Alena musterte den fremden Mann mit gemischten Gefühlen. Einerseits musste sie an Mondtänzers Worte zurückdenken, worin dieser ihr offenbart hatte, dass sie mit dem Lastwagen dieses Mannes vermutlich einen tödlichen Zusammenstoss gehabt hätte, wenn sie nicht vorher gegen eine Baum gekracht wäre. Andererseits war ihr dieser Stefan Hofer sehr sympathisch und sie fand es sehr freundlich von ihm, dass er sie besuchte, obwohl er sie gar nicht kannte.
So lächelte sie den Lastwagenfahrer etwas scheu zu und sprach: «Vielen Dank, dass sie sich um mich gekümmert haben. Es ist ausserdem sehr nett, dass sie mich hier besuchen.»
«Das ist doch selbstverständlich! Ich wollte unbedingt wissen, wie es ihnen mittlerweile geht. Sie hatten ja schliesslich einen ziemlich schlimmen Unfall.»
«Es hätte noch schlimmer kommen können,» erwiderte die Frau. «Aber auch Dank ihnen, bin ich schon wieder auf dem Weg zur Besserung. Ich bekomme ausserdem gute Medikamente und hier kann ich endlich mal wieder gut schlafen.»
Stefan Hofer setzte sich etwas besorgt an ihr Bett und fragte: «Schlafen sie sonst nicht gut?»
«Nein. Genaugenommen schlief ich heute und gestern wohl mehr als die gesamte, letzte Woche.»
«So schlimm?»
«Ja… es ist ziemlich schlimm,» erwiderte Alena bekümmert.
«Ich merke langsam, wie mein Verstand und auch mein Körper deswegen nicht mehr richtig funktionieren.»
«Das kann ich mir gut vorstellen. Wenn sie wieder gesund sind, sollten sie vielleicht mal ein Schlaflabor aufsuchen.»
«Ach ich weiss nicht, ob das etwas bringen würde.»
«Jedenfalls kann es nicht so weitergehen. Dauerhaft zu wenig Schlaf, kann schlimme Folgen nach sich ziehen.»
«Sie haben natürlich recht, deshalb habe ich vermutlich auch den Unfall gebaut…» räumte Alena ein, obwohl sie bisher diesen Gedanken nur schwer hatte anerkennen können. «Ich muss wohl kurz eingenickt sein. Ich… habe es nicht mal richtig gemerkt und da war es auch schon passiert.»
«Das kann gut sein. Bei uns Lastwagenfahrer sind feste Ruhezeiten obligatorisch, damit uns so etwas nicht passiert. Aber ehrlich gesagt, war ich auch schon mal sehr müde. Zum Glück ging alles gut.»
«Anders als bei mir,» erwiderte Alena zerknirscht. «Aber ich kann ja nicht einfach von der Arbeit fernbleiben, nur weil ich nicht schlafen kann.»
«Ein grosses Dilemma, das verstehe ich sehr gut. Darum sollten sie sich Zeit lassen, wieder ganz gesund zu werden. Vielleicht wird es danach auch mit dem Schlafen wieder etwas besser.»
«Das hoffe ich sehr. Tatsächlich kann es so nicht weitergehen…» Sie unterbrach sich, denn die Schwester trat ein und fragte freundlich: «Soll ich ihnen und ihrem Besuch, einen Kaffee oder sonst etwas zu trinken bringen Frau Gerber? Leider dürfen sie das Bett vorerst noch nicht verlassen.
«Oh, ich will aber nicht zu lange stören!» sprach Stefan bescheiden.
«Sie stören doch nicht!» wehrte Alena ab, denn der Gedanke, dass ihr Besucher sie schon wieder verlassen wollte, behagte ihr nicht sonderlich. Sie mochte ihn sehr, aber vor allem lenkte er sie etwas von ihrer grüblerischen Stimmung ab. Ihr war klar, dass sie bald etwas an ihrem Leben ändern musste und das machte ihr irgendwie grosse Angst. Ausserdem waren da auch noch die Erwartungen, welche die Welt der Wasserdrachen an sie stellte. Aber vielleicht war das alles eh nur ein böser Traum gewesen. In Stefans Nähe konnte sie diese Dinge etwas vergessen. Seine angenehme, ruhige Präsenz tat ihr sehr gut.
«Also…, wenn es für sie in Ordnung ist,» meinte der Mann an die Patientin gewandt «dann bleibe ich gerne noch etwas.»
«Das würde mich sehr freuen. Aber bitte, nennen sie mich doch einfach Alena, immerhin sind sie mein Retter.»
Der Mann lächelte erfreut und meinte: «Also Alena, dann nenn mich doch einfach Stefan, ist sowieso einfacher.
«Soll ich ihnen also zwei Kaffees bringen,» fragte die Schwester und die beiden Angesprochenen nickten zustimmend.
Stefan blieb ganze zweieinhalb Stunden bei Alena und die zwei verstanden sich sehr gut. Als er sich gegen 17 Uhr wieder verabschiedete, versprach er bald noch einmal bei ihr vorbei zu schauen. Alena freute sich schon sehr darauf. Dennoch wollte sie noch nicht zu viel erwarten. Sie kannte Stefan, der drei Jahre älter war als sie, noch nicht wirklich gut. Auch wenn sie zwischen ihnen schon eine erstaunliche Vertrautheit gespürt hatte. Das konnte allerdings auch täuschen.
Mit ihre bald 40 Jahren, fasste sie nicht mehr so schnell Vertrauen, denn sie hatte schon einige schmerzhafte Erfahrungen mit Männern hinter sich. Ausserdem hätte sie, auch wenn sie gewollt hätte, kaum Zeit für einen Partner gefunden. Sie arbeitete Vollzeit und in der Pflege waren da ausserdem noch diese ungewöhnlichen Arbeitszeiten. Aber was dachte sie darüber überhaupt schon nach?! Stefan wollte bestimmt nichts von ihr wissen. Nichtsdestotrotz war es ein sehr schöner Nachmittag gewesen und Alena liess sich zufrieden seufzend in die Kissen zurücksinken. Kurz darauf war sie wieder eingeschlafen.
5. Kapitel
«Ein netter Mann, dieser Lastwagenfahrer!» wurde sie von einer tiefen Stimme, aus dem Schlaf gerissen. Sie schaute sich um und fand sich wieder in Mondtänzers Welt. Der blauweisse Drachen ragte über ihr auf. «Warum bin ich jetzt schon wieder hier?» fragte die Frau etwas ärgerlich, denn sie hatte irgendwie gehofft, dass Mondtänzer und seine Welt, nur eine Ausgeburt ihrer Fantasie gewesen waren. Einen kurzen Moment lang hatte sie geglaubt, sie sei wieder etwas bei klarerem Verstand und nun…
«Du musst nicht an deinem Verstand zweifeln. Ich und diese Welt, haben sich dir nicht umsonst offenbart,» meinte der Drachen ernst. «warum spürst du auf einmal diesen Widerstand?»
«Weil ich doch nur wieder hier bin, um euch diesen Tenebris vom Hals zu schaffen. Doch dazu fühle ich mich einfach nicht imstande. Ich sagte dir schon, dass ich mein Leben zuerst einmal in den Griff kriegen muss.»
«Aber du bist doch nicht nur wegen Tenebris hier. Diese Welt ist auch dazu da, dass du etwa auftanken kannst. Auch ich bin da, um dir zu helfen.»
«Bisher hast du nur davon gesprochen, dass ich dir und dieser Welt helfen soll.»
«Das eine schliesst das andere doch nicht aus. Es tut mir leid, wenn ich diesen Eindruck erweckt habe.»
«Aber warum hast du mich dann hierher zurückgeholt?»
«Das war nicht ich, das warst du selbst.»
«Was? Ich wollte doch gar nicht mehr hierherkommen! Das alles ist sowieso nur eine Ausgeburt meiner seltsamen Fantasie, welche aus der extremen Stresssituation entsprang, der ich in meinem Leben gerade ausgesetzt bin.»
«Es muss aber fraglos einen Grund geben, warum du zurückgekommen bist. Vermutlich wollte deine Seele es so.»
«Das kann ich mir nicht vorstellen.»
«Vielleicht bist du hier, weil du schon lange nicht mehr mit deiner Seele in Verbindung bist. Dabei schreit sie so verzweifelt nach deiner Aufmerksamkeit. Warum hörst du ihr nicht zu ?!»
Mondtänzers Stimme, klang tadelnd.
«Und schon geht es wieder los mit den Vorwürfen!» erwiderte Alena zornig. «Du bist mir wirklich keine grosse Hilfe.»
«Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Dich deinen Selbsttäuschungen überlassen?»
«Ich täusche mich nicht selbst, ich will nur endlich in Ruhe und Frieden leben. Doch so einfach ist das nun auch wieder nicht. Ich müsste meinen Job kündigen, um mehr zur Ruhe zu kommen. Doch ich bin auf diesen Job angewiesen. Ich finde mit bald 40 nicht mehr so einfach eine Stelle.»
«Und doch merkst du, dass etwas in deinem Leben nicht stimmt.»
«Oh ja! In meinem Leben stimmt einiges nicht mehr! Ich kann nicht mehr schlafen, bin einsam und unglücklich in meinem Beruf. Das Leben ist aber leider kein Ponyhof.»
«Es ist aber auch nicht dafür da, es ständig zu verschwenden.»
«Ich verschwende es doch nicht, ich tue viel Gutes.»
«Tust du denn auch dir selbst zur Abwechslung mal etwas Gutes?»
«Wenn ich die Zeit dafür finde, dann schon. Aber es gibt ja auch niemanden mit dem ich irgendetwas teilen oder unternehmen könnte.»
«Gutes Stichwort. Jetzt hast du ja jemanden.»
Alena schaute den Drachen fragend an. «Was meinst du damit?»
«Nun, du hast jetzt mich. Los! Unternehmen wir etwas Schönes!»