Da am Freitag sowieso der letzte Tag vor den Weihnachtsferien war, erlaubte Schulleiter Dippet Hermine, dem Unterricht fernzubleiben. Sie verbrachte den ganzen Tag im Bett, ebenso wie sie es am Donnerstag getan hatte. Nur für das Gespräch mit Dumbledore hatte sie ihr Zimmer verlassen.
Sie wusste nicht mehr, was sie tun sollte. Dumbledore war der einzige, der wirklich über sie Bescheid wusste. Er war ihr engster Verbündeter, aber immer wieder konnte sie nicht anders, als sich über ihn zu ärgern. Sie hasste es, wie er immer Wasser predigte, obwohl er selbst genügend Wein getrunken hatte. Welches Recht hatte er, von ihr immer die moralisch richtigen, guten Entscheidungen zu fordern, wenn er mit Grindelwald zusammen geplant hatte, die ganze Welt zu unterwerfen?
Frustriert rollte Hermine sich zur Seite. Sie hatte ihr Kissen fest zwischen Armen und Beinen umklammert und sich tief unter ihre Decke vergraben. Jede freie Minute bombardierte ihr Geist sie mit Anschuldigungen. Sie wusste, sie war selbst Schuld an dem, was Lestrange getan hatte. Sie glaubte nicht an Karma, doch sie hatte schon lange damit gerechnet, dass all die furchtbaren Dinge, die sie durch ihre Nähe zu Tom getan hatte, sie einholen und sich rächen würden.
Nur in den wenigen Momenten, die Tom in ihrer Nähe verbrachte, fühlte sie sich geborgen und sicher. Nur dann kam ihr Geist zur Ruhe. Es hatte gut getan zu hören, dass er ihr keinen Vorwurf machte. So wenig sie Rufus auch Glauben schenken wollte, sie hatte sich davor gefürchtet, dass Tom seine Wut gegen sie richten würde, weil sie versagt hatte und besiegt worden war. Doch nichts dergleichen war geschehen.
Tränen traten ihr in die Augen. Tom war ein guter Junge. Sie hatte es so deutlich gespürt die letzten beiden Tage. Er hatte sich um sie gesorgt und sie getröstet. Sie hatte gespürt, dass er dabei keine Hintergedanken gehabt hatte, sondern ihr einfach ehrlich helfen wollte. Er war kein durch und durch böser Zauberer, der schlicht Freude daran hatte, Menschen zu quälen. Er hatte ein Herz und er zeigte es ihr immer mehr.
Wenn sie daran dachte, in was für ein unmenschliches Monster er sich in der Zukunft verwandeln würde, brach ihr Herz. Ob der Tom, den sie kannte, den Weg wirklich gehen wollte? Ob er seine Pläne wirklich durchziehen würde, wenn er wüsste, dass er an den Rand des Todes gebracht werden würde und dann als etwas, das kaum noch menschlich war, wieder erschaffen werden würde?
Zum ersten Mal seit sie im Jahr 1944 angekommen war, wünschte Hermine sich aus tiefstem Herzen, dass sie hierbleiben konnte. Ja, sie vermisste Harry und Ron und ihre Familie und die ganzen bekannten Gesichter. Sie vermisste sie so sehr, dass es schmerzte. Aber sie wusste, sie wusste einfach, wenn sie hierbliebe, dann würde alles anders werden. Sie könnte an der Seite von Tom dafür sorgen, dass die Welt nicht in Dunkelheit verfiel. Dass er sich nicht in ein Monster verwandelte.
Ein leises Klopfen ließ sie hochschrecken. Verwirrte grub sie sich unter der Decke hervor, ehe sie krächzend „Herein!", rief. Die Tür öffnete sich und zu ihrer noch größeren Überraschung trat Aberforth Dumbledore ein.
Mit großen Augen schaute sie zu, wie ihr angeblicher Vater eintrat, die Tür hinter sich schloss und magisch verriegelte. Als er sich zu ihr umdrehte, entdeckte sie echte Sorge in seinen Augen.
„Miss Granger", fing er an und trat näher an ihr Bett, „Ich habe gehört, was geschehen ist. Es wäre merkwürdig wenn ich als Ihr Vater nicht erscheinen würde, also bin ich hier. Aber auch jenseits davon bin ich besorgt. Wie geht es Ihnen?"
Hermine konnte den anderen Zauberer nur anstarren. Er trug formelle Roben, anders als sonst, wenn er im Eberkopf arbeitete. Sein Haar war zurück gekämmt und in einem kleinen Pferdeschwanz zusammen gebunden. Er wirkte in der Tat wie ein anständiger Vater, der sich um seine Tochter sorgte. Neue Tränen wallten in Hermine auf.
Ohne sich darum zu kümmern, dass sie nur ein kurzes Nachthemd trug, oder dass sie diesen Mann kaum kannte, sprang sie aus dem Bett und trat auf ihn zu. Kurz zögerte sie, doch als Aberforth keine Anstalten machte, sie abzuweisen, griff sie mit beiden Händen nach seinen Roben und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Als er dann etwas ungeschickt seine großen Hände auf ihren Rücken legte, brachen alle Dämme. Hemmungslos schluchzte sie an seine Brust.
„Oh weh", flüsterte Aberforth überfordert, „es ist wirklich schlimm für Sie, nicht wahr?"
Hermine nickte nur. Minutenlang stand sie da, klammerte sich an diesen hochgewachsenen Zauberer, und weinte all ihre Anspannung, ihre Wut und ihre Angst hinaus. Er ließ sie gewähren und hielt sie einfach nur fest. Hin und wieder murmelte er beruhigende Worte, doch er versuchte nicht, sie am Weinen zu hindern. Stück für Stück löste sich Hermines Verzweiflung, floss mit jeder Träne aus ihr heraus, und hinterließ am Ende nur tiefe Erschöpfung und Müdigkeit.
Als sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, löste sie sich aus der Umarmung und krabbelte zu ihrem Bett und unter die Decke zurück. Aberforth wiederum zog ihren Stuhl vom Schreibtisch heran, um sich neben sie zu setzen.
„Was ist geschehen?", erkundigte er sich vorsichtig. „Ich hörte, dass Ihnen Gewalt angetan wurde, doch ich kenne die näheren Umstände nicht."
Schniefend fuhr Hermine sich über ihr Gesicht. Vielleicht war es gut, wenn sie offen darüber sprach. Sie spürte, dass sie gegenüber dem jüngeren Dumbledore offener sein konnte. Tief holte sie Luft. „Ich bin nicht sonderlich beliebt bei Toms Anhängern. Insbesondere Rufus Lestrange wollte mich loswerden, weil ich ihm seinen Platz als Toms rechte Hand streitig gemacht habe."
„Mir scheint, diese Gruppe um Mr. Riddle ist nicht ganz ungefährlich."
Schnaubend rollte Hermine ihre Augen. „Das ist sehr höflich ausgedrückt. Es sind intelligente Slytherin-Schüler, die zu allem bereit wären, um Macht über andere Menschen zu bekommen."
Aberforths blaue Augen schauten sie direkt an. „Warum schließen sie sich dann nicht Grindelwald an? Er verspricht doch Macht für alle, die seine Ziele verfolgen."
Energisch schüttelte Hermine den Kopf. „Sie wollen von Anfang an dabei sein. Sie wollen wichtig sein, die Speerspitze der Bewegung. Und Tom verachtet Grindelwald. Auch wenn ihre Ziele sich ähneln mögen, so ist er doch der Meinung, dass Grindelwald alles falsch gemacht hat, was man falsch machen kann."
„Es ist also richtig, dass seine Freundin vergewaltigt wird?" Aberforths Tonfall klang spöttisch, doch Hermine konnte sehen, dass seine Kiefer angespannt aufeinander mahlten.
Sie schluckte. Seine Worte taten ihr weh, doch sie waren richtig. Hilflos zuckte sie mit den Schultern. „Das hat Tom nicht gewollt."
„Aber er hat es in Kauf genommen", stellte Aberforth fest. „Er hätte Sie beschützen müssen."
Wieder sammelten sich Tränen in ihren Augen, doch Hermine schluckte sie runter. Ihre Finger verkrallten sich in ihrer Bettdecke. „Er wollte das wirklich nicht. Sobald er wusste, was passiert ist, hat er alles getan, um mich zu retten. Er hat mich gerettet. Er ist gekommen und hat mich gerettet."
Der Ausdruck in Aberforths Augen wurde weicher. „Und das ist auch gut. Es ist gut, dass er sich um Sie gesorgt hat. Aber ohne ihn wäre das nie geschehen."
Traurig schüttelte sie den Kopf. „Das ist nicht richtig. Zu Beginn des Schuljahres ist schon einmal so etwas geschehen. Damals war es Avery, der versucht hat … der versucht hat, mich zu vergewaltigen. Das hatte nichts mit Tom zu tun, weil wir damals noch gar nicht zusammen waren. Avery wollte das einfach nur, weil ich … weil ich ja angeblich Amerikanerin bin." Ein Zittern lief durch ihren Körper. „Auch damals war es Tom, der mich gerettet hat."
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Mit aller Macht versuchte Hermine, die Bilder von sich fernzuhalten. Wieder einmal war ihr gezeigt worden, dass sie schwach war. Wieder einmal hatte sie erfahren müssen, dass sie dem Willen von Männern hoffnungslos ausgeliefert war. Wieder einmal hatte sie gelernt, dass Männer sexuelle Gewalt gerne nutzten, um ihre Überlegenheit zu beweisen. Und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Sie war machtlos.
„Miss Granger", zog Aberforth ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Sie trifft keine Schuld an dem, was geschehen ist. Sie sind nicht schwächer oder wertloser als andere Menschen. In meiner Zeit im Eberkopf habe ich viel gesehen und noch mehr gehört. Auch Männer können Opfer sein. Wenn ein Mensch einem anderen Böses will, dann ist es beinahe unmöglich, ihn an der Umsetzung seiner Tat zu hindern." Er schaute ihr direkt in die Augen. Das Blau hinter seinen Brillengläsern funkelte, während er weitersprach. „Sie sind nicht schuld. Sie sind nicht schwach."
Ein lautes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, doch keine Tränen folgten. Ihr ganzer Körper zitterte, während sie versuchte, sich selbst mit um ihre Knie geschlungenen Armen Trost zu spenden. Aberforths Worte hatten sie tief in ihrem Inneren getroffen und etwas gelöst. Anspannung, die ihren Körper fest im Griff gehalten hatte, fiel in sich zusammen und hinterließ sie schutzlos. „Ich bin kein guter Mensch, Mr. Dumbledore. Ich habe so viele furchtbare Dinge getan. Ich habe … durch mich wurden andere Frauen vergewaltigt. Ich habe so viel Schreckliches getan. Sie haben keine Vorstellung davon, was ich getan habe."
Entschlossen beugte Aberforth sich vor und ergriff ihre beiden Hände. „Ich kann Ihnen Ihre Schuld nicht nehmen. Niemand kann das. Was auch immer Sie getan haben, Sie müssen lernen, damit zu leben. Für manche bedeutet das, dass sie ihr Leben lang nach Vergebung suchen und sich für andere aufopfern. Für manche bedeutet das, dass sie mit ihren Opfern sprechen und echte Reue zeigen. Für manche bedeutet das, dass sie sich der Justiz stellen und ihre Strafe akzeptieren. Aber niemals", betonte er ernst, „niemals bedeutet es, dass einem selbst schlimme Dinge und Gewalt angetan werden kann und das als gerecht gesehen wird. Nur, weil einer Schlimmes tut, heißt es nicht, dass andere das Recht bekommen, ebenfalls schlimme Dinge zu tun. So funktioniert unsere Welt nicht."
Fest erwiderte Hermine den Händedruck. Der ältere Zauber hatte Recht mit seinen Worten. Sie fühlte es tief in sich, dass sie ihm zustimmte. Doch sie fühlte ebenso, dass sie noch nicht loslassen konnte. Sie wusste nicht, wie sie mit ihrer Schuld umgehen sollte. Ein Teil von ihr war noch immer überzeugt, dass sie alles verdiente, was ihr geschah.
Aus müden Augen schaute sie ihren angeblichen Vater an. „Manchmal frage ich mich, warum ich mich selbst in die Vergangenheit geschickt habe. Warum habe ich mir das hier selbst angetan? Warum habe ich zugelassen, dass ich meine Verbrechen an anderen Menschen wieder tun würde?"
Ein nachsichtiges Lächeln huschte über seine dünnen Lippen. „Sie sind eine intelligente junge Hexe, Miss Granger. Sie kennen die Antwort auf Ihre eigene Frage."
„Ich würde alles tun, um unsere Welt in der Zukunft zu retten", flüsterte sie mehr zu sich als zu ihm. Sie wusste selbst, dass es so war, doch es auszusprechen, machte ihr Angst.
„Und das ist eine große Stärke", bestätigte Aberforth ihr. „Größenwahnsinnige Zauberer, die die Welt unterwerfen wollen, müssen aufgehalten werden, um jeden Preis."
Mit einem Seufzen fuhr Hermine sich durch ihre wilden Locken. „Ich stimme Ihnen zu. Wir haben bereits einen hohen Preis gezahlt. In meiner Zeit. Schon damals haben wir alle Dinge getan, die furchtbar waren. Im Krieg werden alle zu Mördern. Aber hier ist es so weit weg. Die Menschen, die ich hier kennenlerne, sind so anders als ihre zukünftigen Selbsts. Es fällt mir schwer, mich daran zu erinnern, wie sie in der Zukunft sein werden. Es fühlt sich nicht nach Krieg an, wenn ich hier bin."
Aberforth beugte sich vor und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Seine blauen Augen sahen traurig aus hinter seinen Brillengläsern. „Wir, die Menschen in dieser Zeit, sind auch im Krieg, Miss Granger. Nicht mit jenen, gegen die sie in der Zukunft kämpfen. Aber wir sind auch im Krieg."
Sie nickte. „Grindelwald. Ich weiß. Und die Muggle kämpfen in ihrem zweiten Weltkrieg."
Die Lippen des älteren Zauberers verzogen sich zu einem dünnen Strich. „Ich bin überzeugt davon, dass Grindelwald hinter dem Weltkrieg der Muggle steckt. Wir müssen ihn stoppen, um die Welt zu bewahren."
„Warum zögert Ihr Bruder?" Hermines Worte waren kaum mehr als ein Wispern. Sie hatte sich diese Frage so oft gestellt, seit sie erfahren hatte, dass das berühmte Duell zwischen Dumbledore und Grindelwald viel mehr für beide bedeutete, als die Öffentlichkeit gemeinhin wusste.
Aberforth schüttelte den Kopf. „Fragen Sie nicht mich. Er ist es der Welt schuldig, endlich einzuschreiten. Vielleicht scheut er sich, seine Fehler der Vergangenheit zuzugeben und will sie deswegen ignorieren."
„Das klingt nicht nach dem Albus Dumbledore, den ich kenne", protestierte Hermine. So sehr sie sich selbst gerade über ihren Professor aufregte und sich von ihm im Stich gelassen fühlte, sie konnte doch nicht anders, als ihn zu verteidigen.
„Der Albus, den Sie kennen, hat auch nie versucht, die gesamte Welt zu unterwerfen", erwiderte Aberforth knapp. Seine Gesichtszüge waren hart, während er auf seine eigenen Hände schaute. Hermine wollte schon etwas sagen, um das Thema zu wechseln, da sprach er endlich weiter. Ohne sie anzuschauen, erklärte er: „Grindelwald war der einzige Freund, den Albus je hatte. Der einzige echte Freund. Ich weiß nicht, ob ich an seiner Stelle in der Lage wäre, so jemanden zu töten."
„Aber er muss ihn nicht töten!", erwiderte Hermine bestimmt. Sie wusste, dass Dumbledore ihn nicht töten würde, auch wenn sie das natürlich nicht sagen konnte. „Er muss ihn doch nur besiegen!"
Aberforth schnaubte höhnisch. „Sie kennen Gellert nicht. Er würde sich niemals gefangen nehmen lassen. Nein, wenn Albus ihn stellt, dann wird es ein Duell auf Leben und Tod."
Wieder breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus. Es gab nichts, was Hermine darauf erwidern konnte, ohne die Zukunft zu verraten. Sie betete, dass sie nicht irgendetwas getan hatte, was dazu führen würde, dass Dumbledore am Ende Grindelwald tötete. Sie wusste nicht, was geschehen würde, wenn sie die Zeit veränderte. Im Moment hoffte sie, dass alles exakt so verlief, wie es immer verlaufen war und immer verlaufen würde.
Stöhnend erhob Aberforth sich von dem Stuhl. „Ich werde Sie jetzt ein wenig zur Ruhe kommen lassen. Wenn Sie wollen, sind Sie herzlich eingeladen, am Wochenende das Weihnachtsfest bei mir zu feiern. Sie können sogar Ihren Freund Tom Riddle mitbringen, wenn sie darauf bestehen."
Gegen ihren Willen musste Hermine lachen. „Ein Fest im Kreise der Familie, wo mein Vater meinen Zukünftigen genau unter die Lupe nehmen kann?"
Auch Aberforth musste schmunzeln. „Ich fände das sehr passend."
Hermine schaute zu, wie der hochgewachsene Zauberer mit langen Schritten ihr Zimmer durchquerte und verschwand. Auch wenn sie nicht wirklich über die Geschehnisse vom Mittwoch hatte sprechen können, fühlte sie sich erleichtert. Vielleicht war sie doch nicht so alleine hier. Vielleicht konnte Aberforth ihr Vertrauter sein auf eine Weise, die ihrem Professor nie möglich sein würde.