Er konnte nicht leugnen, dass ihn die Anwesenheit von Hermine Dumbledore am Tisch störte. Als er die Einladung zu diesem Treffen erhalten hatte, war er davon ausgegangen, dass es um etwas Geheimes ging. Schon seit letztem Jahr hatte er vermutet, dass Riddle etwas plante und einige ihrer Hauskameraden bereits darin eingeweiht hatte. Es hatte all seine Selbstbeherrschung gebraucht, um nicht von sich aus zu ihm zu gehen und ihn darauf anzusprechen. Ihn zu fragen, was er tun müsste, um zu der kleinen Gruppe an verschworenen Slytherins zu gehören. Als nun endlich eine Einladung von Riddle für dieses Treffen gekommen war, war er sicher gewesen, dass es endlich soweit war.
Doch schon, als er den Schankraum betreten hatte, hatte er Dumbledore erspäht. Am liebsten wäre er auf der Stelle umgekehrt. Nicht, dass er etwas gegen die neue Schülerin gehabt hätte. Aber ihre Anwesenheit zeugte davon, dass dies nur ein belangloses soziales Treffen war und nicht die erhoffte Eintrittskarte in den inneren Kreis von Tom Riddle.
Natürlich war er nicht umgekehrt. Wenn er so respektlos Riddle gegenüber gewesen wäre, hätte er vermutlich jegliche Chancen darauf, eines Tages dazu zu gehören, vertan. Also saß er hier stumm, ein Butterbier vor sich stehend, und lauschte den mehr als langweiligen Gesprächen über Schule und Noten und Lehrer.
„Was ist mit Ihnen, Mr. Dolohow?“
Überrascht schaute Antonin zu seiner Linken. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Dumbledore ihn direkt ansprechen würde. Dass sie überhaupt so aktiv am Gespräch teilnahm, obwohl Riddle am Tisch saß und der Gastgeber war, kam ihr so schon merkwürdig vor. Kurz wanderte sein Blick zu ihm, doch da Riddle gerade interessiert dem Gespräch auf der anderen Seite des Tisches lauschte, schien es in Ordnung zu sein, dass seine Freundin sich mit anderen unterhielt. Er gab sich einen mentalen Stoß und erwiderte: „Ich bin zuversichtlich, dass wir dieses Jahr gewinnen. Unsere Quidditch-Mannschaft ist so gut aufgestellt wie noch nie.“
Lestrange, der ihm gegenübersaß, beugte sich vor: „Sie können sich auf das Urteil von Dolohow verlassen, Miss Dumbledore. Er ist bereits seit seinem zweiten Jahr in der Hausmannschaft und hat alle Höhen und Tiefen mitgemacht.“
Angespannt presste Antonin beide Füße in den Fußboden. Gestern noch hatte Lestrange so getan, als würde er ihn nicht kennen, und heute erzählte er das Gegenteil. Er hasste diesen schleimigen Kerl, doch er wusste, dass er sich das nicht anmerken lassen durfte. Während er seine Zehen in seinen schweren Stiefeln zusammenrollte, um seine innere Wut loszuwerden, nickte er nach außen zustimmend und nahm einen Schluck vom Butterbier.
„Haben Sie vor, nach Hogwarts weiter Quidditch zu spielen?“, hakte Dumbledore nach.
Wenn Antonin ehrlich war, hatte er darüber zuvor nie nachgedacht. Er hatte keine Vorstellung davon, was er nach seinem Schulabschluss machen würde. Doch noch ehe er etwas antworten konnte, mischte sich erneut Lestrange ein. Ein freundliches Lächeln, das so offensichtlich unecht war, dass es schon beinahe eine Beleidigung war, zierte seine Lippen: „Ich bin mir sicher, dass Mr. Dolohow bereits jetzt Angebote aus der Amateur-Liga erhalten hat. Einen guten Treiber findet man nicht oft. Natürlich könnte er mit seinem überragenden Intellekt auch jeden anderen Karriereweg einschlagen, aber soweit ich das als Kapitän beurteilen kann, ist Quidditch die beste Option für ihn.“
Am liebsten hätte Antonin ihm sein Bier ins Gesicht geschüttet. Die Arroganz der Lestranges war bekannt, aber dieser hier schien es als Sport anzusehen, andere Zauberer zu beleidigen. Antonin hoffte, dass der Boden den Druck seiner Füße aushalten würde. Er würde sich seine Wut nicht anmerken lassen, indem er die Hände zu Fäusten ballte. So schwach war er nicht.
„Ich bin wahrlich begeistert davon, wie sehr Sie sich Gedanken über die Zukunft ihrer Mitschüler machen“, kam es da zuckersüß von Dumbledore. „Ich muss Sie jedoch bitten, Mr. Dolohow die Möglichkeit zu geben, für sich selbst zu antworten. Meine Frage war an ihn gerichtet, nicht an Sie, Mr. Lestrange.“
Schnell hob Antonin das Glas erneut an seine Lippen, um das breite Grinsen, das sich ausbreiten wollte, vor den anderen zu verbergen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass dieses kleine Mädchen so selbstbewusst mit einem Lestrange reden würde. Neugierig beobachtete er über den Rand seines Bierglases hinaus, wie Lestrange und Dumbledore sich kurz stumm anstarrten. Dann, zu seiner großen Überraschung, huschte ein Grinsen über die Lippen von Lestrange und er nickte: „Natürlich, Sie haben Recht, Miss Dumbledore. Wie Sie immer Recht haben. Verzeihen Sie mir die Einmischung.“
Etwas heftiger als gewollt stellte Antonin sein Glas wieder ab. Niemals hätte er gedacht, dass er den Tag erleben würde, an dem Rufus Lestrange vor einer Frau klein beigeben würde. Oder tat er das nur, weil sie die Freundin von Tom Riddle war und er fürchtete, diesen gegen sich aufzubringen?
„Also?“, richtete Dumbledore das Wort erneut an ihn: „Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?“
Er beugte sich etwas vor, darauf bedacht, Riddle neben sich nicht die Sicht zu versperren, aber nahe genug zu sein, um etwas leiser zu erklären: „Fluchbrecher für Gringotts vielleicht. Ich finde Flüche interessant.“
Interessiert beobachtete er, wie Dumbledore sich bei den Worten über ihr Dekolleté fuhr. War das nur eine unbedachte Geste, oder hatte sie das absichtlich getan, um ihn zu verführen? Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. Was für ein Spiel spielte diese Frau?
„Flüche, sagen Sie“, griff sie den Gesprächsfaden auf, während ihre Hand noch immer auf ihrer Brust ruhte: „Was fasziniert Sie daran so?“
Entschlossen, sich nicht von ihrer suggestiven Geste ablenken zu lassen, blickte er ihr direkt in die Augen: „Flüche werden oft gegen andere Lebewesen eingesetzt. Weil sie eng mit den Dunklen Künsten verwandt sind, wird ihnen oft nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet. Das führt dazu, dass viele Familien ihre eigenen Flüche entwickeln, die sie nur an Familienmitglieder weitergeben. Ich glaube, kaum ein anderes Feld der Zauberei ist so divers und wenig erforscht wie Flüche.“
Dumbledore legte den Kopf schief und schaute ihn mit so offenem Interesse an, dass Antonin für einen Moment mit sich kämpfen musste, um nicht zu erröten. Wie konnte diese Frau so offen sein? Warum sandte sie ihm solche Signale, während ihr Mann neben ihr saß? Ihre Augen leuchteten, als sie nachhakte: „Ich verstehe den Gedanken, aber warum dann Fluchbrecher? Und ausgerechnet Gringotts?“
Wenn er ehrlich war, hatte er da noch nie wirklich drüber nachgedacht. Er wusste nicht einmal, ob er sich wirklich dafür interessierte. Die Zeit nach Hogwarts erschien ihm noch so fern. Fluchbrecher war bisher das einzige gewesen, was ihm irgendwie interessant erschienen war. Nachdenklich rieb er sich das Kinn: „Ich glaube, dass man nirgendwo mit so interessanten Flüchen in Berührung kommt wie bei Gringotts.“
Ein Grinsen, das Antonin nur als verschlagen beschreiben konnte, erschien auf Dumbledores Lippen: „In der Tat. Wie viele Narren wohl täglich versuchen, Gringotts zu überfallen? Und wer weiß, womit die Verliese alter Zaubererfamilien so alles gesichert sind? Ganz zu schweigen von den Schutzzaubern der Kobolde, die gewiss Flüchen nicht unähnlich sind.“
„Und man hat mit Drachen zu tun!“, warf James plötzlich ein.
„Habe ich da Drachen gehört?“, kam es von Riddle, der nun offenbar auch auf das Gespräch aufmerksam geworden war.
„Mr. Dolohow hat von seinem Interesse an Gringotts erzählt, deswegen hat Mr. Mulciber Drachen erwähnt“, klärte Dumbledore ihn schnell auf.
Die übrigen Gespräche am Tisch verstummten. Unsicherheit machte sich in Antonin breit. Hatte er sich doch zu weit aus dem Fenster gelehnt, indem er sich mit Hermine Dumbledore unterhalten hatte, ohne zuvor Riddle zu fragen? Aber Lestrange, der beide besser kannte als er, hatte keinerlei Hinweis darauf gegeben, dass er sich auf dünnem Eis befand. Oder hatte er ihn absichtlich ins offene Messer laufen lassen?
„Planen Sie einen Überfall auf Gringotts, Mr. Dolohow?“, erkundigte Riddle sich lachend.
Abwehrend hob er beide Hände: „Aber nein, im Gegenteil. Miss Dumbledore erkundigte sich nach meinen Zukunftsplänen und ich äußerte lediglich, dass ich Interesse daran hätte, als Fluchbrecher für Gringotts zu arbeiten.“
Hermine musste sich ein Grinsen verkneifen. So selbstbewusst Dolohow am Vortag noch gewirkt hatte, so unsicher erschien er nun in der Gegenwart von Tom. Sie hätte niemals vermutet, dass dieser russische Riese so viel Respekt vor einem anderen Menschen haben konnte. Dass er sich für Flüche interessierte, verwunderte sie kaum, immerhin war er für die verblasste Narbe zwischen ihren Brüsten verantwortlich. Es war allerdings beinahe komisch, wie sehr er sich darum bemühte, vor Tom nicht als jemand, der Regeln brechen wollte, dazustehen.
„Ich hoffe, Sie sind sich darüber im Klaren, dass Ihre kleine Aktion gerade eben nicht unerwidert bleiben wird?“
Überrascht drehte Hermine sich zu Lestrange um, der die wieder aufkeimenden Gespräche am Tisch genutzt hatte, um ihr leise seine eisigen Worte zuzuraunen. Ohne ihn anzuschauen erwiderte sie: „Sie sind ein schlechter Slytherin, wenn Sie Ihre Rache ankündigen. Ich dachte, Schlangen attackieren aus dem Hinterhalt?“
„Ich glaube, du hast vergessen, wo dein Platz ist“, zischte Rufus kühl.
Ein Schauer rann ihren Rücken hinunter. Sie durfte nicht vergessen, wie intelligent und bösartig dieser Zauberer sein konnte, Waffenstillstand hin oder her. Tom hatte selbst gesagt, dass Lestrange zu einem Problem werden konnte, und wenn er ein Problem für Tom darstellen könnte, dann ganz sicher auch für sie. Sie schluckte den Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, hinunter und gab ebenso leise zurück: „Dein Selbstbewusstsein ist aber arg empfindlich, wenn dich so eine Kleinigkeit so aus dem Gleichgewicht bringt.“
Ihr Blick wanderte zu den anderen Personen am Tisch. Abraxas hatte sich inzwischen ebenfalls in das Gespräch über Gringotts eingeklinkt, während auf der anderen Seite zwischen Orion, Nott, Avery und Rosier eine hitzige Diskussion über die diesjährigen Chancen der Slytherin-Mannschaft auf dem Quidditch-Pokal ausgebrochen war. Da der Nachmittag später wurde, waren zudem mehr Gäste im Eberkopf, so dass die Lautstärke insgesamt zugenommen hatte.
Sie wünschte, Abraxas würde sich zurücklehnen, oder zumindest seine Aufmerksamkeit von dem Gespräch nehmen. Wie konnte er nicht mitbekommen, was sich zwischen ihr und Lestrange abspielte, obwohl er zwischen ihnen saß? Oder ignorierte er es absichtlich? Nein, das konnte es nicht sein. Dazu kannte sie ihn inzwischen zu gut. Er würde sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit beschützen, selbst vor einem Freund wir Rufus Lestrange.
„Du beginnst zu begreifen.“
Lestrange musste sich keine Mühe geben, seine Worte in einen drohenden Tonfall zu verpacken. Sein Blick, der auf dem Rücken von Abraxas ruhte, war genug. Also hatte sich doch irgendetwas in ihrem Verhältnis geändert. Sie hatte Tom gewarnt, dass es gefährlich werden könnte, wenn er Abraxas weiter unter Druck setzte. Sie hatte darüber gesprochen, dass Lestrange sich auffällig um Abraxas zu bemühen schien. War dies das Ergebnis davon?
„Glaub mir, Hermine“, fuhr Rufus fort, ein gefährliches Glitzern in den Augen, als er ihren Namen betont aussprach: „Wenn die Zeit kommt, wirst du dir wünschen, uns nicht so vor den Kopf gestoßen zu haben.“
„Uns?“
„Lestrange. Malfoy. Black.“
Kurz huschte Hermines Blick zu Orion. Hatte sie den Jungen auch gegen sich aufgebracht, als sie seine Zudringlichkeit abgeblockt hatte? Grimmig ballte sie die Fäuste: „Du bist mutig, Lestrange. Sehr mutig für jemanden, der ohne Widerstand das Zeichen eines anderen Zauberers angenommen hat.“
Sie sah, wie Lestrange erbleichte. Gut. Sollte er sich ruhig daran erinnern, dass er sich wie ein Schaf hatte brandmarken lassen. Doch er fing sich schneller als gedacht: „Was ist schon ein Zeichen? Wenn Riddle glaubt, mit diesem Zeichen auch unsere andauernde Loyalität bekommen zu haben, irrt er.“
Hermine nickte. Natürlich, noch wusste keiner von den zukünftigen Todessern, was dieses Mal bedeutete. Was es konnte. Wie von selbst formten ihre Lippen ein grausames Lächeln: „Na, dann ist ja gut. Dann wird es dir gewiss nichts ausmachen, wenn ich Tom berichte, dass du nicht länger an seiner Führerschaft interessiert bist.“
Lestranges Lippen verzogen sich zu einem harten Strich, doch er schien ebenso wenig wie sie bereit, den Rückzug anzutreten: „Nur zu.“
„Wundervoll“, flötete Hermine.
Dann drehte sie Lestrange absichtlich den Rücken zu und lehnte sich näher an Tom. Ihre Hand glitt unter dem Tisch auf seinen Oberschenkel, wo sie sofort von seiner erfasst wurde. Er schaute sie nicht an, doch sie wusste, er hatte ihr Signal verstanden. Mit halbem Ohr lauschte sie den anderen Unterhaltungen, während sie darauf wartete, dass Tom die Runde aufhob.
Sie hatten Recht gehabt mit ihren Bedenken. Lestrange war ganz offensichtlich nicht untätig geblieben. Er hatte Abraxas auf seine Seite gezogen und anscheinend auch Orion erwischt. Sie wusste nicht, ob er eigene Pläne hatte, oder ob er einfach nur Tom hintergehen wollte, weil sein Stolz verletzt war. Fest stand jedoch, dass sie handeln mussten.
Hermine wusste, dass die Familie Lestrange treu an der Seite von Voldemort gestanden hatte. Irgendwie würde es ihnen also gelingen, diesen Konflikt zu Toms Gunsten aufzulösen. Es gab einen Weg, nur ob sie ihn finden würde, war noch die Frage.