem Fenster, in dem sich der Raum im Schein der Kerzen spiegelte. Vollkommene Dunkelheit umgab das Schloss.
„Es ist eine Zuschaustellung seiner Macht“, erklärte sie monoton, ohne zu Dumbledore zu schauen. „Er beschützt seine Anhänger, auch jene, die ihn enttäuscht haben. Er wird selbst eine Strafe bestimmen. Es ist eine interne Angelegenheit, ein Machtkampf seiner Anhänger, also duldet er nicht, dass äußere Autoritäten einschreiten.“
Schwungvoll erhob sich Dumbledore aus seinem Sessel, beute sich vor und stützte sich mit beiden Händen auf dem Schreibtisch ab. Seine Augenbrauen war zusammengezogen und aus seiner Stimme sprach Wut: „Miss Granger! Das können Sie nicht ernst meinen. Akzeptieren Sie das einfach so? Lassen Sie jetzt Tom darüber entscheiden, was mit Ihnen und Ihrem Körper geschieht?“
Aufgebracht sprang Hermine ebenfalls auf. „Als ob es Ihnen darum geht, was ich will! Sie wollen nicht, dass ich tue, was Tom sagt, sondern das, was Sie sagen. Aber was ich wirklich will, das interessiert Sie überhaupt nicht.“
Sie spürte, wie ihr innerer Kern zu pulsieren anfing. Ihre Magie, die tief in ihr ruhte, schrie danach, sich gewaltsam zu entladen. Sie war so wütend. Auf Dumbledore, auf Lestrange, auf Tom. Auf sich selbst. Und sie wusste, es gab niemanden hier, in dieser Zeit, der sie einfach mal in den Armen nehmen und trösten konnte. Selbst in ihrer eigenen Zeit hatte es so jemanden nie gegeben. Es war noch nie in ihrem Leben darum gegangen, was sie wollte, sondern immer nur darum, was sie für andere Menschen tun konnte.
Schwer atmend starrte sie Dumbledore an, der sie nur seinerseits anschaute, als wüsste er nicht, was er darauf erwidern sollte. Sie ballte die Fäuste und zwang sich, ihre Magie unter Kontrolle zu halten. „Ich will nicht, dass dieser Vorfall bekannt wird. Und ich will nicht, dass irgendjemand erfährt, dass Mr. Lestrange der Täter war. Und wollen Sie wissen, warum?“, schleuderte sie Dumbledore entgegen. Ehe er jedoch antworten konnte, fuhr sie schon fort: „Weil Sie ihn von der Schule verweisen würden. Sie würden ihn von der Schule verweisen und dann würde er von seiner Familie nach Amerika geschickt, um dort seinen Abschluss zu machen, und in einem halben Jahr wäre er zurück in England und niemand wüsste mehr, dass irgendetwas geschehen ist. Es würde nichts bewirken. Nichts.“
Ein harter Ausdruck trat in Dumbledores Augen: „Und was, meinen Sie, wird jetzt geschehen?“
Sie richtete sich größer auf und schaute ihn herausfordernd an. „Tom wird ihn bestrafen. Er mag den Cruciatus-Fluch, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, und er wird Rufus deutlich machen, wie sehr er sich in seinem Weg geirrt hat. Rufus wird nie wieder in seinem Leben etwas tun, was Tom missfällt. Dafür wird er sorgen.“
Ohne zu zwinkern starrte sie Dumbledore an. Der hielt ihrem Blick für einen Moment stand, dann trat er einen Schritt zurück und sank in sich zusammen. „Das ist blinde Rache, Miss Granger. Die Unverzeihlichen heißen aus gutem Grund so. Können Sie wirklich mit sich vereinbaren, dass ein anderer Mensch gefoltert wird?“
Hermine lachte kalt. „Wenn Tom mich lassen würde, würde ich den Fluch sprechen. Lestrange hat mich selbst mit dem Cruciatus gefoltert. Vielleicht macht mich das zu einem schlechten Menschen, aber ich werde keine Träne vergießen, wenn Lestrange die Schmerzen verspürt, die er mir angetan hat.“
Dumbledore schüttelte nur den Kopf. Seine Haltung war in sich zusammen gesunken, und er umklammerte mit beiden Händen die Lehne seines Sessels. Plötzlich sah er so viel älter aus. Doch Hermine weigerte sich, davon berührt zu sein. Dumbledore hatte Grindelwald überhaupt erst ermöglicht, die Zaubererwelt zu terrorisieren, und jetzt hielt er sich aus sentimentalen Gründen zurück, ihm ein Ende zu bereiten. Er hatte kein Recht, sie über die Unverzeihlichen zu belehren oder ihre Entscheidungen in Frage zu stellen.
„Wenn das dann alles wäre, Sir“, presste sie wütend hervor.
„Ja, Miss Granger. Ich denke, das war dann alles.“
Sie nickte einmal, dann drehte sie sich um und stapfte wutentbrannt aus dem Büro. Kaum war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen, sank sie gegen die kühle Steinwand und rutschte zu Boden. Tränen, die sie zuvor mühsam zurückgehalten hatte, schossen ihr in die Augen. Verzweifelt schluchzte sie auf. Alles war so verdreht, so furchtbar.
Und selbst der Gedanke, in einigen Monaten wieder in ihrer Zeit zu sein, munterte sie nicht mehr auf. Niemand dort würde sie verstehen können, genauso wie niemand hier sie verstehen konnte.
Sie war alleine und sie hatte sich das selbst zugefügt.