Bald ist es wieder soweit, denke ich, als ich aus meinem Wohnheim laufe. Bald ist es wieder soweit und es ist Mai.
Für mich bedeutet das so viel. So viel mehr als für alle anderen.
Denn am ersten Mai hast du mich das erste Mal geküsst - so erzähle ich es zu mindest immer, wenn mich Leute nach unserer Liebesgeschichte erzählen.
Am ersten Mai gegen halb drei in der früh, vor einer Birke - dem Maibaum - meiner Birke. Du hast sie aufgestellt, am Zaun von meinem Wohnheim, in dem ich immer noch wohne, auch wenn sich seither so viel verändert hat.
Ich erzähle diese romantische Geschichte gern und es fühlt sich nicht an, als würde ich lügen.
Ich meine - irgendwie war es auch so.
Wir standen unter dem Maibaum im Scheinwerferlicht deines Autos, in dieser blauen, kurzen Samthose - ich zumindest - und wir haben uns geküsst.
Manchmal wünschte ich mir, das wäre tatsächlich unser erster Kuss gewesen, so wie ich es immer erzähle. Ich habe es schon so oft gesagt, dass ich es selber glaube, so oft, dass es sich so anfühlt, als wäre es so gewesen.
Aber nein.
Unser erster Kuss war anders. Er war viel früher, ich war noch sehr jung und du warst auch ein anderer Mann, als der Mann, dessen Augen strahlen vor Glück, wenn er mit meiner Mutter an ihrem Esstisch sitzt und ich mit etwas selbstgekochtem Essen herein komme.
Du warst rau und unnahbar, irgendwie verwegen. Du warst all das, was ich nicht in einem Mann gesucht habe. Brutal, dominant, von jeglicher Lieblichkeit befreit.
Und doch haben wir uns getroffen, immer wieder.
Du warst mein erstes Mal - Wochen bevor ich deine Lippen auf meinen spürte.
Du warst ruhig und seltsam, irgendwie mysteriös, wenn du mir entgegen kamst, um mich vom Bahnhof abzuholen und neben mir her zu dem Apartment zu laufen, welches du für uns gebucht hast. Diese Sonntagnachmittage haben nur uns gehört.
Was du dort mit mir angestellt hast, lasse ich aus gutem Grund in all meinen Erzählungen von meiner großen Liebe weg - wer würde mir denn noch entzückt zuhören, würde ich von dem Rohrstock auf meinem nackten Arsch erzählen oder deinem Schwanz so tief in meinem Hals, dass ich weinen musste? Wer würde denn noch fragen, ob ich dich mal mitbringen kann, würde ich erzählen, dass du mich gern würgst und ohrfeigst und es liebst, wenn sich meine abgebundenen Titten blau färben und sie erst losmachst, wenn sie prall und lila sind? Wer würde mich noch um Rat fragen, wenn sie wüssten, dass ich vor dir auf dem Boden kniete und dich anflehte, mich bitte nicht dafür zu bestrafen, dass das Toy aus mir gefallen ist, obwohl du doch ausdrücklich angekündigt hast, dass ich es sehr bereuen würde, wenn das geschehe?
Niemand.
Und weil ich sie alle mag und nicht verstören will, tue ich so, als wäre unser erster Kuss nach jahrelanger Freundschaft gewesen, dort vor meinem Wohnheim.
Und nicht bei unserem vierten Sextreffen in einem anonymen Apartmenthaus, blind und mit abgebundenen Brüste, aufgeregt, zitternd, voll im Subspace.
Aber wenn ich dich frage, wie unser erster Kuss war, lächelst du. Deine Augen werden ein bisschen feucht und du greifst nach meiner Hand.
Du sagst, ich sei hingebungsvoll und gespannt gewesen. Du sagst, meine Lippen wären so einladend, so wow gewesen.
Du fragst, wie mich irgendjemand nicht küssen könnte, wenn ich vor ihm stünde?
Du sprichst von der Anziehung zwischen uns und dem Verlangen.
Du sagst, du seist unsicher gewesen - du, mein dominanter, brutaler Spielpartner, von dem ich nichts wusste - hattest Angst, dass ich, deren gesamte Geschichte du schon kanntest und die dir devot verfallen war, dich abweisen könnte.
Du lächelst, denkst daran, erzählst von der Aufregung in deinem Bauch und davon, dass du mich wieder und wieder geküsst hast, als der Bann erstmal gebrochen war.
Du sagst, es war der romantischste erste Kuss, den man haben kann.