Stefan blickte auf die Uhr und sprach etwas bekümmert: «Dann geh ich jetzt also wieder.» Alena nickte ebenfalls etwas betrübt und der Lastwagenchauffeur verliess ihr Zimmer. Nachdem der Arzt die Frau nochmals untersucht und sie über das weitere Vorgehen informiert hatte, verliess auch er ihr Zimmer wieder und Alena blieb allein zurück. Sie musste diese und wohl auch noch nächste Woche sicher im Spital bleiben, weil mit einem Leberriss wirklich nicht zu spassen war. An arbeiten war also noch nicht zu denken. Einerseits war sie froh darüber, andererseits jedoch hatte sie langsam genug davon, stets in diesem engen Raum hier eingesperrt zu sein. Wenn sie nur wenigstens einmal in die Cafeteria hätte gehen oder einen Spaziergang machen können.
Sie seufzte und blickte diesmal ziemlich lustlos auf die Zeichnungen herab, an denen sie vorhin noch mit so viel Begeisterung gearbeitet hatte. Dann schweiften ihre Gedanken unvermittelt zu Stefan zurück. Vorhin war so ein magischer Moment gewesen und sie hätten sich beinahe geküsst, aber dann musste natürlich wieder dieser vermaledeite Arzt kommen und alles zerstören! Nirgendwo hatte man wirklich seine Ruhe. Wie sehr sehnte Alena sich doch nach einem Platz, der nur ihnen allein gehörte. Einem Platz ohne Hektik und ständiger Störungen. Das Reich der Wasserdrachen wäre dazu prädestiniert gewesen. Doch dorthin konnte sie selbst auch nur begrenzt, von Stefan ganz zu schweigen. Erneut verfiel Alena in tiefes, düsteres Brüten. Wie nur sollte das alles weitergehen? Im Augenblick hatte sie hier im Spital zumindest mehr Ruhe als in ihrem Arbeitsalltag. Auf ihrer Brust schien auf einmal eine schwere Last zu liegen, wenn sie daran dachte, dass sie womöglich schon bald wieder an ihrem ungeliebten Arbeitsplatz erscheinen musste. Sie fühlte sich dazu noch kaum in der Lage und doch wusste sie nicht, wie sie diesem Schicksal entgehen sollte. Alles brach auf einmal über sie herein, Panik ergriff sie und sie begann leise und verzweifelt zu schluchzen. Nein! Sie konnte nicht dorthin zurück! Und doch… auch wenn sie kündigte, musste sie eine gewisse Kündigungsfrist einhalten. Ach! Das alles war so verzwickt.
Sehnsüchtig dachte Alena wieder an den wundervollen Flug mit Mondtänzer zurück. Damals hatte sie sich vollkommen frei und glücklich gefühlt. Wie lange hatte sie sich schon nicht mehr so gefühlt? Es war schon viel zu lange her. Sie wollte wieder mehr von ihrem Leben haben, vielleicht noch etwas mehr von der Welt sehen, in einem entspannten Umfeld arbeiten und ja… sich vielleicht noch einmal verlieben! Wieder dachte sie an Stefan. So wie es aussah, hatte es auch bei ihm gefunkt. Vielleicht fand sie ja mit ihm endlich das so ersehnte Glück? Sogleich fühlte sie sich aber wieder ernüchtert. Das alles nützte auch nichts, wenn sie sonst so unglücklich war. Etwas musste sie ändern aber was und vor allem, wie?
9. Kapitel
Sie versuchte sich erneut die wunderschöne Welt der Wasserdrachen ins Bewusstsein zu rufen, stellte sich vor, sie würde auf dem Rücken ihres Drachenfreundes durch die lichten Himmel jener Welt gleiten und noch ganz erfüllt von diesen Bildern, schlief sie schliesslich ein.
«Hej Hallo!» vernahm sie die heitere Stimme von Mondtänzer.
Alena öffnete die Augen und erschrak im ersten Moment sehr. Sie sass tatsächlich wieder auf dem Rücken des blauweissen Drachen und der Wind pfiff ihr um die Ohren!
«Ach du meine Güte!» rief sie und verlor beinahe den Halt. «Wie… komme ich hierher?»
«Durch deine Gedankenkraft!» antwortete Mondtänzer, durch das Rauschen seiner Schwingen hindurch. «Aber… ich… wollte gar nicht… ich.» Alena schwieg. Tatsächlich hatte sie sich gerade in den buntesten Bildern ausgemalt, wie sie erneut auf dem Rücken von Mondtänzer sass. War sie tatsächlich in der Lage so einfach in diese Welt herüberzuwechseln?
«Ich war auch etwas überrascht, als du auf einmal hier warst,» gestand Mondtänzer ein. «Aber natürlich freut es mich, dass du den Weg an diesen Ort erneut gefunden hast.»
«Ja, ich bin selbst erstaunt, wie leicht mir das diesmal gefallen ist.» «Du musst dich sehr nach diesem Reich gesehnt haben.»
«Ja, allerdings.» Alena berichtete Mondtänzer alles, was sich zugetragen hatte. Auch dass Stefan und sie sich beinahe geküsst hätten. «Ja,» meinte der Drachen. «Wir hier haben ebenfalls gemerkt, dass sich etwas verändert hat. Allerdings diesmal zum Positiven.»
«Zum Positiven? Aber eigentlich war ich gerade ziemlich schwermütig, weil ich daran gedacht habe, dass ich schon so bald wieder zur Arbeit muss.»
«Ein wenig Zeit hast du ja noch. Nach einem Leberriss muss man meistens noch eine Weile im Spital bleiben und in dieser Zeit kannst du dir noch über vieles klarwerden. Es hat schon begonnen. Ich habe es gefühlt. Ich glaube dieser Stefan tut dir gut. Nicht auszudenken, wenn du mit deinem Auto in seinen Lastwagen gedonnert wärst. Du wärst dadurch sicher gestorben und ihn hätte sein ganzes Leben lang, das schlechte Gewissen geplagt.» «Du bist wirklich so etwas von unromantisch!» rief Alena verärgert. «Ein Wasserdrachen sollte doch etwas mehr Feingefühl haben. Der Gedanke, dass ich ausgerechnet durch Stefans Lastwagen ums Leben gekommen wäre, ist schlichtweg grausam.»
«Darum hast du ja mich! Ich habe dich und auch ihn vor diesem schrecklichen Schicksal bewahrt, weil ich ahnte, dass ihr beide euch vielleicht näherkommen könntet.»
«Du hast das geahnt?» Nun war Alena für einen Moment lang sprachlos. «Ja, ich habe Stefans Laufbahn auch etwas beobachtet und ich dachte, er würde gut zu dir passen.»
«Wie geht denn so etwas? Wenn ich es doch bin, der dich und deine Welt eigentlich mit meinem Bewusstsein erschaffen habe?»
«Das habe ich nie so gesagt. Das ist deine Sichtweise. Sie half dir dabei, dass du dich nicht selbst für verrückt erklärt hast. Aber… erschaffen hast du diese Welt und mich nicht, zumindest nicht allein. Du bist unbestritten ein wichtiger Teil von ihr, hast auch einen grossen Einfluss auf sie, aber erschaffen wurde das alles von der Hand oder der Klaue vieler. Es ist eine Welt, die schon seit ewigen Zeiten existiert und einstmals für alle zugänglich war. Bis sich schliesslich der Schleier des Vergessens über sie senkte, wie einst über Avalon oder Atlantis.»
«Avalon und Atlantis gab es einst wirklich?»
«Ja es gab sie oder vielmehr, es gibt sie noch immer, aber sie sind aus dem Bewusstsein der meisten Menschen verschwunden. Auch diese Welt wird einst aus deinem Bewusstsein verschwinden, wenn du so weitermachst wie bisher.»
Die Frau schwieg nachdenklich. Das waren ja wieder ganz neue Erkenntnisse. Sie musste wohl wirklich etwas an ihrem Leben verändern. Aber wie bloss?
«Du stellts dir wie immer viel zu viele Fragen, dabei liegt die Antwort doch so nah!» meinte Mondtänzer etwas vorwurfsvoll.
«Du meinst wirklich ich sollte kündigen, nicht wahr?» fragte sie schliesslich. Der Drachen nickte mit seinem mächtigen Haupt. «Aber du weisst, dass das ziemlich riskant ist.»
«So riskant nun auch wieder nicht. Denn wenn du diesen Schritt nicht wagst, verlässt du immer mehr deinen, dir bestimmten Pfad.»
«Denkst du?»
«Ja. Ich weiss es sogar. Warum ich das so genau weiss, kann ich aber auch nicht sagen. Es ist manchmal wie ein Art Film, der mir Einblicke in dein Leben vermittelt. Manchmal sogar in deine Zukunft.»
«Aber… ich habe Angst, Angst davor, dass ich meine Existenz durch so einen drastischen Schritt gefährden könnte. Ich will kein Schmarotzer sein, der sich schliesslich vom Staat aushalten lässt.»
«Du denkst schon wieder viel zu weit. Es wird nicht so weit kommen, wenn du diesen Schritt wagst.»
«Bist du sicher?»
«Das bin ich,» antwortete Mondtänzer überzeugt.
«Ausserdem hat sich vieles verändert, seit Stefan und du euch nähergekommen seid. Ich glaube, er wird dir zur Seite stehen, wenn du ihn darum bittest.»
«Aber das will ich nicht. Ich will nicht, dass irgendjemand für mich aufkommen muss.»
«Er könnte dich aber dennoch etwas unterstützen, zumindest bis du wieder etwas Neues gefunden hast.»
«Ach, ich weiss nicht so recht. Ich kenne ihn ja noch kaum.»
«Dann lerne ihn besser kennen! Lebe nicht immer in Angst Alena! Vertraue darin, dass sich alles zum Besten wenden wird!»
«Also gut. Ich… werde es versuchen. Ich…» sie hielt inne, denn auf einmal zogen erneut finstere Wolken über dem bisher klaren Himmel des Drachenreiches auf und schlagartig verdunkelte sich die ganze Umgebung!
«Oh bei den Göttern!» sprach Mondtänzer mit heiserer Stimme. «Tenebris kommt. Schnell! Wir müssen landen. Dort drüben bei den Bergen in jener Felshöhle, finden wir Unterschlupf!»