Die Planung ging gut voran. Er hatte inzwischen ihren Stundenplan auskundschaften können, so dass er wusste, wann er am besten zuschlagen konnte. Avery und Black waren im Boot, beide mehr als willig, ihm zu helfen. Es fehlte nur noch das Gespräch mit Nott, um seinen Plan endlich umsetzen zu können.
Noch vor Weihnachten würde er dafür sorgen, dass wieder alles beim Alten war. Tom Riddle würde ohne Ablenkung an seiner Vision Arbeit, während er, Rufus Lestrange, endlich allen beweisen konnte, dass er die unangefochtene Nummer Zwei war.
***
Hermine konnte sich nicht helfen, sie fühlte sich beobachtet. Die ganzen letzten Tage schon hatte sie das Gefühl, von mehreren verschiedenen Menschen heimlich angestarrt zu werden.
Ihr Gespräch mit Tom hatte da wenig Abhilfe leisten können. Was auch immer in ihm vorging, er war plötzlich wieder ähnlich abweisend wie zu Anfang. Sein Verhalten verletzte sie, und dass sie so fühlte, machte sie wütend. Es war gut, dass sie heute seit langem mal wieder zu einem Gespräch mit ihrem angeblichen Onkel geladen war. Sie hatte sich so in ihrer Beziehung zu Tom verstrickt, dass sie beinahe vergessen hätte, warum sie eigentlich hier war.
Entschlossen klopfte sie an die Bürotür.
Professor Dumbledore öffnete ihr die Tür mit einem warmen Lächeln. Erst, als sie sah, wie freundlich er ihr gesinnt war, bemerkte Hermine, wie hoch ihre Anspannung gewesen war. Ein Teil von ihr befürchtete, dass er mit ihr schimpfen würde, weil sie so wenig Fortschritte gemacht hatte. Jetzt, da sie sein bekanntes, freundliches Gesicht sah, ging ihr auf, wie absurd dieser Gedanke war.
Entspannt ließ sie sich auf den dargebotenen Stuhl sinken, während Dumbledore eine zweite Tasse für sie aus einem der Schränke holte. Als er selbst Platz genommen und Tee eingeschenkt hatte, fühlte sie sich bereit, über die vergangenen Wochen zu sprechen.
„Ich komme nicht so voran, wie ich es mir gewünscht hätte“, fing sie langsam an, nachdem sie einen ersten Schluck des goldbraun schimmernden Tees genommen hatte.
Dumbledore schaute sie nur unverwandt an, so dass sie gezwungen war, ihre Sorgen genauer zu erläutern. „Ich dachte, es wäre mir gelungen, Toms Vertrauen zu wecken, doch in den letzten Tagen ist er merkwürdig verschlossen.“
Ihr Professor faltet die Arme vor der Brust und überlegte laut: „Kann er ahnen, was sie vorhaben?“
Überzeugt schüttelte sie den Kopf: „Nein, in dem Punkt bin ich mir sicher. Er weiß nichts über meine wahre Identität und er hat keinen Anlass, mir zu misstrauen.“
Mit Besorgnis im Blick schaute er zu ihr: „Einige Zauberer aus seinem Umfeld haben diese Woche ein paar Fragen über sie gestellt.“
Unwohlsein stieg in Hermine auf. Sie konnte sich denken, wer genau gemeint war, nur die Absicht war unklar. „War Mr. Lestrange unter ihnen?“
Dumbledore nickte, doch erwiderte er nichts darauf. Er schaute sie nur weiter an, als würde er darauf warten, dass sie ihm erklärte, was genau um ihn herum geschah. Seufzend fuhr sie sich durch ihre Haare. „Mr. Lestrange und einige andere Schüler schätzen es nicht, dass Tom und ich viel Zeit miteinander verbringen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er etwas plant, aber ich weiß nicht, was es ist, und Tom nimmt mich nicht ernst, wenn ich meine Sorgen darüber ausdrücke.“
Ihr zukünftiger Schulleiter hob die Augenbrauen: „Ich würde Tom generell nicht als jemanden einschätzen, der sich um andere sorgt.“
Als hätte er sie geschlagen, zuckte Hermine zurück. Ihr Blick fiel auf die Teetasse, die sie noch immer in den Händen hielt. Dumbledore hatte Recht. Und trotzdem. Sie war sich so sicher gewesen, dass Tom inzwischen mehr für sie empfand. Dass er Interesse an ihrem Wohlergehen hatte. Dass sie anders war als alle anderen hier.
Entschlossen stellte sie die Tasse zurück. Dumbledore musste nicht über ihre Beziehung zu Tom wissen, er stellte sie sowieso nur in Frage. Viel wichtiger war die Frage nach dem Zeitumkehrer. All ihre Pläne hier waren irrelevant, solange sie keinen Weg zurück in die Zukunft gefunden hatte.
„Konnten Sie in der Zwischenzeit mit Mr. Flamel an dem Zeitumkehrer arbeiten?“
Für einen Augenblick noch schaute Dumbledore sie an. Sie spürte deutlich, dass er unzufrieden mit ihr war und ihr Tun nicht guthieß. Sie war jedoch nicht bereit, sich ihm zu beugen. Seine Pläne waren nicht perfekt, wie sie, Ron und Harry schmerzhaft erfahren mussten, und zum jetzigen Zeitpunkt hatte er noch nichts gegen Grindelwald unternommen, obwohl er es könnte. Er hatte kein Recht, ihr Handeln zu verurteilen.
Als könnte er ihre Entschlossenheit spüren, wich sein durchdringender Blick schließlich einem warmen Lächeln. Zufriedenheit lag in seiner Stimme, als er erklärte: „Nicolas konnte den gefundenen Spruch rekonstruieren. Wir sind nun also in der Lage, den Zeitumkehrer so zu verhexen, dass er seine magischen Eigenschaften unabhängig von der Form halten kann.“
Hermines Mund klappte auf. Dumbledore hatte das einfach so gesagt, als wäre es lediglich ein kleiner Fakt auf der Suche nach einer Lösung für sie. Errötend schloss sie den Mund wieder und lehnte sich vor. „Sie haben … Sie haben einen Zauber gefunden, der die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der Materie auf den Kopf stellen kann?“
Auch ihr Professor beugte sich nun vor und legte beide Arme auf seinem großen Schreibtisch ab. Kopfschüttelnd erwiderte er: „Nein, das haben wir nicht. Das war der Plan, doch uns ging beiden recht schnell auf, dass so ein Zauber vermutlich große Wirkung gehabt hätte und die Forschung verändern würde. Da Sie selbst keinen solchen Zauber kannten und dieselben Gesetzmäßigkeiten im Kopf hatten wie wir, war es unwahrscheinlich, dass es in Ihrer Zeit einen solchen Zauber gegeben hätte.“
Langsam öffnete er eine Schublade des Schreibtisches und zog den noch immer geschmolzenen Zeitumkehrer heraus, um ihn dann zwischen ihnen hinzulegen.
„Was Sie hier sehen, ist zerstörte Materie“, erklärte er. „Das Gold ist geschmolzen und mit ihm das Glas. Der Sand ist vermutlich einfach ausgelaufen und auf dem Weg verschwunden. Nach allen Definitionen ist alles, was den Zeitumkehrer ausgezeichnet hat, nicht mehr da.“
Hermine nickte, obwohl sie noch nicht genau verstand, worauf Professor Dumbledore hinauswollte. „Er hat ja aber ganz offensichtlich noch seine magische Wirkung behalten. Wie das?“
„Nicolas hat sich mal wieder als wahrer Meister der Elemente erwiesen“, meinte Dumbledore grinsend. „Die Verzauberung dieses Zeitumkehrers ist nicht gebunden an die Form des gesamten Gebildes, sondern an die Form des Goldes. In der Alchemie lernen Sie gewiss auch über die Elemente, richtig?“
Wieder nickte Hermine.
„Wir haben herausgefunden, dass der Zauberspruch zum Umkehren der Stunden im Falle dieses Zeitumkehrers an die spezielle Form des Elements Gold gebunden ist. Er ist solange aktiv, wie das Gold existiert. Das wiederum ist nur aufgrund der besonderen chemischen Eigenschaften des Goldes möglich.“
Dumbledore sprach jetzt in einem Tonfall, den Hermine aus seinen Unterrichtsstunden kannte. Er sprach nicht mehr zu ihr direkt, sondern als wäre ein ganzer Raum von Schülern anwesend.
„Viele Stoffe brechen leicht, wenn man zu große Kräfte auf sie einwirken lässt. Manche wie Glas brechen ohne Vorwarnung, andere wie Stahl verbiegen sich zunächst. Diese Eigenschaft wird in der Alchemie als Duktilität bezeichnet. Wie sehr kann sich ein Stoff verformen, ehe er bricht? Die Duktilität von Gold ist so hoch wie von keinem anderen Stoff. Das wirkt sich natürlich auf die Zerstörbarkeit des Goldes aus. Und genau deswegen war es Nicolas möglich, die magischen Eigenschaften an das Element selbst zu binden.“
Hermines Kopf schwirrte. Sie verstand, was Dumbledore ihr erklärte, aber sie spürte, dass sie trotzdem nicht verstand, wie der Zauber sich an ein Element anstatt an die Form des Zeitumkehrers binden lassen konnte. Woher wusste das Gold, wie oft die kleine Sanduhr sich gedreht hatte?
Während sie darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass sie generell nicht verstand, wie ein Zauber sich auf einen Gegenstand so auswirken konnte, dass der Gegenstand von alleine magische Eigenschaften haben konnte. Sie wusste, dass es ging, sie konnte selbst Gegenstände verzaubern, doch sie hatte nie darüber nachgedacht, wie es geschah. Jetzt, wo sie sich plötzlich mit der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, die sie als Muggel kennengelernt hatte, und Zauberei, die sie in Hogwarts erlernt hatte, konfrontiert sah, ging ihr auf, dass nichts von alledem Sinn ergab.
Wie konnte Nicolas Flamel mit den wissenschaftlichen Regeln der Muggel Zauber erschaffen?
Sie schüttelte den Kopf. Es war egal, ob sie es verstand oder nicht. Wichtig war nur, dass es funktionierte oder funktionieren würde oder funktioniert hatte. Tief holte sie Luft.
„Mit anderen Worten, alle Probleme des Zeitumkehrers sind gelöst?“ Sie schaute Dumbledore direkt an, während sie an einer Hand aufzählte: „Die magische Wirkung des Zeitumkehrens ist nicht länger an die Form gebunden. Ein Stärkungszauber wird darauf liegen, um zu verhindern, dass er sich in Nichts auflöst, wenn er mich viele Jahre in die Vergangenheit trägt. Und ein Verwechslungszauber wird dafür sorgen, dass er nicht Stunden, sondern Jahre beeinflusst. Alles für meine Zeitreise ist geklärt, richtig?“
Dumbledore lehnte sich wieder zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. „Das ist richtig. Das Wie ist geklärt. Das Wann auch, denn wir wissen, dass Sie noch mindestens ihr Portrait malen lassen werden. Ihrer Rückkehr steht nichts mehr im Wege.“
Sie hätte Erleichterung spüren sollen, doch stattdessen bemerkte Hermine, dass sie gar nichts fühlte. Was brachte es ihr, in die Zukunft zurück zu können, wenn sie mit leeren Händen dastand?
Wie sollte sie in der Zukunft weiterleben nach all dem, was ihr hier widerfahren war?
Sie würde Abraxas nie wiedersehen, denn er lebte nicht mehr in ihrer Zeit.
Sie würde Tom wiedersehen – als Monster, das seine Seele geopfert hatte.
Ganz entfernt spürte sie die alt bekannte Schwärze in sich hochsteigen. Ihre Finger verknoteten sich ineinander, während sie verzweifelt versuchte, gegen die aufkommende Panik anzukämpfen.
„Das ist … das sind gute Nachrichten“, flüsterte sie leise, ohne zu ihrem Professor aufzublicken. Sie wollte nicht mehr hier sein, sie wollte weg, alleine sein, in ihrem Zimmer die Decke über den Kopf ziehen.
„Ich dachte mir, dass Sie das freuen würde“, stimmte Dumbledore zu, der entweder nicht bemerkte, wie es ihr ging, oder sich absichtlich ignorant zeigte.
Mit zitternden Knien erhob Hermine sich von ihrem Stuhl. „Dann wäre das alles, was es zu besprechen gibt, denke ich. Ich würde mich für heute gerne wieder zurückziehen.“
„Wenn Sie noch irgendetwas von mir brauchen“, sagte Dumbledore mit ernster Stimme, „egal, was es ist, Sie wissen, ich bin immer hier für Sie. Scheuen Sie sich nicht, zu mir zu kommen.“
Sie nickte hastig, dann drehte sie sich um und floh regelrecht aus seinem Büro.
Als die Tür hinter ihr zugefallen war, ließ sie sich gegen die kühle Steinwand sinken. Sie konnte ihr Herz im ganzen Körper klopfen spüren, viel zu schnell, viel zu hart. Tränen stiegen ihr in die Augen und verschleierten ihren Blick. Verzweifelt holte sie Luft, doch egal, wie tief sie einatmete, es schien nie genug zu sein. Schwindel und Übelkeit machten sich breit.
War das die Zeit, die ihr sagte, dass sie hier nicht länger willkommen war? Die Panik, die sie runter zu kämpfen versuchte, verschlang sie völlig. Sie spürte nichts anderes mehr als diese Angst. Angst, dass sie hier sterben würde. Angst, dass sie jetzt sterben würde, in diesem Moment. Tränen flossen über ihre Wangen, während sie ihr Gesicht in ihren Armen vergrub und zu Boden sank. Sie zog die Beine an, machte sich klein.
Sie wollte nach Hause, in ihr Bett, in ihr Zimmer. Zu ihren Eltern.
Ihre Eltern, die nicht einmal mehr wussten, dass sie existierte.
Ein lautes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Als wäre ein Damm gebrochen, folgten weitere Schluchzer.
Sie war so einsam hier. So überfordert von allem. Sie sehnte sich nach einem freundlichen Gesicht. Eine einfache Umarmung von jemandem, der es gut mit ihr meinte und sie trösten wollte.
Sie war einfach so alleine.