Erstaunt schaute sie sich um. Hatte sie etwa alles nur geträumt?
Aber… es war alles so… real gewesen und sie fühlte sich wahrhaftig sehr gestärkt durch das was sie gerade erlebt und erfahren hatte.
Der Gedanke, diese Ereignisse könnten nur ein Traum gewesen sein, stimmte sie sehr traurig.
Sie stand langsam auf und ging aufs Klo. Danach schaltete sie den Wasserhahn ein und wusch sich nachdenklich ihre Hände. Das kühle Nass lief über ihre Finger. Sie nahm dies diesmal sehr bewusst wahr. Konnte es tatsächlich möglich sein, dass sie vielleicht einst Wasserdrachen-Magier Vorfahren gehabt hatte? Sie hob ihre Hände vors Gesicht und schaute zu wie die Wassertropfen daran herab rannen und schliesslich wie Tränen ins Waschbecken fielen.
Unmittelbar musste sie an Mondtänzers wundersame Tränen denken, welche sogar imstande waren, neue Welten zu erschaffen. Konnte es wirklich sein, dass dem Element Wasser so grosse Kraft innewohnte? Dass ihr selbst gar so eine Kraft innewohnte? Bisher hatte sie sich immer als zu schwach oder zu sensibel angeschaut, weil sie den ganzen emotionalen, sowie den körperlichen Stress bei der Arbeit, immer weniger gut vertrug. Man hatte ihr schon oft vorgeworfen sie sei zu empfindlich und zu emotional. Doch… war das wirklich eine Schwäche, nicht viel mehr eine Stärke, welche in ihrem Umfeld jedoch einfach nicht so wirklich gefragt war? Einst hatte sie gedacht, in einem Pflegeberuf seien ihre Qualitäten gut aufgehoben. Nun jedoch war sie sich dessen auf einmal nicht mehr so sicher. Nun gut, die Heimbewohner mochten sie sehr. Doch das reichte leider, jetzt da die Heimleitung gewechselt hatte, nicht mehr aus.
Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, befand sie sich schon längst in einer Abwärtsspirale und es wurde wohl wirklich Zeit, dass sie diese endlich zu durchbrechen vermochte. In ihr schlummerten noch immer Kräfte, das hatte ihr der halsbrecherische Flug mit Mondtänzer vor Augen geführt. Es wurde also wirklich Zeit zu handeln. Aber auf welche Weise? Was konnte sie tun, ohne ihre ganze Existenz aufs Spiel zu setzen? Sie seufzte resigniert und trocknete ihr Hände ab, dann kehrte sie zu ihrem Bett zurück und warf sich bekümmert hinein.
6. Kapitel
Die Zeit im Spital ging schleppend voran. Ab und zu kam jemand von der Familie oder aus dem Freundeskreis auf Besuch. Den Rest der Zeit verbrachte Alena vorwiegend mit schlafen, essen, lesen und Fernsehen. Sie durfte ihr Bett noch immer nicht verlassen und so langsam wurde es ihr langweilig. Schon beinahe sehnte sie sich wieder an ihre Arbeit zurück. Doch wenn sie näher darüber nachdachte, war für sie der Gedanke noch einen weiteren Tag in der vergifteten Atmosphäre dieses Heimes zu arbeiten, der reinste Horror. Es gab wirklich sehr wenig, was sie an der Arbeit vermisste. Darunter waren einige Heimbewohner und ganz wenige Mitarbeiter, die ihr fehlten. Aber sie war einfach nie der Typ gewesen, der länger nichts tun konnte.
Mittlerweile war eine Woche vergangen und sie fühlte sich eigentlich schon ganz gut. Noch immer ermahnten sie die Ärzte und Schwestern jedoch, sich noch nicht zu sehr anzustrengen, da erhöhte Entzündungswerte in ihrem Blut festgestellt worden waren. Woher diese genau kamen, musste zuerst noch abgeklärt werden. Alena hatte noch immer einige schmerzhafte Hämatome und Prellungen an ihrem Körper und ab und zu litt sie unter Oberbauchschmerzen, wenn auch kaum merklichen. Vermutlich rührten diese vom Aufprall des Lenkrades auf ihren Bauch her, als sie gegen den Baum gefahren war. Es wurden deshalb immer wieder Tests gemacht und Alenas Blutdruck gemessen. Bisher war aber alles noch im grünen Bereich. Nichtsdestotrotz musste sie sich weiterhin schonen. Denn durch die erhöhten CRP Werte in ihrem Blut, bestand der Verdacht auf ein stumpfes Bauchtrauma, bei dem vermutlich die Leber in Mittleidenschaft gezogen worden war. Da jedoch der Blutdruck von Alena immer noch stabil war, vermutete man nur eine Prellung der Leber, die irgendwann wieder von selbst abklingen würde.
(Die Symptome eines Bauchtraumas bestehen typischerweise aus Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Tachykardie, verlängerter Re-kapillarisierungszeit, Blässe und Blutdruckabfall. Klinisch fallen reflektorisch gespannte Bauchdecken und äußere Verletzungszeichen an der Bauchdecke auf. Quelle Wikipedia)
So machte sich die Frau auch keine grossen Sorgen. Sorgen machte sie sich eher darüber, wie ihr Zukunft nach ihrem Aufenthalt im Spital aussehen würde. In ihr reifte mit jedem Tag die Überzeugung heran, dass sie ihr Leben nach der Zeit hier, von Grund auf würde umkrempeln müssen. So wie bisher ging es nun mal nicht weiter. Während ihres Aufenthaltes im Spital, hatte sie endlich begriffen, wie es sich anfühlte gut zu schlafen, sich sicher und aufgehoben zu fühlen. Auch die Zeiten mit Mondtänzer hinterliessen einen bleibenden Eindruck. Immer mehr begann sie ihren neuen, etwas egozentrischen Drachenfreund zu vermissen und jedes Mal wenn sie einschlief, hoffte sie in dessen wundersames Reich zurückkehren zu können. Doch aus irgendeinem Grund, blieb dieses für sie verschlossen. Sie versuchte, Kraft ihrer Gedanken, ein Portal dorthin zu öffnen. Ein Vorhaben das sie jedoch schnell wieder fallen liess, weil das alles vermutlich doch nur eine Ausgeburt ihre lebhaften Fantasie oder ihres Schlafmangels gewesen war.
Als das Wochenende vorbeiging, machte sie sich darauf gefasst, dass vermutlich nur noch sehr wenig Besucher zu ihr kommen würden. Ein weiterer, langweiliger Montag in ihrem kahlen Spitalbett, stand ihr vermutlich bevor.
Sie erwachte schon frühmorgens und ging langsam ins Badezimmer. Für ihre Körperpflege durfte sie wenigstens noch immer das Bett verlassen.
Nach einer warmen Dusche fühlte sie sich erfrischt und munter. Auch wenn ihr teilweise schrecklich langweilig war und sie ab und zu noch etwas Schmerzen hatte, fühlte sie eine ganz neue Vitalität in sich.
In ihrem Herzen stieg plötzliche Dankbarkeit für dieses wundervolle Geschenk auf und sie ging mit langsamen, bedächtigen Schritten zum Fenster. Vor ihr lagen die Kulissen der naheliegenden Stadt. In den vielen Fenstern spiegelte sich bereits der sanfte Schein der aufgehenden Morgensonne und es wirkte, als würden sie aus flüssigem Gold bestehen. Es war eine ganz besondere Atmosphäre, die Alena sehr berührte. Irgendwie war sie wieder viel durchlässiger für solche Gefühle und Wahrnehmungen geworden. Sie wollte sich diese Durchlässigkeit bewahren, auch nach ihrem Aufenthalt im Spital; wollte endlich diesen dunklen Mantel der Schwere ablegen, der schon seit viel zu langer Zeit auf ihr zu lasten schien.
Es war darum unerlässlich, dass sie baldige Schritte, hinsichtlich ihrer belastenden Arbeit, unternahm.
Sie ging zum Bett zurück und holte einen Block hervor, den ihr eine Freundin mitgebracht hatte. Dann zündete sie die Nachttischlampe an und begann in deren Schein einen Geschäftsbrief aufzusetzen. Die Überschrift lautete:
Kündigung meiner Arbeitsstelle als Pflegehelferin SRK (Pflegehelferin schweizerisches, rotes Kreuz)…
Nur einen kurzen Moment lang, dachte Alena darüber nach, was für ein verrücktes Unterfangen es eigentlich war, dass sie dieses Kündigungsschreiben aufsetzte. Doch es half ihr, sich langsam von ihrem alten Leben zu lösen. Ob sie es dann auch wirklich abschicken würde… das galt es erst einmal abzuwarten.
Schliesslich wurde es draussen langsam ganz hell und Alena löschte ihre Lampe.
Kurz darauf kam die Tagschwester das erste Mal bei ihr vorbei. Sie brachte ihr das Frühstück und ihre Medikamente und huschte sogleich wieder weiter. Alena ass langsam das Frühstück, welches ihr heute besonders gut mundete und las währenddessen ihr Kündigungsschreiben mehrmals durch, bis sie keinen Fehler mehr fand.
Dann stiess sie den Tisch mit dem nun leeren Frühstücks Tablet zur Seite und begann auf der nächsten Seite des Blockes etwas herum zu kritzeln.
Ehe sie sich versah, nahm dieses Gekritzel eine Form an und schliesslich stellte sie staunend fest, dass sie die Silhouette eines blauweissen Drachen zu Papier gebracht hatte. Eigentlich konnte sie ganz gut zeichnen. Das war schon immer so gewesen. Leider war es schwierig, den wirklichen Glanz ihres neuen Drachenfreundes angemessen herauszuarbeiten. Sie versuchte deshalb mit einigen Schattierungen seine Schuppen lebendiger erscheinen zu lassen. Das gelang ihr aber nur bedingt.
Da sie spürte, dass das Malen ihr sehr gut tat und dadurch auch die Zeit etwas schneller verging, begann sie noch mehr Bilder auf den Block zu zeichnen. Auf der nächsten Seite erschien eine weitere Drachensilhouette, doch diese war schwarz wie die Nacht und schwebte an einem blutroten Himmel. Wie in Trance malte Alena immer weiter und weiter an diesem dunklen Drachen. Als sie ihn beinahe fertig hatte flüsterte sie «Tenebris…» Ihr Herz klopfte auf einmal unruhig und ein leichtes Zittern durchlief ihren Körper, während sie den Drachen betrachtete. Er wirkte so leblos, ohne jegliche Schattierungen. Seine Augen waren bisher nur schwarze, eckige Flecken. Was für Augen sollte sie ihm bloss malen…?
Der Gedanke nahm ihr ganzes Sein ein und während sie angestrengt vor sich hin grübelte, merkte sie gar nicht wie Schritte sich ihrem Zimmer näherten. Das darauffolgende Klopfen an der Tür, riss sie wie aus einem bösen Traum. Sie zuckte zusammen und legte den Block schnell beiseite. Gleich darauf kündigte die Schwester einen Besucher an. Nach einem Blick auf die Uhr stellte Alena fest, dass es bereits elf Uhr war. Wer besuchte sie bloss um diese Zeit?
Doch diese Frage wurde ihr sogleich beantwortet, als Stefan Hofer der Lastwagenchauffeur ihr Zimmer scheu lächelnd betrat.