Von einem Fenster im dritten Stock sah Hermine, dass Markus Longbottom alleine auf einer Bank draußen auf den Ländereien saß. Nachdenklich fuhr sie sich übers Kinn. Sie wusste, dass Tom gerade bei Professor Slughorn für ein langes Gespräch über seine Zukunft war, das Risiko also, ertappt zu werden, war gering. Sie brannte darauf zu erfahren, wie es Augusta ging. Hermine wusste, dass es nur ihr schlechtes Gewissen war, das beruhigt werden wollte, das hören wollte, dass alles in Ordnung war und Augusta keine bleibenden Schäden davon tragen würde. Dennoch gab sie dem Impuls nah.
Nach einem kurzen Abstecher in ihr Zimmer, um ihren Mantel zu holen, steuerte sie zielstrebig auf die Bank zu, auf der Markus noch immer saß. Der kalte Novemberwind zerrte an ihr und trug das Versprechen von Schnee mit sich.
„Mr. Longbottom“, begrüßte sie ihn mit einem unsicheren Lächeln. Obwohl sie zuletzt sehr freundlich miteinander verkehrt waren, war Hermine sich nicht sicher, ob er ihr noch immer wohl gesonnen war.
Zu ihrer Erleichterung erwiderte er das Lächeln: „Miss Dumbledore, hallo. Welche Ehre, Sie zu Gesicht zu bekommen.“
Etwas schuldbewusst ließ sie sich neben ihm nieder. Es war ja nun nicht so, dass sie sich nie sehen würden, immerhin teilten Slytherin und Gryffindor diverse Kurse miteinander. Aber sie sprachen nie miteinander. Es war, als hätte die kurze Freundschaft zwischen ihr und den drei Löwen nie existiert.
„Wie geht es Miss Bargeworthy?“, fragte sie gerade heraus. Sie wusste, dass Markus wusste, dass sie diese Frage stellen wollte, also brachte es nichts, höfliche Konversation zu machen.
Ein nachdenklicher Ausdruck trat in seine Augen: „Ich bin mir nicht sicher. Sie ist nicht mehr dieselbe, wie sie früher war. Irgendetwas in ihr ist anders. Und ich meine nicht nur wegen dem, was vorgefallen ist. Vielleicht war das der Auslöser, ich weiß es nicht. Sie ist härter geworden. Sie war noch nie so sanft und zurückhaltend wie andere junge Mädchen, aber jetzt ist das mehr. Sie scheint entschlossen. Sie lässt sich nichts mehr gefallen, von niemandem.“
Das Bild von Nevilles Großmutter trat vor ihre Augen. Die alte Dame war hart im Nehmen und unbarmherzig, wenn man sich ihr in den Weg stellte. Niemals hätte Hermine gedacht, dass sie ein Auslöser dafür gewesen sein könnte. Doch sie verstand, was in dem Mädchen gerade vermutlich vor sich ging: „Sie hat entschieden, nie wieder ein Opfer zu sein.“
Verwirrung spiegelte sich in den Augen von Markus: „Wie bitte?“
Hermine ließ ihren Blick über die Ländereien von Hogwarts gleiten, während sie erklärte: „Wenn man Opfer einer Gewalttat war, muss damit sein Leben lang leben. Die Erinnerung verschwindet nicht. Sie prägt einen. Viele Menschen leiden ihr Leben lang darunter, sind ängstlich, zurückhaltend oder misstrauisch. Sie werden geplagt von der Angst, jederzeit wieder Opfer werden zu können. Gewalt, wie Miss Bargeworthy sie erfahren hat, lässt einen völlig schutzlos zurück. Sie konnte sich nicht wehren und hatte keine Kontrolle. Die Panik, dass es wieder passieren könnte, kann einen verschlingen. Aber was Sie beschreiben, klingt danach, als hätte sie sich entschieden, ihr Leben nicht in Angst zu leben.“
Noch immer schien Markus nicht zu verstehen, denn sein Tonfall klang zweifelnd, als er erwiderte: „Aber man kann doch nicht einfach entscheiden, ob man Angst hat oder nicht.“
Zustimmend nickte Hermine, während sie ihren Blick wieder auf ihn richtete: „Richtig, das geht natürlich nicht. Aber man kann sich entscheiden, wie man darauf reagiert. Lässt man sich davon beherrschen? Lässt man sein Verhalten von der Angst bestimmen? Oder entscheidet man sich dafür, der Angst ins Gesicht zu sehen und gerade, weil man Angst hat, in die Welt hinauszugehen, mit Menschen zu reden, Gesellschaft zu suchen?“
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Hermine wusste nicht, ob sie Augusta richtig einschätzte, doch die Frau, die ihr Neville beschrieben hatte, hatte vor nichts und niemandem Angst. Oder zumindest ließ sie es sich niemals anmerken. Verstohlen schaute sie Markus an. Der junge Gryffindor schien immer noch mit sich zu kämpfen, als wollte er nicht verstehen, was sie gesagt hatte.
„Augusta ist gerade sechzehn“, flüsterte er schließlich mit rauer Stimme: „Sechzehn! Wie kann sie … wie kann sie so stark sein?“
Mit einem traurigen Lächeln erinnerte Hermine sich an die Dinge, die sie, Harry und Ron mit sechzehn bereits erlebt und durchgemacht hatten. Der Welt war es egal, wie alt man war. Vorsichtig meinte sie: „Jeder Mensch ist so stark, wie er sein muss. Und mit Ihnen an ihrer Seite kann Miss Bargeworthy sehr stark sein. Wenn sie jemanden hat, der absolut zu ihr steht und für sie da ist, kann sie über das Geschehene hinauswachsen.“
„Aber ich mache doch gar nichts“, hauchte Markus, ohne Hermine anzusehen.
„Sie lieben sie“, widersprach Hermine sanft: „Sie lieben sie, obwohl Sie wissen, was geschehen ist. Das ist das wichtigste überhaupt. Es macht auch Sie stark, Mr. Longbottom. Nicht jeder Mann könnte das.“
„Was wäre ich für ein Mann, wenn ich Augusta für etwas fallen lassen würde, was nicht ihr verschulden war?“, entgegnete er heftig: „Welcher Mann mit Selbstachtung würde eine Frau deswegen fallen lassen? Es ändert doch nichts an ihr! Sie ist doch immer noch Augusta.“
Eindringlich nickte Hermine: „Absolut richtig. Aber nicht jeder denkt wie Sie, glauben Sie mir. Aber dass Sie so denken und das zeigen, hat Augusta gezeigt, dass sie immer noch liebenswert ist. Und das brauchte sie. Sie haben selbst gesagt, dass sie aufgeblüht ist, nachdem Sie ihr den Heiratsantrag gemacht haben. Alleine das zeigt Ihnen doch, wie wichtig Sie für sie waren.“
Schweigend nickte Markus. Hermine blieb stumm. Es war für diesen jungen Mann vermutlich trotz all seiner Überzeugungen nicht einfach, an Augustas Seite zu bleiben. Wer wusste, wie sie auf Zärtlichkeit, auf die Berührung eines Mannes reagierte? Aber er wollte für sie da sein, und das war alles, was zählte.
„Kann ich Sie etwas ganz anderes fragen?“, brach Markus abrupt das Schweigen.
Gegen ihren Willen spürte Hermine, wie sie sich innerlich wappnete. Sie hatte von diesem Menschen nichts zu befürchten, dennoch ging alles in ihr in eine Abwehrhaltung. Den Mund zu einer grimmigen Linie verzogen nickte sie.
„Wissen Sie, was mit Orion Black geschehen ist?“
Beinahe hätte sie erleichtert aufgeatmet. Es ging nicht um sie. Natürlich ging es nicht um sie. Was hatte sie nur gedacht. Offen gab sie die Frage zurück: „Inwiefern meinen Sie, dass etwas mit ihm geschehen ist?“
Unsicher zuckte Markus mit den Schultern: „Ich kann es nicht genauer beschreiben. Augusta sprach letztens über ihn. Wie zurückgezogen er sei. Und schreckhaft. Er scheint kaum einem Menschen mehr in die Augen schauen zu können. Er ist in Ihrem Haus, daher dachte ich, Sie wüssten vielleicht etwas.“
Grimmig ballte Hermine ihre Fäuste. Sie wusste, oder ahnte zumindest, was in dem jungen Black vor sich ging. Tom hatte ihn wunderbar manipuliert und jetzt wusste der Junge offenbar nicht mehr, wer er war und was er glauben sollte. Homosexualität war ein schwieriges Thema. Dass Tom das einfach so ausnutzen wollte, um sich die Loyalität der Black-Familie zu sichern, war verachtenswert. Zumal sie daran zweifelte, dass der Junge wirklich schwul war. Toms Charisma und seine beängstigende Ausstrahlung konnten bei einem jungen, unsicheren Mann schon Gefühle auslösen, die mit Attraktion leicht zu verwechseln waren.
„Ich ahne, was geschehen ist. Und wer dafür verantwortlich ist“, sagte sie knapp. Ihr Blick war hart, als sie sich von der Bank erhob: „Ich werde sehen, was ich tun kann. Vielen Dank für Ihre Offenheit, Mr. Longbottom. Mir liegt am Wohl aller meiner Hausgenossen.“
Verwirrung und etwas, was wie Misstrauen aussah, spiegelte sich in seinen Augen: „Sie wissen, wer dafür verantwortlich ist? So wie Sie das sagen …“
Augenblicklich schüttelte sie den Kopf: „Sprechen Sie es nicht aus, ich werde es sowieso nicht bestätigen oder leugnen. Aber ich werde versuchen, etwas an der Situation zu ändern, das verspreche ich Ihnen.“
Etwas in ihrem Gesicht musste ihre Unzufriedenheit gezeigt haben, denn sofort verschwand das Misstrauen aus seinem Gesicht und machte Verständnis Platz. Mit einem schiefen Lächeln erwiderte Markus: „Sie haben merkwürdige Beziehungen, Miss Dumbledore, aber ich vertraue Ihnen.“
Mit gespielter Missbilligung zog Hermine eine Augenbraue hoch: „Ein Löwe sollte niemals einer Schlange trauen. Sie enttäuschen mich.“
Gemeinsam lachten sie über ihre Worte, doch Hermine wusste tief in ihrem Innern, dass es viel ernster war, als sie vorgab. Auch wenn sie keinen Schaden anrichten wollte, konnte sie nicht wissen, ob sie nicht doch irgendwann im Laufe des Schuljahres erneut mit den drei Gryffindors zusammenstoßen würde. Sie hoffte, dass Markus klug genug war, sich weiterhin von ihr fernzuhalten.
oOoOoOo
Hermine war gerade dabei, sich für die Nacht umzuziehen, als es an ihrer Tür klopfte. Überraschung und Angst überfielen sie. Um diese Uhrzeit konnte das nur ein anderer Schüler sein. Sie schluckte und zwang sich, die Angst nicht in ihrem Gesicht zu zeigen. Irgendwo in ihrem Hinterkopf schrie eine panische Stimme, dass es eine verdammt dämliche Idee gewesen war, sich in solcher Offenheit mit Markus zu treffen. Die Stimme war überzeugt, dass Tom sie gesehen hatte.
Leise öffnete sie die Tür, und ohne zu fragen oder zu grüßen, trat Tom ein.
„Tom“, sagte sie langsam, nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte: „Was führt dich um diese Zeit her?“
Sein Gesichtsausdruck war nicht lesbar, als er sich zu ihr umdrehte: „Brauche ich einen Grund, meine Herzensdame besuchen zu wollen?“
Unsicher folgte Hermine ihm zu ihrem Bett. Die Selbstverständlichkeit, mit der er sich in ihrem Zimmer bewegte, sich auf ihr Bett setzte, führte ihr nur noch einmal vor Augen, wie sehr sich ihr Verhältnis in den letzten Wochen geändert hatte. Noch gestern hatten sie bei dem Treffen von Slughorns Club beide festgestellt, wie sehr sie sich zueinander hingezogen fühlten. Doch was war das jetzt? Warum dieser Ausdruck auf seinem Gesicht, diese Maske?
Für einige lange Minuten saßen sie schweigend nebeneinander auf ihrem Bett. Nervosität breitete sich wie kaltes Eis in Hermines Körper aus. Hatte er sie heute gesehen? Hatte sie irgendetwas anderes getan, was ihm missfiel? Hatte sie ihn verärgert? Sie wappnete sich für das Schlimmste.
„Ich verstehe es nicht“, sagte Tom schließlich nach einer zu langen Zeit. Seine Stimme klang kühl, emotionslos, doch Hermine ließ sich nicht täuschen. Das war die Stimme, die er nutzte, wenn es ihm nicht mehr gelang, seine Gefühle zu kontrollieren. Angespannt wartete sie seine nächsten Worte ab.
„Slughorn hat sich verändert. Er lässt mich nicht mehr an sich ran. Und er tut das auf seine verdammte, schmierige Art und Weise. So jovial, so freundlich und zuvorkommend. Leere Phrasen, dass er immer für mich da sei. Aber sobald ich auch nur andeute, dass ich ihn etwas fragen will, was nicht mit Zaubertränke zu tun hat, blockt er ab. Ich verstehe es nicht.“
Erleichterung durchströmte Hermine. Es ging nicht um sie. Sie schloss kurz die Augen, um sich ihre offensichtlich unpassenden Gefühle nicht anmerken zu lassen. Als sie sie wieder öffnete, legte sie ihre Hand auf seine: „Professor Slughorn ist ein Opportunist. Du solltest das besser als jeder andere wissen.“
Wütend wischte er ihre Hand bei Seite: „Das weiß ich! Hör auf, mich zu belehren!“
Getroffen rückte sie ein Stück von ihm ab: „Was ist dann das Problem?“
Als wäre plötzlich ein Damm gebrochen, packte Tom sie und zwang sie auf den Rücken. Lodernde Wut stand in seinen Augen: „Slughorn weiß Dinge! Dinge, die in keinem der Bücher hier in der Bibliothek stehen. Und er will sie nicht mit mir teilen. Nicht mehr. Früher war er anders. Er hat mir so viel erzählt. Aber jetzt nicht mehr. Seit fast einem Jahr schon nicht mehr! Seit …“
Plötzlich ließ er von ihr ab und richtete sich wieder auf. Ein nachdenklicher Ausdruck war in seine Augen getreten. Schwer atmend starrte Hermine zu ihm hinauf. Tom war gefährlich, wenn er wütend war, egal ob sie der Grund war oder nicht. Für einen Moment war die alte Angst, die sie in seiner Nähe gespürt hatte, wieder dagewesen. Nichts als Panik hatte ihren Körper beherrscht. Während Tom nachdachte, kämpfte sie die Panik nieder. Sie hatte keinen Grund, Angst vor Tom zu haben. Er würde ihr nichts tun. Er würde sie nicht töten.
Während ihre Angst sich langsam legte, dachte Hermine über das Gehörte nach. Offenbar hatte Tom heute etwas von Slughorn erfahren wollen, aber der hatte abgeblockt. Sie hatte bis zu diesem Zeitpunkt nie irgendetwas gesehen, was daraufhin deuten würde, dass Slughorn ihm irgendwie feindlich gesonnen war. Warum also schien er Tom keine Informationen mehr preisgeben zu wollen?
Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da kam ihr die Antwort. Natürlich. Tom hatte letztes Jahr versucht, von Slughorn mehr über Horkruxe zu erfahren – und es war ihm gelungen. Wie hatte sie das nur vergessen können, nachdem Harry so verdammt lange gebraucht hatte, an diese manipulierte Erinnerung zu kommen? Offensichtlich ahnte Slughorn, dass er zu viel verraten hatte, und wollte seinen einstigen Liebling nicht noch weiter mit den Dunklen Künsten füttern. Ob er schon jetzt sein Gedächtnis manipuliert hatte? Nein, das war unwahrscheinlich. Vermutlich würde er das erst viel später tun, nachdem alle Welt gesehen hatte, was Tom wirklich war.
„Ich war zu offen“, murmelte Tom, offenbar immer noch in Gedanken vertieft: „Ich dachte, er wäre vertrauenswürdig. Ich dachte, er teilt mein Interesse.“
Vorsichtig näherte Hermine sich ihm wieder, bis sie schließlich hinter ihm saß. Sie lehnte sich an seinen Rücken und legte ihre Hände auf seine Schultern: „Tom. Slughorn ist ein Feigling. Er wird dir solange die Hand reichen, wie du ihm Ruhm bringst. Aber wenn du auch nur im Ansatz etwas tust, was sein Image in der Öffentlichkeit belasten könnte, wird er sich zurückziehen. Er ist zu feige, um sein Wissen zu nutzen.“
Obwohl sie Slughorn nicht vorwerfen konnte, dass er von Toms Idee, mehrere Horkruxe zu erschaffen, schockiert war, hatte sie kein Mitleid für ihn. Der Mann, den sie zu ihrer Schulzeit kennengelernt hatte, war ebenso schmierig und falsch wie sein jüngeres Ich.
„Du hast keine Angst davor, nicht wahr, mein Herz?“
Überrascht von seinem plötzlichen Stimmungswechsel ließ Hermine Toms Schultern los. Während er sich zu ihr umdrehte, sammelte sie sich: „Warum sollte ich Angst davor haben, meine Macht zu zeigen? Wenn du keine Angst hast, habe ich auch keine.“